Das Erbe der Macht - Band 24: Schattenkrieg

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From the series: Das Erbe der Macht #24
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Kurz zuvor

Du siehst aus, als stünde deine Hinrichtung bevor.« Max fühlte sich müde nach dem Training, doch immerhin war sein Freund gerade aus der Vergangenheit zurückgekehrt.

»Der hier ist für dich.« Kevin reichte ihm einen Essenzstab.

Das unterarmlange Holz war versehen mit geschliffenem Bernstein und magischen Symbolen aus Himmelsglas. Das Artefakt strahlte eine Macht aus wie kein Stab, den Max kannte. Als er ihn entgegennahm, spürte er eine seltsame Form der Verbindung.

»Woher hast du ihn?«

»Ein Ersatz für den, den Wesley dir zerstört hat. Verbindet er sich?«, fragte Kevin.

»Es fühlte sich so an.« Zum ersten Mal seit dem Verlust seines eigenen Stabes war Max auf magischer Ebene wieder vollständig. »Danke.«

»Er ist uralt«, sagte Kevin stockend. »1415 geschaffen von der damaligen Stabmacherin. Aber es ist kein gewöhnlicher Stab. Sie nannte ihn den Essenzstab des Schutzes.«

Max runzelte die Stirn. »Wieso übergibst du ihn dann mir?«

»Wenn jemand Schutz gebrauchen kann, dann du.«

»Wieso glaubt das jeder?!«

»Weil du ohne den Phönixring längst tot wärst«, entgegnete Kevin.

»Das ist ein wenig übertrieben.« Max zog seinen Verlobten an sich.

Sie versanken in einen innigen Kuss. In diesem Augenblick fielen alle Herausforderungen, die Gedanken zur Zukunft, jede Müdigkeit von ihm ab.

Doch etwas stimmte nicht.

Max unterbrach den Kuss. »Was ist los?«

Mit einem Räuspern wich Kevin zurück, brachte Distanz zwischen sie beide. »Es ist etwas passiert.«

»Okay.« Innerlich bereitete Max sich auf den Aufprall vor.

»1415 … Wir haben dort eine Lösung für das Problem mit Jen gesucht.« Kevin stockte. »Am Ende konnten wir den Fluch von Jen nehmen, dank der Hilfe von Marco Polo.«

»Klingt nach einer erfolgreichen Mission.«

»Ich habe Marco Polo geküsst«, brach es aus ihm heraus. »Also er mich. Aber ich habe es erwidert.«

Im ersten Augenblick wollte Max auflachen. Der Unsterbliche war lange tot. Doch langsam realisierte er die Bedeutung des Gesagten.

»Ist mehr …«

»Nein!« Kevin fuhr sich durch die Haare. »Aber ich habe es nicht unterbrochen. Es war …« Es fiel ihm sichtlich schwer, weiterzusprechen. »In diesem Augenblick hat es sich gut angefühlt.«

Max‘ Magen drehte sich um. Obwohl er logisch noch zu begreifen versuchte, was sein Verlobter da sagte – und was es bedeutete –, waren seine Emotionen schon weiter. »Hast du dich in ihn verliebt?« Eine absurde Situation. Marco Polo war tot!

»Nein!«, rief Kevin. »Natürlich nicht! Ich sage nur … Es war so leicht. Einfach loslassen. Keine Verantwortung zu tragen.«

»Ist unsere Beziehung eine Last?!«

»Auf keinen Fall! Ich liebe dich. Aber …« In seinem Blick lag Verzweiflung.

Eine Woge des Mitleids überkam Max, vermengt mit Wut und Schmerz. Er verstand, dass es Kevin miserabel ging. Abgesehen von seiner Großmutter hatte keiner aus seiner Familie die Blutnacht von Alicante überlebt. Das machte seine Tat jedoch nicht besser.

»Sag mir, was du willst«, brachte Max schließlich hervor.

Kevin setzte zum Sprechen an.

Plötzlich flog Max durch die Luft. Etwas war explodiert. Er hustete, spuckte Blut, sein Körper tat überall weh. In seinen Ohren lag ein Piepsen, das nicht verschwinden wollte. Als er die Finger vor sein Gesicht hielt, waren sie blutig. Er starrte sie verwirrt an.

Erst mit Verzögerung setzten seine Reflexe ein.

»Aportate Essenzstab.«

Das magische Artefakt flog in seine Hand. Noch vor wenigen Minuten wäre der Zauber ohne Funktion geblieben, doch der Essenzstab des Schutzes schien Max als neuen Gefährten zu akzeptieren.

Stöhnend kam er in die Höhe.

Sein Blick fiel auf Kevin, dessen Körper zuckte. Die Explosion hatte ihn seitlich getroffen, sein Hals war eine klaffende Wunde. Ihm blieben noch Sekunden.

Max robbte über den Boden, schuf das magische Heilsymbol aus lodernder Essenz auf Kevins Stirn und sprach: »Sanitatem Corpus.«

Die Halswunde schloss sich nur langsam, als kämpfte sie gegen den Zauber der körperlichen Erneuerung an. Endlich, nach bangen Sekunden, war es vollbracht.

Kevin atmete einmal tief ein, dann verlor er das Bewusstsein. Seine venezianische Kleidung war zerfetzt, sein ganzer Oberkörper voller Blutergüsse, Wunden und Schrapnellen, die in der Haut steckten.

Mit einem Husten spuckte Max Blut.

Bevor er weiter darangehen konnte, Kevin zu heilen, musste er sich um den eigenen Körper kümmern.

»Sanitatem Corpus.«

Seine Wunden schlossen sich.

Schritte erklangen.

»Max, Kevin!« Jen stürmte herein.

»Geht es euch gut?« Alex folgte dichtauf.

»Ich verstehe das nicht …« Max schloss seine Heilung ab. »Das sieht so aus, als …«

»Der Essenzstab ist explodiert.« Jen betrachtete die herumliegenden Teile aus Hexenholz, Noxanith und Bernstein. Eine gefährliche Mischung.

»Aber unsere sind in Ordnung.« Alex betastete instinktiv seinen eigenen, der vom ersten Stabmacher angefertigt worden und wohl deshalb nicht explodiert war.

Erst jetzt realisierte Max, dass weitere Schreie an sein Ohr drangen. So viele davon. Es musste mehr als nur Kevins Essenzstab erwischt haben.

»Ein Zauber Merlins«, sagte Jen. »Da gehe ich jede Wette ein.«

»Aber wie? Unsere Stäbe sind nicht mit dem Wall verbunden.« Alex überprüfte Kevins Puls. »Stabil.«

Max durchdachte blitzschnell seine Optionen. Wenn es noch mehr Verletzte gab, durfte er seine Kraft nicht vollständig aufbrauchen. Sein Verlobter war stabil, den Rest der Heilung konnte er später vornehmen. Seine antrainierte Logik verband sich mit Reflexen und übernahm die Kontrolle.

»Wir müssen so viele Leben retten wie möglich.« Er stand auf.

»Was ist mit Kevin?«, fragte Jen.

»Seine schlimmsten Wunden sind versorgt, der Krankenflügel wird gleich überlastet sein.« Max schuf weitere Symbole. »Gravitate Negum.«

Der Körper von Kevin erhob sich. Geschützt von einer zusätzlichen Sphäre schwebte er davon.

»Unsere gemeinsamen Zimmer«, erklärt Max. »Da ist er erst einmal außer Gefahr.«

Sofort wandte sein Geist sich wieder dem Problem vor ihnen zu. Wie viele Essenzstäbe waren explodiert? Und warum? Er betrachtete misstrauisch seinen eigenen und den von Alex und Jen.

»Meint ihr, das kann uns auch passieren?«, fragte er.

»Ich habe noch nie davon gehört, dass es das überhaupt kann«, erwiderte Alex. »Um die anderen zu schützen, benötigen wir die Essenzstäbe.«

Um Zauber in Körper einfließen zu lassen, waren die Stäbe notwendig.

Irgendwo schrie jemand verzweifelt auf.

»Los!« Jen wartete nicht länger und rannte zum Ausgang.

Es war ein Zufall, dass sie und Alex gerade hier oben auf den Zinnen der Zuflucht ein Gespräch geführt hatten und Kevin mit ihm in einem nahe gelegenen Turmzimmer.

Wie sah es wohl draußen aus?

Auf die Antwort hätte Max gerne verzichtet, als sie die Haupthalle erreichten. Überall kauerten Verwundete und lagen Tote, Splitter von magischen Materialien steckten in ihren Körpern. Auf der Kleidung verschiedener Magier tanzten unlöschbare Flammen. Die Betroffenen rissen sich die Fetzen vom Leib.

Das Armageddon war über die Zuflucht hereingebrochen.

Max wollte sich dem ersten Verwundeten zuwenden, als das Oberlicht explodierte. Ein Körper krachte hindurch und prallte auf dem Steinboden auf.

Hoch über ihnen brannte die East End.


Alfie!«, brüllte Alex.

Während Jen nach vorne hetzte, starrte er in die Höhe. Das Luftschiff von Moriarty, auf dem sich auch dessen Leute befanden, trudelte. Flammen leckten über den Essenzantrieb. Etwas im Inneren war explodiert und hatte ein gewaltiges Loch in die Gondel gerissen.

»Sie stürzen ab.« Max hob bereits seinen Essenzstab. »Schnell, wir müssen eine Schutzsphäre errichten, sonst regnet es gleich Feuer.«

Jen erhob sich. »Das war Olga, die Heilmagierin.« Mit einem Kopfschütteln signalisierte sie, dass jede Hilfe zu spät kam.

Plopp.

An Madisons Händen materialisierten Alfie und Jason. Letzterer hielt den bewusstlosen Moriarty auf seinen Armen.

»Ich übernehme den Schutz«, sagte Max. »Contego Maxima!«

Eine wabernde Kuppel umhüllte die Zuflucht.

Alex sah auf einen Blick, dass Max den Essenzstab des Schutzes in Händen hielt. Damit war das Gebäude erst einmal sicher.

»Ich muss die anderen holen!«, verkündete Madison.

Sie verschwand zwei weitere Male und kehrte mit verletzten Besatzungsmitgliedern der East End zurück. Damit endete die Fahrt des Luftschiffes. In einem Regen aus Trümmerteilen und Feuer stürzte es herab. Der Aufprall sandte Erschütterungen durch das Schutzfeld, die wie Wellen über die Essenz glitten.

Dann war es vorbei.

»Was ist passiert?«, fragte Jason. »Wir waren gerade …« Sein Gesicht nahm die Farbe einer roten Tomate an.

»Essenz aufladen«, sagte Alfie knapp.

Was nichts anderes bedeutete, als dass die drei im Bett beschäftigt gewesen waren. Durch die intime Nähe gab das Sigil im Inneren eines Magiers instinktiv Essenz frei und die Bernsteinkörner im Blut von Alfie konnten diese aufnehmen.

»Die Essenzstäbe sind explodiert«, flüsterte Madison. Der Schock schien erst jetzt zu ihr durchzudringen. Ihr dichtes schwarzes Haar stand wirr zu allen Seiten ab. »Nur deiner nicht, Baby-Kent.«

 

Alfie betrachtete verblüfft den Stab. »Stimmt. Wieso nicht?«

»Es scheint nur manche zu treffen«, erklärte Alex. »Jen, Max, du und ich sind davongekommen. Wir sind die Einzigen, die heilen können.« Er ging neben einem der Verletzten in die Knie. »Madison, spring durch die Zuflucht und verschaff dir einen Überblick. Bring die Schwerverletzten hierher.«

»Alles klar.« Sie verschwand.

»Jason, finde die Unverletzten. Sie sollen Betten in die Halle schweben lassen. Wer noch einen Essenzstab hat, soll hier zu uns stoßen.« Der ehemalige Schattenkrieger rannte davon.

Jen hetzte auf die gegenüberliegende Seite der Eingangshalle, wo zwei zusammengekrümmte Magier lagen. Max ließ Olga fortschweben und kümmerte sich um eine ältere Magierin, die von der umlaufenden Balustrade gefallen war.

Es vergingen nur Sekunden, dann tauchte Madison mit weiteren Verwundeten auf. Die Halle füllte sich zügig. Schmerzenslaute hallten durch die Luft, es roch nach Blut.

Irgendwann kam Artus hereingetaumelt, in seinen Händen Excalibur. Wortlos schloss er sich an und heilte die schlimmsten Verletzungen.

»Annora.« Alex ließ weitere Essenz in einen Verwundeten sickern. »Was ist passiert?«

Kevins Großmutter hatte ein paar Schrammen auf der Stirn, wirkte darüber hinaus aber unverletzt. »Mein Essenzstab ist explodiert, wie auch die der anderen. Glücklicherweise wollte ich gerade mit Nemo über eine Wasserverbindung sprechen. Der Stab sorgt für Interferenzen, daher habe ich ihn auf dem Tisch liegen lassen.«

»Das war Glück.«

»Den Tisch gibt es jetzt nicht mehr.« Sie krempelte bereits ihre Ärmel hoch. »Ich habe Helfer eingeteilt, die aus der Küche heißes Wasser und desinfizierende Kräuter holen. Dadurch können wir ein paar Verletzte stabilisieren, bis ihr soweit seid.«

»Meine Essenz geht jetzt schon zur Neige«, sagte Alex leise. »Wir können nicht mehr lange so weitermachen.«

Annora hielt inne, ihr Blick schweifte ab. Dann nickte sie nachdrücklich. »Jeder Geheilte leitet seine Essenz in einen Bernstein. Von dort könnt ihr sie wieder abrufen.«

Seit es den Wall gab, zerfielen die Steine mit befüllter Magie innerhalb von Stunden. Der Reinheitsgrad bestimmte die Dauer. Doch in vorliegendem Fall benötigten sie vor allem schnell Essenz.

»Gute Idee.«

Annora eilte davon, um Bernsteine zu organisieren.

Immer mehr Betten wurden aus dem Krankenflügel herbeigeschafft und zu Notbetten umfunktioniert. Jason half gemeinsam mit Kyra dabei, die Prioritäten zuzuteilen. Nils stand mit Ataciaru an der Seite und betrachtete das Geschehen mit großen Augen.

Tilda eilte herbei, ihren Essenzstab einsatzbereit ausgestreckt. Da sie kein Sigil besaß, mit Essenz jedoch hantieren konnte, waren die ersten Bernsteine für sie bestimmt.

Überall wurden Heilzauber gesprochen, manche verzweifelt von Magiern ohne Stab, die ihre Freunde irgendwie festhalten, ihren Tod verhindern wollten. Nie zuvor hatte Alex seinen Namen so oft und mit so viel Verzweiflung gehört.

Jen, Alfie, Artus, Tilda und er heilten nur noch die notwendigsten Verletzungen, damit der jeweilige Magier überlebte, dann ging es sofort zum nächsten.

Es war ein endloses Feld aus leblosen Körpern, blutbefleckten Betten, Hoffnung und Verlorenheit. Die Essenzstäbe waren stets als Verlängerung der Sigile auch Stärke und Schutz gewesen. Doch dieser hatte sich dank Merlin gegen sie verkehrt. Wie er es auch immer angestellt haben mochte.

Alex wollte nicht daran denken, dass es auch Magier im Einsatz gegeben hatte, die hilflos dort draußen starben, falls sie sich nicht selbst retten konnten. Illusionen zerfielen, Flugzauber endeten abrupt, unter Wasser zu atmen reichte nicht, wenn der Essenzstab explodierte. Hatte Nemo es überstanden?

Merlin ließ ihnen keinen Moment der Ruhe.

»Ich muss in die Katakomben.« Kyra kam zu Alex.

Wie immer trug der junge Wechselbalg die Gestalt einer blonden Teenagerin mit blauer Jeans und Top.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Ich habe einen Weltkrieg erlebt«, gab sie zurück und machte erneut deutlich, dass sie keinesfalls ein hilfloses junges Mädchen war. »Das hier ist … nur ein weiteres Kapitel.«

»Ist unten alles klar?«

»Ein Essenzstab ist in der Nähe der Apparatur explodiert«, erklärte sie. »Wir müssen den Schaden schnell reparieren, bevor der nächste Sprung eingeleitet wird.«

Alex nickte nur. Er wollte gar nicht mehr wissen. Sollten sie die Zuflucht evakuieren müssen, war es sowieso vorbei. Merlin würde sie finden und erledigen.

Irgendwann bemerkte er, dass auch Nikki Verwundete in die Halle brachte. Sie war von ihrer Mission zurückgekehrt. Immer mehr Betten füllten sich, die Schreie wurden lauter.

Längst hatte Alex sich in eine Maschine verwandelt. Stabilisieren, Mut zusprechen, zum nächsten. Die Abfolge war stets dieselbe. Seine Kraft schwand.

Plötzlich erklang das Singen.

Es war Nils, der mit Ataciaru an der Seite stand. Auf seinem kleinen Gesicht lag der Hauch eines Lächelns, vermengt mit Tränenspuren. Er sang, und auf eine nicht zu begreifende Weise nahm er damit die Last von ihnen. Die Klänge vertrieben die Dunkelheit.

Trotzdem war klar, dass sie es nicht schaffen würden. Es waren zu viele Verwundete und es wurden ständig mehr.

»Was ist das?!«, rief Jen.

Alex fuhr herum.

Auf dem Boden erschienen magische Symbole, eins nach dem anderen, bis ein Kreis entstanden war. Flammen loderten empor, Silhouetten zeichneten sich ab.

Die Flammen erloschen.

Und mitten in der Halle standen Chloe, Clara, Teresa, Tomoe, Leonardo und Einstein.


Auf das erste Chaos, aufflammende Schutzsphären und sogar Kraftschläge folgte Leonardos donnernde Stimme. Magisch verstärkt berichtete er, dass Chloe nicht länger auf Merlins Seite stand und die Angriffe eingestellt werden sollten.

Für Alex – der bereits wusste, dass das Ritual gelungen war – war es eine Überraschung, dass die Freundin noch lebte. Sie hatten von den Zinnen beobachtet, wie Merlin sie in die Schlucht warf.

Es war Teresa, die alle weiteren Diskussionen erstickte. Es klirrte, als sie den Koffer abstellte und öffnete. Darin befanden sich Flakons, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren.

»Ein Heiltrank«, erklärte sie. »Drei Tropfen in den Mund, nicht mehr. Damit werden die schlimmsten Verletzungen geheilt. Alles weitere muss durch Nachbehandlung erfolgen.«

Sie nahm Tilda beiseite und gab dieser genaue Anweisungen, wie noch mehr von der Heilflüssigkeit hergestellt werden konnte. Wer sich auf den Beinen halten konnte, bekam einen Flakon in die Hand gedrückt. Die Schmerzenslaute nahmen ab, nach zwei weiteren Stunden hatten sie jeden gerettet, der noch zu retten war.

Teresa eilte zwischen den Betten herum, untersuchte jeden und ließ jeweils eine wohl bemessene Dosis Essenz einsickern. Aus irgendeinem Grund benötigte sie dafür keinen Essenzstab.

»Wieso heilst du sie nicht vollständig?«, fragte Alex.

Jen hatte sich zu ihnen gesellt. Sie sah so müde aus, wie er sich fühlte.

»Die Kraft muss für alle reichen«, erklärte sie. »Auch meine ist nicht unbegrenzt. Wir werden jedem Verwundeten täglich ein wenig Heilmagie zukommen lassen, dazu ein paar Tropfen des Tranks. In ein bis zwei Wochen sind sie alle wieder wohlauf.«

»Aber haben wir diese Zeit?«, fragte Annora, die zu ihnen getreten war. »Und warum habe ich plötzlich die Erinnerung an eine Heilmagierin namens Teresa und an eine zweite?«

»Es ist an der Zeit für einen Kriegsrat«, sagte Teresa daraufhin.

»Musst du nicht hier …?«

»Es ist notwendig, dass wir jetzt sprechen«, unterbrach sie Annora. »Leben wurden gerettet, Leben gingen verloren. Doch Merlin ist aktiv und muss aufgehalten werden. Andernfalls geschieht Schreckliches. Vor wenigen Minuten hat er in die Unendlichkeit gegriffen und die Särge geholt. Wir müssen uns beeilen.«

»So fängt es immer an«, sagte Alex trocken.

Jen verzog den Mund und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Und so hört es immer auf«, ergänzte er grinsend.

Annora führte sie zum Konferenzzimmer, wo sie an der runden Tafel Platz nahmen. Teresa, Alex, Jen, Max, Artus, Tomoe, Leonardo, Einstein, Chloe und Clara. Auf dem Weg dahin hatte er die Freundinnen umarmt, was bei Chloe noch ein seltsames Gefühl gewesen war.

Andererseits hatte es auch bei Clara gedauert, bis er damals in ihr nicht mehr die Schattenfrau gesehen hatte.

Leonardo fasste in wenigen Sätzen zusammen, was er gemeinsam mit Clara und später auch mit Grace, Tomoe und Anne erlebt hatte. Dadurch erfuhren sie vom Bruder Merlins, der in einem Splitterreich gefangen gewesen war, und dem magischen Stab von Maginus. Der dunkle Magier war Merlins Vater gewesen, der Stab konnte Sigile aufnehmen. Auf diese Art wurde deren Rückkehr in einen neuen Magier unterbrochen. »Der Stab ist beim Monolith, wir haben entschieden, ihn erst einmal dort zu lassen.«

Einstein ergänzte ein paar Worte über seine Zeit in der Bühne, wo er gemütlich in einem Boot gelegen hatte. Eine Flussfahrt, während der die Archivarin aufgetaucht war, um ihn zu warnen. Doch sie hatte auch davon gesprochen, dass sie ihm Hilfe schicken würde. Das war in Form der Monolith-Reisenden geschehen.

»Es fügt sich zu einem Bild«, sagte Annora leise.

Teresa berichtete von ihrem Kampf gegen Merlin hinter den Kulissen und enthüllte allen ihre Identität. Die Enthüllung kam überraschend, doch kaum schockierend. Zu viel war in den letzten Wochen und Monaten auf sie eingeprasselt.

»Ich muss wohl froh sein, dass ich bei alldem nicht anwesend war«, sagte Einstein. »Merlin hätte mich kurzerhand auch in den Immortalis-Kerker geworfen. Ein wirklich interessantes Konstrukt übrigens. Zeit hat mich schon immer fasziniert und ich habe vor einigen Jahren eine genaue Analyse über die Struktur des Kerkers angest…«

»Ein anderes Mal«, unterbrach ihn Leonardo. »Sei mir nicht böse, Albert, aber wenn ich das richtig verstanden habe, ist Merlin unterwegs, um seine vier Helfer zu bergen. Einer davon ist mein Sohn!«

Die Herrin vom See deutete ein Nicken an.

»Aber bei den Aquarianern haben wir die alten Piktogramme in der Wand studiert«, meldete Jen sich zu Wort. »Wir konnten sie nicht richtig deuten, aber jetzt ergibt das langsam Sinn. Durch die Befreiung der vier Wesen entsteht ein fünftes Bild.«

»Das Symbol für den Anbeginn, nehme ich an.« Teresa nickte gedankenverloren. »Die Unterwasserwesen waren die Hüter des Artefaktes, ihr Reich eines der versiegelten.«

»Genau wie jenes der El-O-Hym«, ergänzte Tomoe. »Aber das der Aquarianer war nicht an die Brücke angeschlossen.«

»Zu Pfeilern werden nur jene Schlüsselreiche, in denen der Krieg geendet hat, in denen unsere Seite siegreich war. Bei den El-O-Hym ist es Shairi gelungen, den Anbeginn vollständig zu vertreiben. Bei den Aquarianern leider nicht.«

Das Reich war mittlerweile kollabiert, alle Wesen vom Anbeginn waren vernichtet worden. Die Unterwasserwesen hatten gerettet werden können und lebten nun mit Nemo tief am Meeresgrund.

»Aber die Piktogramme haben auch enthüllt, dass sich im Artefakt etwas befindet«, zog Jen die Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Die Seele der vier.«

»Piero«, hauchte Leonardo.

Sie gingen längst davon aus, dass der Sohn von Leonardo und Johanna gerettet werden konnte, weil sein Ich sich noch im Seelenmosaik befand. Nagi Tanka – der Geist eines uralten bösen Schamanen – hatte den Körper des Kindes übernommen, doch der Geist war nur beiseitegedrängt worden. Später hatte Merlin ihn vermutlich in das Artefakt gezogen.

»Aber das Seelenmosaik ist bei Merlin«, sagte Chloe müde. »Ich selbst habe es dort hingebracht. Es war ihm wichtiger als alles andere.«

Was im Zuge der Enthüllungen Sinn ergab.

Er benötigte das Mosaik, um seine vier Reiter aufzuwecken und mit ihnen irgendwie den Anbeginn zu stärken. Oder zurückzuholen. So genau verstand Alex es noch nicht.

»Die Zeit drängt, doch auch ich sehe nicht über das hinaus, was direkt vor uns liegt«, erklärte Teresa. »Er will die Särge öffnen. Einen nach dem anderen. Damit ich nicht aufmerksam werde, hat er eine Kette gebildet. Jede Öffnung eines Sarkophags führt zum nächsten. Doch was danach kommt, ist mir verschlossen.«

 

»Wir sollten aufhören, darüber zu diskutieren!«, mischte Leonardo sich ein. »Wochenlang habe ich meinen Sohn gesucht. Dafür habe ich das Castillo verlassen, Splitterreiche durchsucht und alles aufs Spiel gesetzt. Wohin müssen wir reisen?«

»So einfach ist das nicht. Es wird ein Rennen gegen Merlin, doch das ist nicht genug.« Sie atmete langsam ein, ließ ihren Blick schweifen und atmete wieder aus. »So vieles habe ich gesehen, so viele Kämpfe. Die Jahrhunderte sind im Rückblick ein nicht greifbares Etwas aus verschwommenen Leben.«

»Wie metaphorisch«, sagte Leonardo trocken.

»Es geht mir um etwas Bestimmtes. Auch Merlin hat eine Ewigkeit gelebt. Außerhalb wie auch innerhalb des Onyxquaders. Seine Pläne reichen weit voraus.«

Clara lachte bitter auf. »Das kann ich bestätigen. Als Schattenfrau hat mein dunkles Ich ähnlich gehandelt.«

»Wir müssen herausfinden, was er vorhat, nachdem die vier erweckt sind«, schloss Alex. »Auf diese Art bleiben uns zwei Angriffspunkte.«

»Ich werde meinen Sohn suchen gehen!«, bekräftigte Leonardo. »In einem dieser … Särge liegt er. Ich werde Nagi Tanka herausreißen und diesen elenden Schamanen ein für alle Mal vernichten.«

»Vergiss nicht, was er trägt.« Annoras Stimme war leise, aber eindringlich. »Die Macht Nagi Tankas beruhte auf einem Blutstein.«

Annora hatte ihren Mann, den Großvater von Kevin, an eines dieser Artefakte verloren. Es waren mächtige Instrumente von grausamer Brutalität.

»Glaub mir, Annora«, Leonardos Stimme war rau wie Gestein, der von den Jahren der Herausforderung geformt worden war: »Niemals werde ich das vergessen.«