Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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3. Der Denkmalschutz und die Ohridgrabungen
3.1. Die Genese des deutsch-jugoslawischen Grabungsabkommens 1929

Durch die Vermittlung von Babinger373 nahm Reiswitz im Januar 1929 in Berlin Kontakt auf zu dem damaligen preußischen Kultusminister und Orientalisten Carl Heinrich Becker (1876–1933), welcher Reiswitz für die Weiterführung seiner in Belgrad begonnenen Studien über die preußisch-serbischen Beziehungen ab dem Frühjahr ein Privatdozenten-Stipendium in Höhe von 175 Reichsmark monatlich gewährte. Diese Information befindet sich in einem Briefentwurf Reiswitz’ an einen namentlich nicht erwähnten „Professor“ vom 04.03.1931. Aus dem Kontext geht aber hervor, dass dieser ein Mitglied der Historischen Reichskommission (HRK) gewesen sein muss. Mögliche Kandidaten könnten der Präsident der Reichskommission selbst, Friedrich Meinecke, aber auch andere Professoren gewesen sein, so z.B. auch Otto Hoetzsch oder Karl Stählin.374 In diesem Schreiben erläuterte Reiswitz seinen Antrag auf weitere Fördermittel, da die von Becker bereitgestellten Gelder zwar eine „sehr große Hilfe“ darstellten, aber ihm nicht ermöglichten „ganz davon zu leben.“ Der Antrag auf ein Privatdozenten-Stipendium war vehement durch Stählin unterstützt worden. In dessen Gutachten hieß es, dass er Reiswitz bereits seit 1926 kenne. Reiswitz habe im positiven Sinne einen „ungewöhnlichen Eindruck“ auf ihn gemacht und mit ihm „über große Pläne, die sich auf die Erforschung der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge der Bogomilen erstrecken“, geredet. Zudem erwähnte Stählin Reiswitz’ Jugoslawienreise von 1928, die jener zum „Aktenstudium“ nutzte, aber auch um „Land und Leute gründlich“ kennenzulernen. Ganz besonders sei es Reiswitz dabei aufgefallen, dass sich der „große Denkmalsreichtum dieser Gebiete … in völlig verwahrlostem Zustand befindet“. Reiswitz habe darüber hinaus Cvijić ins Deutsche übersetzt und besitze eine „frische, für die Wissenschaft begeisterte Persönlichkeit“. Den Stipendienantrag unterstütze er „auf das Wärmste“.375 Auch in Folgejahren wurde Stählin für Reiswitz gutachterlich tätig, was jedesmal zur Verlängerung des Privatdozenten-Stipendiums führte. Über die Umstände, wie sich Reiswitz und Stählin 1926 kennenlernten, ist nichts weiter bekannt. Stählin war ein Schulkamerad von Ernst Troeltsch und, wie Reiswitz, erst in späteren Jahren zum Historiker geworden, nachdem er von 1886–1897 Berufssoldat war. Um das Jahr 1914 hatte er begonnen, sich intensiv mit Balkanforschung zu befassen.376

Ebenfalls im Januar 1929 verfasste Reiswitz ein Dokument377, das neben dem „Mündlichen Bericht“ an Petković vier Monate später zu den ganz zentralen Bausteinen im Entstehungsprozess seiner Idee einer Denkmalschutzgesetzgebung für Jugoslawien gehört. Bislang hatte es in dieser Hinsicht lediglich die Vorarbeiten des Archäologen Mihailo Valtrović (1839–1915) gegeben, der – Milinković zufolge – im Jahre 1884 der Serbischen Archäologischen Gesellschaft den „Entwurf für ein Denkmalschutzgesetz“ vorgelegt hatte.378 Mehr war allerdings seither nicht geschehen.

In einer kurzen Präambel stellte Reiswitz nunmehr drei Thesen auf. Erstens, dass es im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen kaum „handschriftliche“ Überlieferung der eigenen Geschichte gebe, was ihn implizit zu dem Schluss kommen ließ, dass die Bewahrung der nicht-schriftlichen Tradition umso wichtiger sei. Zweitens konstatierte er, dass es in der jugoslawischen Öffentlichkeit nur einen geringen Vetrautheitsgrad mit der eigenen Vergangenheit gebe. Dies lege die Schlussfolgerung nahe, dass ein organisierter Denkmalschutz großes didaktisches Potential enthalte. Schließlich legte er dar, dass in kaum einem anderen Staat „West-Europas“ [sic] die vorhandenen Denkmäler einer größeren Gefahr der endgültigen Vernichtung ausgesetzt seien als in Jugoslawien.

Im ersten Hauptteil seiner Denkschrift erläuterte er dann die Ursachen für diese Bedrohung. Hauptverantwortlich sei die rasante wirtschaftliche Entwickung. Der Ausbau der Infrastruktur, die Landreform, die Urbarmachung bisher ungenutzter Anbauflächen und der Wohnungsbau, den er ja in Belgrad eindringlich beschrieben hatte, gefährdeten die noch unausgegrabenen Altertümer. Vielleicht noch bedrohlicher für die Bodenfunde sei die Tatsache, dass es keine verbindlichen Regelungen darüber gebe, was das weitere Schicksal eines Fundstückes anbelangte.

Neben dieser zufälligen und unabsichtlichen Gefahrensituation gebe es aber dazu das „Verlangen“ der jeweiligen Kommunen, ihre öffentlichen Anlagen zu „verschönern“, wodurch viele potentielle archäologische Bodenfunde einem fachmännischen Zugriff durch zum Beispiel Überbauung unerforschbar würden. Er erwähnte das konkrete Beispiel der Errichtung einer Parkanlage auf dem Hügel einer Stadt, wo sich eine antike Siedlung befand, deren „Schichtenfolge“ nun nicht mehr ergraben werden könne. Hier handelte es sich vermutlich um das von ihm selbst zuvor besuchte Bitola.

In diesem Fall allerdings sollte sich Reiswitz’ Pessimismus wohl als unbegründet erweisen. Im Jahre 1936 und 1937 wurden vom Prinz-Paul-Museum in Belgrad unter der Leitung von Miodrag Grbić Grabungen in Bitola durchgeführt, die die Reste von Herakleia Lynkestis freilegten, wozu eine Basilika und Mosaike zählten.379

Aus den genannten Gefährdungszenarien leitete Reiswitz dann zwei Forderungen ab: Erstens der „Schutz und die Sammlung“ der zufällig entdeckten Funde, und zweitens der „Schutz des Staates“ für diejenigen Areale, an denen aus wissenschaftlich begründeter Sicht mit Funden gerechnet werden könne. Für beide Maßnahmen sei ein Schutzgesetz, Geld und eine organisatorische Verankerung erforderlich.

Im zweiten Hauptteil des Memorandums führte Reiswitz dann aus, wie sein Forderungspaket konkret in die Tat umgesetzt werden könne. So sollten in jeder jugoslawischen Gespannschaft historisch, archäologisch und volkskundlich geschulte Konservatoren eingesetzt werden, welche wiederum innerhalb ihrer Amtsbezirke fachlich interessierte Laien über Fragebögen zu ständiger Berichtspflicht anzuhalten hätten. Ferner solle der jeweilige Konservator für die Zahlung von Finderlohn und die Sicherstellung der Funde verantwortlich sein.

Die Finanzmittel für diese neu zu schaffenden Organisationstruktur seien über den „Propaganda“-Etat des Außenministeriums, freiwillige Spenden, vor allem der im Ausland lebenden „opferfreudigen“ Südslawen, und im Bedarfsfalle zusätzlich noch durch eine „leichte“ indirekte Steuer aufzubringen.

Das Außenministerium solle deshalb als Geldgeber fungieren, da eine erfolgreiche archäologische Forschungstätigkeit beste „Reklamemöglichkeiten“ für Südslawien in Drittstaaten darstelle, die Spendenaktion müsse durch die Medien und die orthodoxe Kirche unterstützt werden – von letzter erwartete er aber Widerstand, vermutlich, weil er davon ausging, dass die kirchlichen Institutionen eine staatlich oktroyierte Denkmalpflege als Eingriff in ihre eigene Verfügungshoheit über kirchliches Kulturgut ansehen würden.

Reiswitz’ Ausführungen nach sei nicht die Beschaffung der finanziellen Mittel das größte Probem, sondern die Rekrutierung einer ausreichenden Zahl ausgebildeter Kuratoren, wobei er aber beteuerte, dass dies „für einen jungen Staat“ nicht als „Vorwurf“ zu interpretieren sei. Die Lösung hier sah er in der Beschäftigung ausländischer Gelehrter. Dies wiederum würde die gesteigerte Aufmerksamkeit der internationalen Fachwelt zu Folge haben und die zukünftige, grenzüberschreitende Drittmittelbeschaffung erleichtern. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt selbst als einer dieser im Ausland rekrutierten Konservatoren sah.

Drei Vorschläge schließlich machte er hinsichtlich des Schutzes potentieller Fundstellen. Erstens forderte er ein gesetzlich verankertes Verbot wilder Grabungen. „Schatzgräberei“ müsse streng bestraft werden. Zweitens müsse die Konzessionserteilung für Ausgrabungen insgesamt erleichtert werden, auch an ausländische Antragsteller. Auch hier hatte er wohl sich selbst mit im Blick. Drittens schließlich müsse es „scharf formulierte Leitsätze“ für jede Ausgrabung geben, deren Einhaltung auch stringent staatlicherseits zu überwachen sei.

Er beendete seine Denkschrift mit der ermunternden Bemerkung, dass Südslawien einen großen Vorteil habe, was die von ihm angeregte Organisation der archäologischen Denkmalpflege anbelangte: Da es noch keinerlei bestehende Regelungen gebe, müsse nicht auf überlieferte Strukturen Rücksicht genommen werden. Denkmalpflege sei gewissermaßen Pionierarbeit im eigenen Lande.

Dass diese Pionierarbeit bereits anderswo Früchte getragen habe, sei für ihn ablesbar an den Beispielen von Griechenland und Italien.380 Apodiktisch schloss er mit der Frage: „Wann beginnt Südslawien?“

Reiswitz hatte von dem „Vernunftrepublikaner“ Becker381 im Februar 1929 eine Visitenkarte von Gerhart Rodenwaldt bekommen, der seit 1922 Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts war. Doch erst im Mai nutzte Reiswitz diese zur Kontaktanbahnung und wurde bei dem der Zentrumspartei zugeneigten, nationalkonservativ eingestellten Rodenwaldt382 vorstellig, um ihm einerseits seinen „Vorschlag einer Organisation der Denkmalforschung“ zu unterbreiten, andererseits eine konkrete Offerte hinsichtlich deutsch-jugoslawischer Grabungen bei dem von Reiswitz ausgemachten Gradište am Ohridsee zu machen. Im Vorfeld hatte Reiswitz sich der Unterstützung von Petković für sein Projekt versichert, welcher ihm 04.05.29 aus Belgrad geschrieben hatte, dass „wenn Sie noch immer das Interesse an Ohrid haben, ich Ihnen sehr gern zur Verfügung stehen werde.“383 Etwas konspirativ fügte er hinzu: „Das Geheimnis darüber will ich nicht verraten.“

 

Vermutlich ging es darum, dass Nikola Vulić nicht zu früh von der geplanten Unternehmung erfuhr. Reiswitz Vorschlag fiel bei Rodenwaldt nicht auf taube Ohren. Kurz vor Reiswitz’ Aufbruch zu seiner dritten Jugoslawienreise im September 1929 übertrug ihm Rodenwaldt „die Aufgabe Gradište als Konzession f. d. Arch. Inst. zu bekommen“.384 Kurz zuvor hatte Reiswitz seine Vorschläge für eine Organisation der Denkmalforschung in Jugoslawien nochmals gründlich „überarbeitet“385 und eine Liste dessen angefertigt, was er dieses Mal in Serbien erreichen wollte, abgesehen von der Erringung einer Grabungskozession für Gradište. Dazu gehörte das weitere Erlernen der Landessprache und die Pflege der Kontakte, die er 1924 und 1928 geknüpft hatte. Doch hatte er auch ein politisches Ziel. Er wollte „das Land unter der berühmten Diktatur einmal auf seine Stimmung prüfen“.386 König Aleksandar I. hatte im Januar 1929 das Parlament aufgelöst, die Verfassung suspendiert und die „Šestojanuarska Diktatura“, die Diktatur des 6. Januars, ausgerufen. Im Oktober sollte das Land umbenannt werden in „Königreich Jugoslawien“. Doch auch die Bogumilen interessierten Reiswitz weiter, ebenso wie die preußisch-serbischen Beziehungen zur Zeit des Berliner Kongresses 1878.387

Nach seiner Ankunft in Belgrad nahm Reiswitz im Nationalmuseum sofort Kontakt mit den Kustoden Grbić und Petrović auf. Der Direktor der Einrichtung, Petković, die sich zu jenem Zeitpunkt in der Fürst-Miloš-Straße Nr. 58 befand und erst 1935 nach der Zusammenlegung mit dem Museum für Zeitgenössische Kunst in den sogenannten „Neuen Palast“ in der Fürst-Milan-Straße umzog, war „verfluchterweise“ nicht anwesend,388 sondern hielt sich in Paris auf. Er lud Reiswitz brieflich ein, ihn nach seiner Rückkehr nach Belgrad am 28.09. im Museum zu besuchen oder am Abend zuvor vom Bahnhof abholen.389 Reiswitz war deshalb so aufgebracht darüber, Petković nicht angetroffen zu haben, weil er befürchtete, dass ihm entweder Vulić oder ausländische Archäologen in Gradište zuvorkommen könnten. Er erhielt vom Kustos Petrović Petkovićs Adresse in Paris und ließ ihn wissen, dass er ihn unbedingt sehen müsse, da er von Rodenwaldt die Erlaubnis bekommen habe, „konkret und direkt“ mit Petković in Sachen Ohrid zu verhandeln.390 Doch die Anwesenheit nicht-südslawischer Experten konnte auch von Vorteil sein: „Übrigens graben die Engländer schon in der Nähe von Belgrad, sodass der Precedenzfall [sic] schon geschaffen wurde, was für uns die Sache erleichtern wird“. Um welchen Präzendenzfall handelte es sich?

Im Jahre 1928 hatte Sir Charles Hyde (1876–1942), ein englischer Philanthrop und Eigentümer der „Birmingham Post“, eine Anzeige in der Londoner „Times“ aufgegeben, um nach förderungswürdigen archäologischen Projekten zu suchen. Der seit 1920 in Belgrad lebende Schriftsteller und Englischlektor Alec Brown (1900–1962)391, welcher wiederum befreundet war mit dem englischen Archäologen und Oxfordprofessor John Linton Myres (1869–1954), sah diese Annonce und informierte den Lehrstuhlinhaber für Archäologie an der Belgrader Universität, Miloje Vasić (1869–1956), darüber. Vasić bewarb sich erfolgreich für die von Hyde in Aussicht gestellten 500 Pfund Fördermittel, um die Grabungen in dem von ihm 1908 entdeckten Vinča an der Donau fortzusetzen. Diese Grabungen hatten am 10.08.29, also rund einen Monat vor Reiswitz’ Eintreffen in Belgrad begonnen, und am 07.09. hatte die Tageszeitung „Vreme“ ausführlich über sie berichtet. Die Funde wurden von Vasić demnach auf rund 1.200 v.Chr. datiert und belegten, so Vasić in einem Interview mit „Vreme“, die wichtige Funktion Vinčas als Handelszentrum für das in einem Bergwerk am rund fünf Kilometer entfernten Berg Avala abgebaute Zinnober. Der Handel mit diesem begehrten Farbstoff verband nach Vasić die Vinčakultur mit der Ägäis und dem Orient, aber auch mit dem Norden Europas.392 Ein Satz wie der folgende, welcher in der Londoner „Times“ erschien unter der Überschrift „Early Man in the Balkans. The Finds at Vinča“ musste hinsichtlich der Frage ex septentrione oder ex oriente lux elektrisierend auf Reiswitz gewirkt haben: „The finds … prove beyond question the spread of the Aegean civilisation of about 1400 B.C. to the valley of the Danube, probably by way of the Black Sea“.393

Von einem Präzedenzfall kann allerdings rein rechtlich gesehen nicht die Rede sein, da die Grabungen von Vasić nicht durch ein zwischenstaatliches Abkommen ermöglicht und finanziert wurden, wie es Reiswitz auf Gradište bezogen anstrebte, sondern die Geldmittel aus privater Hand stammten.

Am 15.09. verließ Reiswitz Belgrad mit Ziel Mazedonien. Der Bürgermeister von Skopje, Josif Mihajlović (1887–1941), und der „Politika“-Redakteur Grahovac waren vorab informiert.394 Es ist nicht auszuschließen, dass Reiswitz’ Fahrt in den Süden vom offiziellen jugoslawischen Pressebüro begleitete wurde, dessen Aufgabe es war, ausländischen Besuchern ein proserbisches Bild zu vermitteln. Grahovac trat zum Beispiel im September 1932 in Erscheinung im Zusammenhang mit dem Besuch von zwei Abgeordneten der britischen Labour-Partei. Milan Jovanović, der damalige Leiter des Pressebüros in Skopje, war zufrieden mit Grahovac, den er als „großen Nationalisten“ im serbischen Sinne bezeichnete.395 Gerade das Hygiene-Institut, dessen Direktor Rankov Reiswitz 1928 kennengelernt hatte, zählte zu den gerne gezeigten Errungenschaften, die die zivilisatorische Mission Serbiens im Süden belegen sollten.396 Wahrscheinlich war von Reiswitz auch 1928 erwartet worden, dass die Gastfreundschaft, die ihm Rankow in der Hygienestation am Ohridsee gewährt hatte, publizistisch-propagandistischen Niederschlag finden sollte. Doch dazu kam es nicht.

Eigentlich wäre es gar nicht nötig gewesen, Reiswitz von offizieller Seite im proserbischen Sinne zu bearbeiten. In einem Brief an den Direktor des Gymnasiums von Prizren im Kosovo, Milorad Šoškić, vom 29.10.29 bedankte sich Reiswitz für die Gastfreundschaft, die er „mitten in Südserbien“ in dessen Haus gefunden hatte. Offenbar hatte Šoškić, welcher 1921 in Jena über die Kulturgeschichte Montenegros promoviert hatte397, seinen deutschen Gast gebeten, bei dem deutschen Gesandten in Belgrad, Adolf Köster, vorzusprechen, um „Stipendien für südslawische Studenten in möglichst großem Ausmass“ zu bewilligen. Reiswitz teilte Šoškić mit, dass er dessen Anliegen Köster vorgetragen habe, welcher alles in seinen Kräften Stehende tun werde, um es zu unterstützen. Zudem wisse er sich „gern mit allen in Fühlung“, die, wie Šoškić, ihre „Studien in Deutschland gemacht haben“, sodass sich bei seinem im nächsten Jahr anstehenden Besuch in Prizren sicherlich die Möglichkeit einer persönlichen Unterredung ergeben werde.

Im selben Brief bot Reiswitz an, dass Šoškić seine Dissertation doch in der Reihe „Süd-Ost Europäische Bibliothek“ veröffentlichen könne, welche von der „Arbeitsgemeinschaft für Süd-Ost Europa Forschung“ an der Berliner Universität herausgegeben werde. Bei dieser Arbeitsgemeinschaft muss es sich um dieselbe gehandelt haben, deren vorschnelle Inauguration Reiswitz im Juli noch Schünemann vorgeworfen hatte. Augenscheinlich hatte sich die Arbeitsgemeinschaft nun doch stabilisiert. Reiswitz legte dar, dass „ein Freund von mir, der schon Dozent an der Berliner Universität“ sei, zusammen mit ihm selbst diese gegründet habe. Sie stünde unter dem wechselnden Vorsitz „der namhaftesten Berliner Professoren“ und nach Schünemanns Buch zum Städtewesen in Südosteuropa könnte Šoškićs „Kulturgeschichte Montenegros bis zum Aufgehen Montenegros im südslawischen Reich“ der zweite Band in der Reihe „Süd-Ost Europäische Bibliothek“ werden, vorausgesetzt, der derzeitige Vorsitzende, Professor Karl Stählin, akzeptiere es. Obwohl sich Reiswitz „riesig“ gefreut hätte, „einen Südslawen als nächsten schon in dieser Bibliothek zu sehen“, kam es nicht zu der geplanten Veröffentlichung. Ein zweiter Band in der Reihe ist nie erschienen, und über die Arbeitsgemeinschaft selbst ist auch keine Überlieferung zu Tage getreten.

Danach ließ Reiswitz Šoškić von dem gemeinsamen Freund Max Fischer grüßen, den Reiswitz „neulich abend“ traf und der auch „gerne und oft“ an Prizren denke. Im Tagebuch vom 19.10.29 findet sich der Hinweis, dass Reiswitz mit Fischer bis 1.30 Uhr morgens im Romanischen Café zusammen war, der Abend sei sehr „lustig und gemütlich“ gewesen.398 In einem Brief der Ehefrau von Šoškić an Reiswitz vom 19.03.30 tauchte ebenfalls Fischer auf. Agnes Šoškić bedankte sich für die von Fischer über Reiswitz ausgerichteten Grüße und fuhr fort: „Auch ihm [Fischer] muss man so sehr dankbar sein, wie [sic, was] er gerade durch die letzte Reise für die Verständigung zwischen deutschen [sic] und Südslawen getan hat.“ Sie erwähnte zudem einen Radiovortrag Fischers, in welchem die Šoškićs selber zu Wort gekommen seien.399

Neben Skopje und Prizren steuerte Reiswitz in der zweiten Septemberhälfte 1929 noch Tetovo, Bitola und Stobi an.400 Am 26.09. war er wieder in Belgrad, wo er noch bis zum 01.10. blieb.401 Einer seiner ersten Wege führte ihn in die deutsche Gesandtschaft, wo alle „lieb“ zu ihm gewesen seien.402 Mit dem Gesandten Köster kam er am 27.09. in einer Weinstube zusammen. Am nächsten Vormittag, dem 28.09., sah er zunächst endlich Petković, dann traf er sich mit Slobodan Jovanović und schließlich noch mit Friedrich Hüter (1897–1967), dem Belgrader Korrespondenten des zum Hugenbergkonzern gehörenden Scherl-Verlages. Zudem verfasste er das „Bewerbungsschreiben“ für die Ohrid-Konzession.403

In diesem Brief an die Direktion des Nationalmuseums bat er Petković, bei den „zuständigen Regierungsstellen“ die Genehmigung für die Gradište-Grabungen zu erwirken, im Rahmen eines Abkommens zwischen dem „Deutschen Reichsinstitut für Archäologie“ und dem Belgrader Nationalmuseum. Die Genehmigung möge sich auf „den Berg, der zwischen Ochrid und Struga liegt“ erstrecken, die finanziellen Mittel würden deutscherseits aufgebracht und die Arbeiten von deutschen und südslawischen Gelehrten ausgeführt werden. Eigentümer der Funde bleibe der südslawische Staat, doch solle bald ein Abkommen geschlossen werden, um die Anfertigung von Dubletten für deutsche Zwecke zu regeln. Das alleinige Veröffentlichungsrecht erhalte das deutsche Reichsinstitut. Der Vertrag solle fünf Jahre laufen, mit einjähriger Kündigungsfrist zum Ende der Geltungsdauer.404 Bereits einen Tag später wurde Reiswitz’ Vorschlag vom Unterrichtsminister Božidar Maksimović (1886–1969) genehmigt, was darauf schließen lässt, dass die entscheidenden Vorgespräche mit Petković schon im Vorfeld zu einem in Reiswitz’ Sinne erfolgreichen Abschluss gebracht worden waren. Die geplante Übereinkunft war ohnehin im Einklang mit der „ideology of Europeanization“, die die „driving force“ der jugoslawischen Museumspolitik der 1930er Jahre bildete.405 Petković schickte Reiswitz am 05.10. den Ministerbeschluss in deutscher Übersetzung nach Berlin.406 Reiswitz leitete diesen am 15.10. sofort an Rodenwaldt weiter mit dem Hinweis, dass er, Reiswitz, sich nun an Köster wenden werde, um diesen dazu zu bringen, dem Auswärtigen Amt die Dringlichkeit der in Angriff zu nehmenden Grabungen zu dokumentieren im Zusammenhang mit der deutschen auswärtigen Kulturpolitik.407

Diesen Schritt unternahm Reiswitz am 31.10.29 mit einem vierseitigen Schreiben an Köster. Er berichtete über den „guten Ausgang“ seiner Bemühungen, die Grabungskonzession zu erwirken und strich heraus, dass nun die finanziellen Mittel für den ersten, für das Frühjahr 1930 angepeilten Grabungsgang zu besorgen seien. Klar sei, wie wichtig Gradište dabei sein konnte, der deutschen Archäologie den Zugang zu den jugoslawischen Fundstellen zu sichern: „Ganz egal, ob Gradište das hält, was ich verspreche, oder nicht … in jedem Falle sind unsere Archäologen einmal unten und werden, wenn Gradište enttäuschen sollte, auf Grund der ersten Genehmigung bestimmt auch eine zweite erhalten“. Um die Gelder beim Auswärtigen Amt zu bewilligen, bat Reiswitz Köster darum, sich direkt an die Wilhelmstraße zu wenden und formulierte dem Gesandten diesen „Bericht“ sogar vor, wonach es „kulturpolitisch … ganz besonders wichtig sei“, dass sich Deutschland in Südserbien für wissenschaftliche Forschung einsetze.408 Reiswitz’ zusammenfassender, handschriftlicher dreiseitiger Übersicht seiner Ohridaktivitäten von 1918–1930 aus dem Nachlass zufolge ist Köster seiner Bitte nachgekommen.

 

In dem Schreiben vom 31.10. ging Reiswitz noch auf andere Felder deutsch-jugoslawischer Kulturbeziehungen ein. Er riet Köster, dass deutsche Kunsthistoriker, die sich mit Kirchen und Klöstern in Südslawien befassten, sich unmittelbar zwecks der Erteilung möglicher Genehmigungen an Petković wenden sollten, „der ein aufrichtiger Deutschenfreund“ sei, den Köster unbedingt kennenlernen müsse, da er nicht nur „die wichtigste Instanz für alle archäol. und kunsthistor. Unternehmungen“ sondern auch ein „ganz besonders sympathischer Mensch“ sei.

Dann legte er Köster Milorad Šoškić ans Herz, der Köster bald in Belgrad besuchen wolle und erwähnte ferner die geplante Veröffentlichung von Šoškićs Jenaer Dissertation in der „neuen Südosteuropäischen Bibliothek“, was natürlich auch Werbung in eigener Sache für Reiswitz gleichkam. Ebenso machte er Köster auf Professor Mirko Jovanović aufmerksam, welcher am Seminar für zukünftige orthodoxe Priester in Prizren (Srpska Pravoslavna Bogoslovija Sv. Kirila I Metodija) lehrte, und ein Stipendum suche für einen seiner 1930 das Studium beendenden Schüler, der beabsichtige, in Deutschland Germanistik zu studieren.

Ein wesentlich sensibleres Thema, welches Reiswitz danach ansprach, war das deutsche Schulwesen in Jugoslawien.409 Im Zusammenhang mit einer neu erlassenen Schulverordnung410, welche „für die Minoritäten“ sehr ungünstige Bestimmungen in sich trage, habe Reiswitz der seit Juli 1929 im Amt befindliche Presseattaché der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin, Omer Kajmaković (1890–1969)411, mitgeteilt, dass der Gesandte selbst, Živojin Balugdžić, die Regierung in Belgrad ersucht habe, die neuen Bestimmungen „bei den Deutschen durch administratives weitgehendes Entgegenkommen stillschweigend zu annulieren.“

Wie Köster auf Reiswitz’ Auskunft aus zweiter Hand reagierte, und ob ihm Reiswitz’ Mitteilung von Nutzen war, ist nicht überliefert. Das deutsche Schulwesen und die Stellung der deutschen Volksgruppe waren für Köster, der zuvor deutscher Gesandter in Riga war, sicherlich keine gänzlich neue Problematik. Er setzte sich in der Tat auch für die „Verbesserung der Schulgesetzgebung“ ein und hatte „erste Erfolge“.412 Reiswitz hatte sicherlich Bedenken, dass er mit seinen möglicherweise als indiskret oder anmaßend verstandenden Ratschlägen den Gesandten verstimmt haben könnte. Einerseits ließ er Köster wissen, dass er weitere Details zu der pikanten Schulgesetzproblematik ihm lieber persönlich mitteilen wolle, andererseits erläuterte er am Ende des Schreibens etwas verschwurbelt, dass er sich keinesfalls „hineinmischen“ oder „wichtig tun“ wolle, sondern dass er „allein aus dem Bedürfnis heraus“ handele, „in dieser letzten Endes doch so egozentrischen wissenschaftlichen Tätigkeit einmal auch praktisch durch und bei meiner Arbeit wirken zu können.“ Unverkennbar ist, wie Reiswitz einerseits Kösters Ressourcen in Anspruch nehmen wollte, andererseits aber auch bereitwillig eine kleine Gegenleistung erbrachte.

Reiswitz’ Rolle als Initiator der Gradište-Konzession und als Mittler zwischen den beteiligten jugoslawischen und deutschen Instanzen kam nun vorerst zu Ende. Der eigentliche Vertrag liegt als Entwurf im Archv der Serbischen Akademie der Kunst und Wissenschaft in Sremski Karlovci und ist undatiert. Als vertragsschließende Parteien waren das DAI, vertreten durch Unverzagt und Reiswitz, und das Belgrader Nationalmuseum, vertreten durch Petković, vorgesehen. In einigen Punkten ging das Abkommen noch über die von Reiswitz Ende September 1929 Petković gegenüber gemachten Vorschläge hinaus. So verpflichtete sich das DAI, bei den Grabungen jugoslawische Arbeiter zu beschäftigen. Andererseits erhielt das DAI das Recht, von der Ausgrabung zurückzutreten, falls die im Jahre 1930 durchzuführende Probegrabung nicht zu einem „befriedigenden Ergebnis“ führte. Als Laufzeit wurden nun nicht fünf Jahre festgelegt, sondern der Zeitraum „bis zur Erledigung des von den deutschen Sachverständigen geplanten wissenschaftlichen Zieles“, welcher aber im Vertragsentwurf nicht genauer spezifiziert wurde. Die Konzession erstreckte sich „auf die Untersuchung des Gradište bei Ohrid“.413

Am 05.12. schrieb er an Petković, um ihn darauf hinzuweisen, dass sich die Mittelbeschaffung für die erste Grabungskampagne, die im April oder Mai 1930 stattfinden sollte, „in einem so armen Lande, wie es Deutschland jetzt geworden ist“ noch eine Woche verzögere, und dass „nur ein Archäologe“ und er selbst die erste „kleine Schürfung“ vornehmen werden. Er kündigte an, dass sich Rodenwaldt bald an Petković wegen der „Einzelheiten“ wenden werde. Zudem ließ er Petković wissen, dass er selbst im Moment „sehr viel“ arbeite und „sehr still“ lebe.

Rodenwaldt trat dann tatsächlich am 09.12. in Aktion, mit einem Schreiben an Petković. Dieser antwortete Rodenwaldt am 22.12.29 und setzte den Direktor des DAI darüber in Kenntnis, dass „die Zusammenarbeit der deutschen und jugoslawischen Wissenschaft von der ganzen Welt aufrichtig begrüßt“ werde. Zudem nannte er Miodrag Grbić als seitens des Nationalmuseums zu bestellenden Vertreter bei den Grabungen. Kurz danach, vermutlich Anfang Januar 1930, wandte sich dann der vom DAI für das Gradište-Projekt benannte Archäologe Wilhelm Unverzagt an Petrović und teilte ihm mit, dass eine Probegrabung im Frühjahr 1930 das Alter von Gradište und die weiteren „Untersuchungsmöglichkeiten“ feststellen solle.414 In einem zur gleichen Zeit verfassten Schreiben von Unverzagt an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft beantragte er 5.000 Reichsmark für die Probegrabung. Während Petković davon sprach, dass die ganze Welt die deutsch-jugoslawische Zusammenarbeit begrüße, machte Unverzagt gegenüber der Notgemeinschaft kein Hehl daraus, dass die „Gefahr“ bestünde, dass „eine für dieses Gebiet bereits angebotene amerikanische Hilfe der deutschen Mitwirkung“ zuvor komme könne, wenn nicht bald mit den Arbeiten vor Ort begonnen würde. Als Begründung für seinen Antrag führte Unverzagt auch an, dass bei Gradište die dem im Ersten Weltkrieg von Filow entdeckten Gräberfeld zugehörige Siedlung vermutet werde. Da durch das Ohrider Gebiet „die grosse Völker- und Kulturstraße, die Nord-Griechenland und Macedonien einerseits mit der Adria, andererseits mit den Donauländern und dem Bosporus verbindet“ verlaufe, seien die Grabungen „von ganz großer Bedeutung für die offenbar sehr engen Beziehungen zwischen der griechisch-ägäischen Welt und dem thrakisch-illyrischen Hinterlande“. Um die von Reiswitz so genannte „kleine Schürfung“ mit der großen Schuchardt’schen Frage des ex oriente oder ex septentrione lux zu verknüpfen, ergänzte Unverzagt noch, dass diese Nord-Süd und West-Ost-Verbindungen im Ohrider Gebiet schon zu einer Zeit bestanden hätten, „die für den Norden noch völlig im Dunklen liegt.“ Die Klärung der Frage dieser Nord-Süd-Verbindungen – in welcher Richtung der Kultur- und Menschenfluss sich auch immer bewegt habe – sei „grundlegend“ für die Vorgeschichtswissenschaft.415 Der Bezug auf Filow war direkter noch als man vermuten mag, da Unverzagt die obigen Passagen wörtlich aus Filows 1927 veröffentlichter Schrift übernahm – gewissermaßen ein Plagiat anfertigte.416

In Sachen Gradište ging es dann allerdings nicht so schnell voran, wie von Reiswitz und Unverzagt erwartet. Am 28.01.1930 wurde das Vorhaben dem „Engeren Ausschuss“ des DAI vorgestellt. Bei der Sitzung war auch Rodenwaldt zugegen. Lediglich unter „Verschiedenes“ im Protokoll, unter Punkt 4, heißt es: „Serbische Ausgrabungserlaubnis in Gradište bei Trebenište. Vorexpedition Unverzagts. … Verständigung zwischen Athen u. Konstantinopel über Abgrenzung der Balkanbeziehungen geboten, desgl. mit Herrn Unverzagt.“417