Das Erbe der Macht - Band 31: Splitterzeit

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From the series: Das Erbe der Macht #31
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3. Es ist, wie es ist


Kevin erwachte ruckartig und ging sofort in Abwehrposition.

Im nächsten Augenblick realisierte er, dass dies unnötig war – und nutzlos. Er befand sich in einem kleinen Raum ohne Fenster, neben ihm am Boden lag Artus.

Mit einem Satz war Kevin bei ihm und befühlte seinen Puls. Der Unsterbliche war bewusstlos, seine Brust hob und senkte sich jedoch regelmäßig.

Das einzige Licht kam von irgendwo hinter den Wänden. Deren Material war halb durchsichtig. Damit erhielt der sonst karge Raum, in dem es außer zwei Liegen nichts gab, eine warme Atmosphäre. Eine Tür gab es nicht.

»Wo sind wir jetzt nur wieder gelandet?«, fragte sich Kevin.

Er benötigte drei Schritte, um von einer zur anderen Seite des Raumes zu gelangen. Der Gedanke, dass sie hier für längere Zeit eingesperrt bleiben würden, behagte ihm gar nicht.

»Hallo!«, rief er.

Kameras waren nicht zu sehen, doch beim Einsatz von Magie war das auch nicht nötig. Falls sie von Magiern gefangen genommen worden waren, fragte er sich jedoch, wieso sein Essenzstab noch immer bei ihm war. Er fixierte die Symbole von Alex und Jen auf dem Whisperband, doch es kam kein Kontakt zustande.

Vermutlich war das auch besser so. Die beiden hätten eigenhändig einen neuen Immortalis-Kerker geschaffen und ihn hineingeworfen.

Unweigerlich richteten sich seine Gedanken auf die Ereignisse in Alicante. Er hatte tatsächlich den Wall zerstört. Mit einem einzigen Zauber, den er Artus auf die Lippen gelegt hatte, war das Artefakt zusammen mit Merlin darin vernichtet worden. Das hier war eine neue Zukunft. Eine, in der Chris am Leben war; er es einfach sein musste.

Die Reise hierher war endlos gewesen und ebenso grauenvoll. Die zerbröselnden Statuen, neu geformte Zeit, veränderte Geschichte. Er hatte gespürt, wie die Zeit selbst gelitten hatte. Da war echter Schmerz durch seinen Körper geschossen, ein Widerhall dessen, was die Linie allen Seins empfand.

»Irgendwo hier ist Chris«, flüsterte er.

Im Augenblick der Zerstörung hatte er sein ganzes Denken auf seinen Bruder gerichtet, hatte sich ihm genähert. Zumindest das hatte wohl nicht funktioniert.

»Schauen wir uns einfach um.« Kevin hob seinen Essenzstab. »Potesta Maxima.«

Die gute Nachricht war, dass der Wall eindeutig nicht mehr existierte. Die Essenz wurde nicht abgeschöpft, er besaß stärkere Magie. Die schlechte war, dass der Kraftschlag bereits im Flug erlosch. Einfach so.

»Was …?«

Kurzerhand zeichnete er ein weiteres Symbol in die Luft. Die Essenz loderte rot. »Destrorum Absolutum.«

Nichts geschah. Der Zauber der absoluten Zerstörung hatte wie zuvor der Kraftschlag auf einen Teil der Wand abgezielt. In den Wänden musste es einen Dämpfungsmechanismus geben. Eine Art Permanentzauber, ermöglicht durch beständige Zufuhr an Essenz mittels Bernstein oder eines Artefaktes.

Er musste sich vergegenwärtigen, dass ohne den Wall eine Menge anders gelaufen war. Das betraf die Anwendung von Magie ebenso wie die Strukturen der magischen Welt. Falls der Rat irgendeine Art Schutzmacht aufgebaut hatte, die auch Zeitsprünge lokalisieren konnte, waren sie möglicherweise in Bedrängnis.

Als Kind hatten Chris und er alle möglichen Bücher verschlungen, in denen Autoren-Magier fiktive Szenarien eines unterschiedlichen Verlaufs der Geschichte skizziert hatten. Seine Granny stand da eher auf Krimis, in denen gewitzte Detektiv-Magier Verbrechen aufklärten. Seine Eltern … Der Gedanke brachte zu viel Schmerz mit sich. Doch auch sie mussten am Leben sein, anders konnte es Chris nicht geben. Und laut Moriarty gab es sie beide immer.

»Okay, ruhig bleiben.« Er atmete langsam ein und wieder aus. »Chris ist hier irgendwo. Und Mum und Dad ebenfalls. Eins nach dem anderen.«

Er kehrte zurück zu Artus und wob ein Heilungssymbol auf dessen Körper. »Sanitatem Corpus.«

Der Zauber detonierte und warf Kevin durch den Raum gegen die Wand. Aufkeuchend stürzte er herab. Sekundenlang drehte sich alles, er musste sich wieder setzen. Was auch immer mit Artus während der Passage zurück in die Gegenwart geschehen war: Auf diese Art konnte Kevin ihn nicht aufwecken.

»Ausbruch sieht also schlecht aus«, murmelte er. »Und Artus ist erst mal aus dem Spiel. Hilferufe kommen nicht durch.«

Innerlich musste er sich zurückhalten. Er gierte nach Wissen und war doch machtlos.

»Also, falls irgendjemand dort draußen zuhört, mein Name ist Kevin Grant und es ist keine gute Idee, mich hier festzuhalten!«

Ein Teil der Wand – etwa von der Größe einer Tür – wurde zu einer Nebelfläche und verpuffte.

»Okay, das war einfach.« Er erhob sich.

In der Tür erschien ein schlanker, hochgewachsener Mann. Sein braunes Haar ging ihm bis zum Nacken, der nackte Oberkörper war übersät mit Tätowierungen. Alles magische Symbole, die Halbkreise auf seiner Haut bildeten. Die untere Hälfte des Körpers steckte in einer Art Rüstung, in der rechten Hand hielt er ein Schwert aus Essenz; seine Augen glühten.

»Du wirst nicht mit diesem Stab herumfuchteln und mich dazu zwingen, dich zu bändigen?« Seine Stimme war auf eine verführerische Art rau und dunkel.

Kevin war verblüfft über seine Gedanken, räusperte sich und setzte eine grimmige Miene auf. »Kommt drauf an, ob du mit deinem Schwert herumfuchtelst.«

Der Fremde kam näher. Erst jetzt sah Kevin die Flügel auf dessen Rücken. Sie ähnelten in der Struktur jenen von Tyler, bestanden aber nicht aus Essenz. Die Textur wirkte wie echte Federn.

»Ich bin Kastoel«, sagte der Geflügelte. »Sei froh, dass du bist, wer du bist. Andernfalls würde ich dir zeigen, wie ich mit diesem Schwert herumfuchtele.«

Kevin hängte seinen Essenzstab an die Gürtelschlaufe und verschränkte die Arme.

Kastoel betrachtete ihn ein paar Sekunden, dann erlosch das Leuchten seiner Augen abrupt, das Schwert löste sich auf. »Mut hast du, das gebe ich zu. Trotzdem halte ich dich für eine geschickte Täuschung. Genau wie diesen.« Er nickte in Richtung Artus. »Aber sei es, wie es ist. Der Höchste will dich sehen.«

»Wer?«, fragte Kevin im Reflex.

Kastoel zuckte zusammen, entspannte sich jedoch direkt wieder. »Richtig, du warst bewusstlos. Aktuell befindest du dich in New York.«

Womit er wohl davon ausging, dass die Identität dieses Höchsten Magiers automatisch geklärt war. Kevin konnte keinesfalls nachfragen, ohne seine Unwissenheit zu offenbaren. Allein die Tatsache, dass es eine Art von Himmelswesen in New York gab, deutete auf massive Veränderungen hin.

Zum ersten Mal seit der Zerstörung des Onyxquaders und damit des Walls spürte Kevin tief in seinem Inneren ein vertrautes Gefühl. Schuld. Doch er schob alle Gedanken beiseite, die damit einhergingen.

»Es ist, wie es ist«, sagte er leise.

»Eine gute Portion Pragmatismus ist zweifellos angebracht«, sagte Kastoel. »Nur wenige, die dem Höchsten Magier von Nordamerika gegenübertreten, verlassen seine Gemächer mit einem Lächeln.«

»Von Nordamerika«, echote Kevin. Gleich der ganze Kontinent stand also unter einer Art magischer Aufsicht.

Möglicherweise lebten Nimags und Magier ohne den Wall Hand in Hand, und es war gelungen, gemeinschaftliche Strukturen zu etablieren.

Sie erreichten das Ende des schmucklosen Ganges. In der Wand war ein Rahmen eingepasst, daneben befand sich eine Fläche aus gewölbtem Bernstein. Kastoel berührte einen davon. Im Rahmen entstand ein kurzes Wabern, dann etablierte sich ein Durchgang. Wie eine hauchdünne, durchsichtige Wasserfläche sah er aus.

Kastoel trat hindurch.

Kevin folgte.

Vor ihm stand der Höchste Magier von Nordamerika, den er nur allzu gut kannte.

4. Der Höchste Magier


Chris«, sagte Kevin.

Sein Bruder war eindeutig wieder am Leben. Im Gegensatz zu Kastoel rannte er nicht mit nacktem Oberkörper herum, sondern trug einen Anzug. Einen Anzug! Die Schultern darunter verdeutlichten, dass er noch immer gerne trainierte. An seiner linken Hand prangte eine Art von Siegelring.

Das Ziel der Türpassage war ein Penthouse, hoch oben über New York. Die Skyline der Stadt unterschied sich kaum von jener der alten Gegenwart, sah man davon ab, dass hier und da Magier vorbeiflogen.

Chris kam langsam näher. »Du siehst tatsächlich aus wie er.«

In einem Reflex riss Kevin ihn in eine Umarmung. »Ich habe dich vermisst.«

Kastoel, der ein wenig seitlich stand, setzte zum Sprung an, doch eine Handbewegung von Chris hielt ihn zurück.

»Sorry, ein Reflex.« Kevin brachte wieder Abstand zwischen sich und seinen Bruder.

Er musste sich vergegenwärtigen, dass dieser Chris ihn nicht kannte. Irgendwo dort draußen lief ein zweiter Kevin herum. Hatten die beiden möglicherweise einen Streit?

Sein Bruder besaß einen akkuraten Kurzhaarschnitt, die Finger waren manikürt, die Haut war seidig glatt. Er wirkte wie eine Model-Katalog-Version von Chris.

»Du tätest gut daran, solcher Art von Reflexen erst einmal nicht nachzugeben«, sagte Chris. »Gegenüber einem Höchsten Magier kommt das nicht gut.«

»Richtig, du hast ja Karriere gemacht.« Kevin räusperte sich. »Sorry. Du bist hier wohl so etwas wie der Bürgermeister der Magier?«

Kastoel starrte ihn an, als habe dieser gerade Gott selbst beleidigt. Der Scheiterhaufen schien bereits zu brennen.

 

»Das wäre eine Art der Interpretation«, sagte Chris langsam. »Aber erzähl doch etwas von dir. Wie bist du hierhergelangt? Plötzlich lagen du und diese andere Person vor dem Gebäude. Es war Glück, dass ich informiert wurde.«

»Oh, das ist Artus«, sagte Kevin. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Ein Heiler sollte sich um ihn kümmern.«

»Artus.« In Chris’ Stimme mischte sich ein Hauch von Unglauben. »Der Artus, der damals eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung des Walls gespielt hat?«

»Irgendwie schon«, sagte Kevin.

Chris warf Kastoel einen beunruhigten Blick zu. »Überprüfe das, wenn wir hier fertig sind.«

Kastoels Gesicht war bleich geworden. »Sehr wohl.«

»Er ist nicht wirklich gefährlich«, sagte Kevin. »Nur möglicherweise etwas wütend. Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Zweifellos.« Chris sank auf die Platte seines Schreibtisches. »Gut, dass ich meinen Terminkalender von allen Verpflichtungen befreit habe. Du kannst also berichten.«

Zwei Blicke taxierten ihn.

Mit einem Mal fühlte Kevin sich unwohl. Die Euphorie darüber, Chris wiederzusehen, hatte ihn jede Vorsicht vergessen lassen. Doch die Reaktion seines Bruders ging über Neugierde hinaus.

»Vielleicht später«, sagte er testweise.

»Jetzt«, beharrte Chris.

»Und wenn ich mich weigere?«

Kastoel lachte auf. »Ja bitte.«

Ein scharfer Blick von Chris ließ ihn verstummen. »Ich denke, wir müssen ein paar Dinge klarstellen, um unseren Dialog in Gang zu bringen. Vor exakt sieben Jahren ist mein Bruder – Kevin Grant – gestorben. Du verstehst also zweifellos, dass ich misstrauisch bin. Wenn du natürlich der echte Kevin bist, möchte ich wissen, wie du überlebt hast. Hat dich der Zwillingsfluch irgendwie gerettet?«

Kevin nickte müde. »Das ergibt Sinn. Ursprünglich warst du es, der gestorben ist. Als das geschah, erlosch der Zwillingsfluch.«

Zuvor hatten er und sein Bruder sich ihr Sigil geteilt, was durchaus zu Problemen geführt hatte. Doch nach dem Tod von Chris war der Zwillingsfluch gewichen, ebenso das Sigil gänzlich seines geworden.

»Also kein Zwillingsfluch«, sagte Chris mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich musste auf Nummer sicher gehen. Nach dem Tod von Kevin gehört mein Sigil ebenfalls wieder mir und der Fluch ist bezwungen. Auf keinen Fall gehe ich eine solche Bindung erneut ein oder lasse zu, dass sie entsteht. Schließlich habe ich Kevin genau deshalb umgebracht.«

Bevor Kevin die Worte richtig deuten konnte, lag eine Pistole in der Hand seines Bruders. Der Anblick war so ungewohnt, so abstrus, dass er nicht reagierte. Exakt drei Schüsse erklangen. Stechender Schmerz durchdrang seine Brust, er kippte hintenüber.

»Er hing der Lehre von Gleichheit zwischen Nimags und Magiern an. Das war inakzeptabel.« Chris ging neben Kevin in die Knie. »Ich spüre tatsächlich nichts. Keine Verbindung, keine rasende Wut. Und du scheinst auch gänzlich vom Fluch befreit.«

»W… warum?«, presste Kevin hervor.

»Ich habe keine Ahnung, wie du entstanden bist«, sagte Chris. »Ein Zeitecho, irgendeine Magie, Wiederbelebung durch Störer. Aber es interessiert mich auch nicht. Australien wird zum Problem und ein Hohes Haus von London entwickelt sich interessant. Das könnte die Machtverhältnisse verändern. Daher darf niemand Schwäche bei mir sehen.«

Kevins Glieder waren kraftlos, seine Muskeln reagierten nicht. Er wollte Essenz aufgreifen, um eine Heilung einzuleiten, doch das Sigil verblasste.

»Die Kugeln sind magisch«, erklärte Chris. »Dein Sigil schläft jetzt ein wenig und du blutest erst einmal aus.«

»Sollen wir ihn auf einem der Nimag-Felder verscharren?«, fragte Kastoel.

Chris schürzte die Lippen und schlenderte langsam zu seinem Schreibtisch. Dort verstaute er die Pistole in einer Schublade. »Sein Sigil ist stark. In der aktuellen Lage wäre das eine Verschwendung, denn wir benötigen jeden Magier.«

Kastoel lächelte auf boshafte Art zufrieden. »Dann also die Mauer?«

Chris nickte. »Schick ihn mit dem nächsten Flug dorthin. Auf diese Art kann er der magischen Gesellschaft noch von Nutzen sein, bis nur mehr seine Hülle übrig ist.«

Kevin versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, doch ohne das notwendige Wissen über diese neue Gegenwart ergaben sie schlicht keinen Sinn. Panisch griff er nach dem Sigil, aber es war, wie Chris gesagt hatte: Es schlief. Kevin hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas möglich war. Einkapselung, das ja. Aber schlafen?

Sein Körper wurde immer schwächer, das Blut unter ihm bildete eine klebrige Lache. Er lag hier und starb, während die beiden sich in aller Ruhe unterhielten.

Kevin bäumte sich mit letzter Kraft auf, sackte jedoch sofort wieder zu Boden. Er hatte alles getan, um seinen Bruder zurückzuholen. Vorbei an seinen Freunden hatte er unzählige Male in die Geschichte eingegriffen, hatte den Wall vernichtet, Merlin von der Machtergreifung abgehalten. Alles für Chris. Das Schicksal erlaubte sich einen grausamen Scherz. Sein Bruder war zurück, aber als dunkles Abziehbild seiner selbst. Eines, das Kevin erschaffen hatte. Eines, das niemals rückgängig gemacht werden konnte.

Excalibur war vernichtet, ebenso der Zeitring. Was jetzt war, blieb für immer. Unabänderlich.

Eine Träne löste sich aus seinem rechten Auge und rann die Wange hinab, vermischte sich mit seinem Blut am Boden.

»Schaff ihn weg!«, sagte Chris.

Kastoel kam näher.

Kevins Kraft versiegte. Er ließ los und ergab sich der gnädigen Bewusstlosigkeit.

5. Unter der Rüstung


Die Schwertspitze deutete auf Alex’ Hals. Eine falsche Bewegung, möglicherweise genügte es zu schlucken, und er würde sich selbst aufspießen.

»Wer bist du?«, krächzte er.

Die Schwertspitze sank herab. »Ihr wolltet den Nimag rächen. Das ist edel.« Die Stimme war die einer Frau. »Und dumm.« Das Schwert erlosch.

Alex realisierte, dass es sich um manifestierte Essenz gehandelt hatte. Doch die Oberfläche des Materials war so echt gewesen, dass er niemals damit gerechnet hatte. »Ja, das sind wir. Dumm, aber total edel.«

Jen neben ihm stöhnte auf. »Ich hatte vergessen, dass du in Erstkontaktsituationen immer die richtigen Worte findest. Was er eigentlich sagen wollte …« Sie verstummte.

»Jetzt fehlen dir ebenfalls die Worte, tja. Also, wir kommen in Frieden«, stellte Alex in Richtung der Ritterlady klar. »Und wir verhalten uns gegenüber Nimags respektvoll. Immerhin waren wir selbst auch mal welche.«

Die Ritterlady trat einen Schritt zurück. »Ihr wart … Was bedeutet das?«

Jetzt war es an Alex, verblüfft zu sein. »Nun ja, du weißt schon: grünes Licht und puff, schon wirbelte der Zauberstab.«

»Kannst du bitte einfach still sein«, bat Jen mit einem überaus süßen Lächeln. »Er will damit sagen, dass wir als Erben erwählt wurden, und das ist noch nicht so lange her, als dass wir moralisches Handeln vergessen hätten.«

»Hat euch ein entflohenes Sigil erwählt?«, fragte die Ritterlady. »Ihr wurdet nicht im Institut vereint und zugewiesen?«

Vermutlich sagten ihre verwirrten Blicke alles, denn die Ritterlady nickte. »Deshalb wisst ihr nichts über die magische Welt. Es ist ein Wunder, dass ihr noch am Leben seid. Eure Geschichte wird jenen unter uns Hoffnung geben, die den Kampf für sinnlos halten.«

Sie beugte sich zu dem Toten hinab und zog ihm den Siegelring vom Finger. »Den brauchen wir.«

»Wieso gab es kein Auraf…« Alex räusperte sich. »Ich meine, sterben Magier immer so ganz ohne Effekt?«

In der alten Gegenwart hatte ein toter Magier sich in ein Feuerwerk verwandelt, oder genauer: ein Aurafeuer. Das Sigil war dorthin zurückgekehrt, woher es gekommen war, um sich dann einen neuen Erben zu suchen.

»Es spielt keine Rolle, wie der Körper sein Ende findet«, erklärte die Ritterlady. »Das Sigil erlischt.«

»Erlischt«, hauchte Jen.

»Es wurde gefangen und ohne Wahlmöglichkeit im Institut verschmolzen«, ging die Erklärung weiter. »Auf diese Art erhalten die hohen Familien ihre Erblinie. Auch ihre Kinder, die ohne magische Fähigkeiten geboren werden, bekommen so magische Kräfte. Doch das Sigil erlischt mit dem Ende des Zwangs.«

Diese neue Zeit gefiel Alex immer weniger, und er begann, den Sinn im Wall zu verstehen. Mochte die Grundidee auch die von Merlin gewesen sein, so hatte sie den Nimags doch ihre Art zu leben bewahrt. Sie hätten den Wall ebenfalls zerstören müssen, wenn Kevin es nicht in der Vergangenheit getan hätte. Doch das hätte einen stillen Wandel voller Respekt einleiten sollen.

Das war jetzt hinfällig.

»Wir müssen gehen«, sagte die Ritterlady. »Sein Tod wird nicht unbemerkt bleiben. Nimags können zuhauf sterben, aber wenn es einen Magier trifft, der zu den Hohen Häusern gehört, beginnt eine Hetzjagd.«

Die Unbekannte eilte zum Ende der Gasse. Alex und Jen folgten dichtauf. Die Menschen ringsum wichen zurück, wirkten aber nicht verblüfft. Vermutlich waren sie daran gewöhnt, sich nicht in magische Angelegenheiten einzumischen. Nur nicht auffallen. Jedes falsche Wort konnte den Tod bedeuten.

»Wohin gehen wir?«, fragte Jen.

»Es war nicht leicht, sich in das Sprungnetzwerk einzufädeln«, kam es zurück. »Die anderen versuchen, die Passage offen zu halten, damit ich – oder jetzt wir – den Rückweg nehmen können. Falls das misslingt, wird es ein langer und beschwerlicher Weg. Wir müssten über das Meer und einige Landesgrenzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es uns glückt, ist gering.«

Vermutlich gestattete Magie eine weitaus stärkere Überwachung, als das die Technik der modernen Welt leisten konnte.

»Ist hier wohl nix mit Datenschutzverordnung«, sagte Alex leise.

Ihm fiel auf, dass die Rüstung zwar nach außen hin rostig wirkte, aber geschmeidig über die Gelenke der Unbekannten glitt. Also war da wohl ebenfalls Essenz im Spiel. Der Helm bedeckte einen Großteil ihres Gesichts, ließ nur einen kleinen Bereich von Mund und Kinn frei. Das Profil wirkte irgendwie vertraut.

Er wollte die Ritterlady gerade nach ihrem Namen fragen, als ein Wusch erklang.

»Die Himmelsdämonen«, rief sie.

Alex folgte ihrem Blick und erkannte Männer und Frauen, die mit Flügeln auf dem Rücken näher glitten. Sie trugen nur Stofffetzen am Oberkörper, dafür aber ebenfalls Schwerter in den Händen. Ihre Augen glühten.

Die Ritterlady ließ ihr Schwert entstehen. Mit der linken Hand erschuf sie ein Symbol aus Essenz in der Luft. Die Flammen waren blassblau und erinnerten an Wasser. »Essentum Carnum Destrorum.«

Die Flügel des Vordersten verloren ihre gefiederte Textur und wandelten sich zurück in Essenz, bevor sie erloschen. Mit einem Aufschrei fiel der Angreifer acht Meter in die Tiefe auf ein vorbeifahrendes Auto. Das Geräusch brechender Knochen erklang.

»Diese Flügel sind auch aus Essenz«, hauchte Jen. »Genau wie bei Tyler.«

Alex nickte schweigend. Es musste sich um Himmelskinder handeln, die hier, in dieser Gegenwart ohne Wall, ihre Flügel einfach realer wirken ließen. Er hatte die Handbewegung der Ritterlady betrachtet und sich das Symbol eingeprägt. Dank seiner Zeit auf der Traumebene, wo Alex Dutzende von Zaubern erlernt hatte, konnte er sich Essenzsymbole ausgezeichnet einprägen.

»Schnell, weiter«, sagte sie. »Die anderen werden sich zu verteidigen wissen.«

Sie sprinteten durch die Menge.

»Es ist fast unmöglich, einen hohen Magier mit einem sichtbaren Zauber anzugreifen. Sie sind darauf trainiert, innerhalb von Sekunden eine lautlose Abwehr zu etablieren, eine Neutralisation. Aber die Himmelsdämonen besitzen keine Sigilringe. Trotzdem stellen sie sich auf jeden Angriff ein. Wechselt am besten so häufig wie möglich die Angriffszauber.«

Die Ritterlady schupste ein paar Nimags beiseite und deutete nach vorne auf eine Wand, die mit Graffiti verschönert worden war. »Das Portal ist noch offen, lauft einfach auf diesen rosa Donut zu.«

Im Geiste sah Alex sich gegen besagten Donut springen, an der Wand abprallen und auf dem Boden landen. Das traurige Ende eines langen Kampfes.

Gescheitert an einem rosa Donut.

Die Geflügelten waren jetzt fast heran, ihre Schwertspitzen deuteten nach vorne. Eine der Flügelwesen war noch näher, ließ einen Unsichtbarkeitszauber fallen und attackierte die Ritterlady. Die Schwertspitze traf ihren Helm, der sich in flirrende Funken verwandelte und verging.

 

»Nikki«, hauchte Alex.

Sie taumelte, ging zu Boden. Jen war fast bei dem Donut, machte sich bereit zu springen. Ein Blick auf Nikki und sie stoppte.

»Springt«, forderte diese.

»Nicht ohne dich.« Alex ging in die Knie, packte sie unterm Arm und half ihr auf. Von ihrer Schläfe rann ein Blutfaden, das Schwert hatte sie erwischt.

Er wandte sich der Angreiferin zu, die gerade wieder aufstieg. »Essentum Carnum Destrorum.«

Ihre Flügel verblassten, sie fiel rückwärts zu Boden.

»Schnell«, brachte Nikki mit glasigen Augen hervor.

Gemeinsam erreichten sie Jen, die Nikki am anderen Arm ergriff. Ein kurzer Sprung, der Donut kam näher.

Das Portal nahm sie auf.

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