Himmel (jetzt reicht's aber)

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Kapitel 2

Kleine Ursache – große Wirkung

»Stephen, ist dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder Kreislauftropfen vielleicht?«

Als Steve zu sich kam, tätschelte jemand vorsichtig seine Wange. Vorsichtig öffnete er die Augen, ihm war tatsächlich schwindelig, die Welt drehte sich im Kreise. Er lag rücklings auf einer Couch, die ihm äußerst bekannt vorkam. Seine Mutter Kirstie stand mit besorgtem Blick über ihn gebeugt und Steve fiel auf Anhieb auf, dass sie sehr blass wirkte und ganz in Schwarz gekleidet war, was untypisch und unvorteilhaft an Mama aussah.

Da die rothaarige Kirstie stets vergeblich versucht hatte, ihren sehr hellen Haut-Ton in der Sonne etwas dunkler zu bekommen und hieran jeden Sommer in schönster Regelmäßigkeit kläglich gescheitert war, machte sie die dunkelste aller Farben einfach noch blasser, als sie eigentlich sowieso schon war. Das einzig Dunkle in ihrem Gesicht bildeten nach ihren erfolglosen Versuchen alljährlich die Sommersprossen, deren Population sich schon beim ersten Sonnenbad zu vervielfachen pflegte; oft hatte Stephen sich als Kind hierüber köstlich amüsiert.

»Es geht schon wieder, glaube ich. Lass mich bitte einfach noch einen Moment hier liegen und ausruhen, dann komme ich sofort zu dir«, sagte Stephen mit dünner Stimme. Seine Mutter entfernte sich mit einem traurigen Nicken und ging langsam in leicht gebeugter Haltung auf die große Glastür zu, welche aus dem riesigen Wohnzimmer hinausführte. Sie schien es normal zu finden, dass ihr Sohn gerade unpässlich war. Warum eigentlich? Stephen registrierte zu seinem Erstaunen, dass er sich in der geräumigen Villa seiner Eltern in Hamburg-Blankenese befand. Er musste sich erst in der Situation zurecht finden und nachdenken, konnte gerade jetzt absolut niemanden um sich herum gebrauchen. Deshalb erhob er sich vorsichtig und suchte das Badezimmer im ersten Stock auf, auch um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Achtete sorgfältig darauf, im Flur und auf der breiten Treppe niemandem zu begegnen, denn er hörte die gedämpften Geräusche vieler Stimmen durch die geschlossene Terrassentür. Was war die Ursache? Eine Party, ein Geschäftsessen seines Vaters? Er erreichte das Badezimmer, sperrte erleichtert die Tür hinter sich ab. Himmel noch mal, bei welcher Gelegenheit hatte ihn eigentlich die peinliche Kreislaufschwäche ereilt? War der vorherige Aufenthalt im Himmel nun geträumt oder nicht? So viele offene Fragen … Stephen sah an sich herunter. Trug er nicht gerade seine Lieblings-Levi’s-Jeans, die er wegen Materialermüdung einst so ungern ausrangiert hatte, nachdem sich die Löcher endgültig nicht mehr hatten stopfen lassen? Die schaute heute noch ganz neu aus …

Ach, Du lieber Himmel! Klar, Kirstie hatte vor einigen Minuten viel zu jung gewirkt und er selbst … herrjeh, er konnte höchstens 25 Jahre alt sein! Also musste er seinen schlimmsten Verdacht bestätigt sehen – man verpasste ihm ungefragt ein weiteres Leben. Das Dritte in Folge.

Kraftlos ließ sich Stephen McLaman auf den Rand der riesigen, runden Badewanne fallen. Nicht schon wieder, nicht noch einmal! Konnte er nicht einfach wieder tot umfallen, gleich jetzt und hier? Oder sollte er vielleicht sogar nachhelfen? Er sah sich im Geiste schon die Pulsadern mit einer Rasierklinge aufschneiden. Aber in diesem Fall, so fiel ihm ein, würde man ihn wohl gleich ins Untergeschoss zum Teufel schicken, denn Selbstmord war nach Lage der Dinge strengstens verboten.

Er zwang sich, weiter nachzudenken. »Also, mal angenommen, ich liege richtig. Dann hat man mich 2029 zusammen mit meinem Vater erschossen und ich bin in den Himmel gekommen, zumindest vorübergehend, während mein Vater in die Hölle abgeschoben wurde. Oder ins Fegefeuer, was weiß ich«, murmelte Stephen frustriert vor sich hin.

»Man hat mich mal wieder zusammengefaltet und mir erklärt, dass meine Sichtweise über die Welt und meiner Rolle darin komplett daneben war und ich mir angemaßt hätte, Gott zu spielen. Na, fein! Mit dem Ergebnis, dass ich schon wieder eine Ehrenrunde drehen »darf«. Hmmm …«

Stephen erhob sich und sah in den Spiegel. Tatsächlich! Dieser zeigte zur Bestätigung einen jungen, blonden Mann mit Wuschelkopf, dessen Gesicht noch glatt wie ein Kinderpopo war. In Jeans und einem blauen T-Shirt, dessen Säume bereits ausgefranst waren. Auch ein Lieblingsstück, erinnerte sich Steve.

»Scheiße, ich hasse es manchmal, wenn ich recht habe!«, fluchte Stephen. »Bloß … zu welcher Zeit genau haben die mich wieder auf der Erde abgeladen? Das muss ich unbedingt als Erstes herausfinden. Und warum ich mich beim Wiedereintritt ins Leben dieses Mal in Hamburg und nicht in Spanien befinde, das wäre auch wichtig. Mann, ist das krank!«

Stephen wurde klar, dass er diese Punkte nicht ausgerechnet im Badezimmer würde klären können; er beschloss, sich in Vaters Arbeitszimmer zu schleichen. Dort musste es einen Computer geben, der ihm zumindest Auskunft über das Datum und das aktuelle Weltgeschehen liefern konnte. Wie ein Verbrecher drückte er sich leise an den Wänden entlang, doch hier oben hielt sich außer ihm sowieso niemand auf; die Stimmen klangen weiterhin aus einiger Entfernung zu ihm herauf.

Er passierte das Zimmer, das er selbst einst hier bewohnt hatte, warf einen raschen Blick hinein. Nanu, weshalb stand dort auf dem Schreibtisch sein Notebook? Das hatte er bei seinem Auszug doch mitgenommen gehabt!

Steve huschte ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Hier lagen unordentlich massenweise Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut und auf dem Bett stapelten sich Bücher und CDs. So wie üblich, als er dieses Zimmer noch bewohnte. Oft hatte Mutter diesen Raum als »Bermuda-Dreieck« bezeichnet, weil ihrer Ansicht nach in diesem Chaos garantiert nichts mehr auffindbar war.

Stephen drückte den Einschaltknopf des Rechners. Staunte darüber, wie langsam dieses altersschwache Ding hochfuhr.

»Mensch Meier, so wenig Anwendungen und kaum Rechenkapazität. Das ist, als wäre man von heute auf morgen ins Mittelalter zurückversetzt«, dachte Steve genervt. Endlich erschien die Mini-Anwendung mit dem Kalenderblatt rechts oben im Eck des Bildschirms auf seinem Desktop.

Exakt in diesem Augenblick wurde Stephen McLaman klar, dass man ihn dieses Mal zu einem früheren Zeitpunkt auf der Erde wieder ausgewildert hatte – man schrieb aktuell den 18. Juni 2004 und der jetzt wieder junge Mann glaubte sich zu erinnern, in der anderen Version seines Lebens erst im Herbst dieses Jahres nach Spanien ausgewandert zu sein. Somit dürfte sich auch der tragische Motorradunfall in Guardamar noch nicht ereignet haben, nicht einmal der erbitterte Streit mit seinem Vater hatte bislang stattgefunden, falls er mit seiner Analyse richtig lag. Das üble Zerwürfnis, dessentwegen er überhaupt erst wütend seine Sachen gepackt hatte und ohne viel nachzudenken gen Süden abgehauen war.

Das alles lag noch in der Zukunft – einer Zukunft, die er jetzt neu und besser gestalten konnte. Oder vielmehr MUSSTE.

* * *

Kirstie McLaman ging wie in Trance zwischen ihren Gästen umher. Sie fühlte sich, als wäre sie nur die Hauptdarstellerin in einem Albtraum, müsse jeden Moment aufwachen. Viele der Anwesenden drückten mit ehrlicher Anteilnahme im Blick ihre Hand, murmelten Beileidsbezeugungen; von anderen wusste sie mit ziemlicher Sicherheit, dass das Mitleid nur geheuchelt wurde; es gab leider immer Neider und Missgünstige, wenn einem geschäftlicher Erfolg beschieden war. Manch einer unter denen malte sich womöglich schon aus, auf welche Weise er von der Katastrophe, die ihr vor vier Tagen widerfahren war, profitieren würde.

Sie fühlte sich zu schwach, zu ausgebrannt. Ansonsten wäre ihr sprichwörtlich irisches Temperament sicherlich längst mit ihr durchgegangen und sie hätte den Herrschaften gehörig die Meinung gegeigt. Hätte ihnen an den Kopf geworfen, was sie von zielgerichteter Scheinheiligkeit hielt. Aber nicht heute, nicht jetzt. Sie hatte sowieso keinen blassen Schimmer, wie ihre eigene Zukunft aussehen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben packte Kirstie McLaman neben ihrer Trauer die nackte Existenzangst. Wo blieb eigentlich Stephen? Musste sie sich nun auch um seine Gesundheit Gedanken machen? Verstört und besorgt eilte Kirstie zurück ins Haus, doch seinen Platz auf der Couch fand sie leer vor.

»Stevie? Alles in Ordnung mit dir?«

Mutter! Stephen hatte ganz vergessen, dass sie sich Sorgen machen könnte. Aber war das ein Wunder? Er durfte sich vorsichtshalber mit niemandem konfrontieren, solange er nicht einigermaßen über sich selbst Bescheid wusste, nicht einmal mit seiner eigenen Mutter. Gerade eben las er fasziniert die E-Mails einer gewissen Kati auf seinem Rechner, mit der er 2004 eine Liaison am Laufen hatte. Na ja, die Mails legten eher den Schluss nahe, dass diese Beziehung im Sommer dieses Jahres schon ziemlich im Sterben lag. Musste sie wohl, denn er konnte sich beim besten Willen an keine rührenden Abschiedsszenen erinnern, die er mit seiner Abreise nach Spanien zu verbinden hätte.

Kati. Ja, die war hübsch gewesen, mehr aber auch nicht. Steve fand es echt interessant, was von einer einstigen Beziehung in der Erinnerung so übrig blieb, sofern sie nicht viel bedeutet hatte. Seltsamerweise war ihm in diesem Fall ein kotzgelbes T-Shirt am deutlichsten im Gedächtnis haften geblieben, welches Kati einst bei einem Date getragen hatte.

Kirstie klopfte nun leise an seine Zimmertür, schlüpfte dann in den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ach so, hat dir Kati wieder geschrieben? Ich will dich ja nicht noch weiter belasten, aber ich denke, das hat wirklich keinen Sinn mehr.«

»Hast Recht! Die ist ab sofort Geschichte«, bestätigte Stephen zu ihrer Verwunderung. Seltsam – noch letzte Woche hatte er sich mit aller Macht gegen diese Erkenntnis gesträubt und Kati samt deren Eskapaden wortreich gegen seine Mutter verteidigt.

 

»Geht es dir besser? Dann komm doch bitte mit nach unten, lass mich mit diesen Hyänen nicht alleine. Ich fühle mich so verloren zwischen all den vielen Leuten«, bat seine Mutter.

Stephen verstand nicht. »Wieso Hyänen? Hat Vater wieder einmal seine dubiosen Geschäftsfreunde eingeladen? Soll er sich doch selber um die kümmern! Diese geschniegelten Blender kann außer ihm sowieso keiner von uns ausstehen, stimmt’s?«, versuchte er zu scherzen.

Einen Augenblick später tat ihm die Bemerkung bereits leid, denn sie schien seine Mutter ungewohnt stark zu deprimieren. Was war nur mit ihr los? Sie wirkte heute derart blass, dass man nicht einmal die Sommersprossen deutlich sehen konnte. Selbst das feuerrote Haar schien an Farbe verloren zu haben.

»Da hast du nicht Unrecht, auch wenn es gerade jetzt nicht an der Zeit ist, blöde Witze zu reißen! Aber so wie es aussieht, könnten wir schon sehr bald von genau diesen Leuten finanziell total abhängig sein«, seufzte Kirstie. »Kommst du jetzt mit mir hinunter oder nicht?«

Was meinte sie bloß? Kopfschüttelnd klappte er das Notebook zu und setzte sich in Bewegung. »Klar. Schon unterwegs.«

Kirstie, die bereits zur Tür hinaus war, blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihrem Sohn um. »Aber bitte nicht in diesem Aufzug, Stephen! Zieh dir schnell etwas Schwarzes an, so viel Respekt hat er zumindest sogar von dir verdient. Tu es und komm nach.« Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine.

Jetzt dämmerte ihm ein furchtbarer Gedanke. Der Anblick seiner Mutter … schwarze Klamotten … Gäste, die keiner haben will … die nebulösen Äußerungen … ach, du lieber Himmel! Stephen klappte das Notebook wieder auf und rief mit fliegenden Fingern die Online-Ausgabe der Tageszeitung auf. Die Seite mit den Todesanzeigen.

»Harmstetter … König … Schumacher … Andersen … Scheiße!« Nicht, dass letzteres als Name in der Zeitung gestanden wäre. Stephen hatte seiner Befürchtung gemäß schlicht und einfach festgestellt, dass sein Vater vor vier Tagen einem Herzinfarkt erlegen war. Er fühlte schlagartig nahezu alle Energie aus seinem Körper schwinden, als müsse ihn auf der Stelle dasselbe Schicksal ereilen. Seine Gedanken überschlugen sich in einem wilden Reigen des totalen Chaos.

Vater TOT? Was wollte ihm die himmlische Zentrale der Macht eigentlich noch alles zumuten?

Den Rest dieser makabren »Feier«, im Volksmund »Leichenschmaus« genannt, ertrug Stephen nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte. Seiner Mutter zuliebe. Doch als die letzten Gäste sich schließlich verabschiedeten, stahl er sich wie ein Dieb zum Gartentürchen hinaus. Er musste unbedingt kurz alleine sein und einigermaßen brauchbare Gedanken aus dem Eintopf des Wahnsinns extrahieren, welcher sein Gehirn immer mehr zu verkleben drohte.

»State Of Doom« nannte er jene bittere Verzweiflung, die klare Gedanken so überaus effektiv vereiteln konnte; leider hatte er sich in diesem »State« schon öfters befunden, fast fühlte er sich darin zu Hause. Wie sollte er nun weitergehen, sein dritter Versuch eines Erwachsenenlebens? Stephen nährte den unangenehmen Verdacht, dass dieses letzte Bonusleben noch weitaus schwieriger auszufallen drohte als seine Vorgänger. Was schon so begann – wie würde das wohl enden?

Er hatte in seinem Schockzustand gar nicht bemerkt, dass jemand ihm heimlich folgte.

* * *

Die junge Frau, die Stephen in einigem Abstand verfolgte, wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ihren Halbbruder schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen und er wirkte gerade so sehr in seine düsteren Gedanken versunken, dass sie ihn eigentlich gar nicht stören wollte. Andererseits hatte sie ihn von jeher gut leiden können, er zählte zu den sehr erträglichen Teilen ihrer merkwürdigen Familie. Was längst nicht für alle Mitglieder galt.

Sie sah auf die Uhr. Verflixt, schon in einer Stunde würde sie ihren kleinen Sohn bei der Nachbarin abholen müssen! Versprochen ist versprochen. Also blieb nichts anderes übrig. Sie ging schneller, um Stephen einzuholen. Dieser war inzwischen am Elbuferweg angekommen und blieb kurz stehen, um auf die Elbe hinaus zu sehen und tief Luft zu holen. Dann setzte er sich auf eine Bank, stützte seinen Kopf in beide Hände, als wiege er eine Tonne. Jetzt oder nie!

»Hey, Stevie! Entschuldige bitte, dass ich dich hier so einfach überfalle – aber vorhin warst du viel zu belagert, um in Ruhe mit dir sprechen zu können. Ich hoffe, du erkennst mich noch. Ich bin es, Belinda!«

Stephen hob den Kopf, sah seiner Halbschwester aus Vaters erster Ehe ungläubig ins Gesicht. »Belinda? He, ich dachte, du seist in Amerika drüben? Bist du vielleicht extra wegen der Beerdigung über den großen Teich eingeflogen?«

Belindas Gesicht verdüsterte sich. »Nein, ich habe nur eine Zeit lang drüben gewohnt. Bis mich dieser … dieser … abserviert hat. Du weißt, der Vater von Dennis. Dann stand ich plötzlich mit dem Kind alleine da, ohne Job und ohne alles. Mein lieber Herr Lebensgefährte hat sich abgesetzt, einfach so« – sie vollführte eine entsprechende Handbewegung – »wie das Würstchen vom Kraut! Na, und da es in USA kein Melderecht wie in Deutschland gibt, war er eben einfach nicht mehr auffindbar. Fort, weg, verschwunden. Ich weiß ja, ihr hattet mich gewarnt. Doch ich wollte damals vor lauter Verliebtheit nicht sehen, was das von Anfang an für ein verantwortungsloser Volldepp gewesen ist«, erzählte Belinda in ihrer erfrischenden, wenn auch etwas schnoddrigen Art.

»Ach so? Das hat mir niemand erzählt. Ich dachte nur, dass du noch drüben bist, weil ich dich nirgends mehr getroffen habe, auf keinem der üblichen Familientreffen. Da hatte ich dich jedes Mal schmerzlich vermisst, ohne dich waren diese Events ganz schön langweilig. Du kannst dich sicher erinnern, oder?«

Jetzt gelang Stephen sogar ein verhaltenes Lächeln. Er mochte Belinda und war froh, dass genau sie es war, die ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt von seiner damaligen Frau scheiden lassen und drei Jahre später seine Sekretärin geheiratet, seine eigene Mutter Kirstie. Acht Monate nach der Hochzeit brachte diese ihn, Stephen, zur Welt. Also musste Belinda heute 28 Jahre alt sein. Vater hatte sich leider nie für die verlassene Tochter interessiert und in der logischen Folge diese auch nicht für ihn.

Belinda erriet seine Gedanken. »Ich hing nicht sehr an dem Alten, wie du dir vorstellen kannst! Der war auch nicht gerade ein Muster an Fürsorge, außer einem monatlichen Geldbetrag haben ich oder meine Mutter nach der Trennung von ihm nichts mehr zu erwarten gehabt. Ach, Schwamm drüber. Heute wollte ich im Grunde nur sicher gehen, dass er seine gerechte Strafe erhalten hat! Wie meine liebe Familie über mich hergezogen ist, als ich Dennis erwartete, ist dir sicher noch im Gedächtnis. Dich und deine Mutter mal ausgenommen.«

»Ja, leider. Aber das ist jetzt alles Schnee von gestern. Gut siehst du aus, wie geht es dir denn?« Stephen musterte seine Halbschwester und stellte fest, dass sie genauso hübsch wie früher aussah. Er musste an Lena denken, seine andere Halbschwester mit dem rotblonden Haar. Schon fühlte er wieder die Stiche in der Herzgegend, die ihm leider vertraut waren. Er konzentrierte sich schnell wieder auf Belinda, bevor ihn die traurigen Gedanken an Lena allzu sehr übermannen konnten.

Belinda sah Lena entfernt ähnlich. Beide hatten Vaters Augenfarbe und die Form der Nase geerbt. Während sich in Lenas Blond viele rote Farbreflexe mischten, war Belindas Haar von einem hellen, warmen Goldton. Auch sie trug es lang, beide Frauen waren in etwa gleich groß und von ähnlicher Statur. Trotzdem mutete Belindas Erscheinung etwas derber, grober an. Vielleicht lag das an ihren Bewegungen, die nicht ganz so gemessen und feenhaft wirkten wie Lenas; Belinda gestikulierte gerne wild, um ihre Worte zu untermalen. Sie musste ja auch mit beiden Beinen fest im Leben stehen, schon wegen ihres kleinen Sohnes, da blieb vermutlich nicht viel Zeit für Träumereien.

»Mir geht es ganz gut. Dennis macht mir Freude, andererseits hindert er mich natürlich auch daran, auszugehen und Leute kennen zu lernen. Na ja, er ist jetzt Vier und wird auch größer, dann wird das bestimmt besser werden. Apropos Dennis – ich glaube, ich muss dann! War schön, dich wieder mal zu treffen.« Belinda drückte seine Schulter und wollte eilig davongehen.

»Warte mal, ich begleite dich zurück. Hast du ein Auto dabei, wo wohnst du denn eigentlich?« Plötzlich hatte Steve Angst vor dem Alleinsein, vor der Wiederkehr in seine arg belastete Gedankenwelt.

»Klar besitze ich ein Auto, das parkt bei eurem Haus gleich um die Ecke. Damit es den feinen Herrschaften nicht peinlich sein musste, mit welch einer alten Schüssel ich hier ankomme. Ich wohne aber nicht in Hamburg, sondern drüben in Cuxhaven«, verriet Belinda grinsend.

Cuxhaven! Wie Lena! Stephen war beim neuerlichen Gedanken an Lena wie elektrisiert, ohne sich das anmerken zu lassen. Im Plauderton meinte er: »Das ist ja nicht völlig aus der Welt. Wir könnten uns doch demnächst mal treffen, wenn du magst. Ich habe meinen Neffen schließlich noch nie gesehen und möchte den jungen Mann endlich kennen lernen«, schmunzelte Stephen, während er seine Halbschwester zum Auto begleitete. Belinda freute sich tierisch und die beiden tauschten eifrig ihre Telefonnummern aus.

»Bis bald!« Belinda stieg in ihren alten, grünen Peugeot 206 und brauste davon. Es fuhr einen heißen Reifen, das Schwesterchen. Ihr Temperament erinnerte eher an die Spanierin Yolanda als an die sanfte Lena.

Yoli … bestimmt war sie jetzt im Jahre 2004 noch/wieder am Leben, je nachdem, wie man es betrachtete. Dieser Gedanke freute Stephen, denn die Schuldgefühle wegen ihres Todes hatten ihn im vorigen Leben nie komplett verlassen. Schließlich war sie mit SEINER Harley verunglückt. Oder vielmehr würde ihr dieses Unglück erst noch passieren, schon im nächsten Jahr. Jedoch nur, falls er wieder nach Spanien auswandern und sich nicht von ihr fernhalten würde. Aber musste er denn unbedingt wieder nach Spanien gehen? Der ursächliche Streit mit seinem Vater jedenfalls würde nach Lage der Dinge todsicher ausfallen.

Nachdenklich blieb Steve noch ein paar Minuten auf demselben Fleck stehen. Er könnte ja Belinda besuchen, sich dabei in Cuxhaven etwas umsehen und vielleicht würde er, ob Zufall oder nicht, hierbei Lena treffen und einen ersten neuen Grundstein legen können …

Ihm war nicht bewusst, auf welche ihm bislang unbekannten Äste Yggdrasils er soeben im Begriff war abzubiegen.

* * *

Kirstie saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, wühlte sich seit Stunden entnervt durch riesige Stapel von Papieren. Um sie herum standen Dutzende von Aktenordnern, doch keiner davon schien das Gesuchte zu enthalten. Stephen lugte ins Zimmer, wollte seine Mutter mit einem Kaffee aus ihrer Grübelei retten.

»Du kommst gerade recht«, seufzte sie resigniert. »Ich muss dich unbedingt etwas fragen, auch wenn ich weiß, wie wenig du aus nachvollziehbaren Gründen mit Vater kommuniziert hast. Aber ich kann bestimmte Dokumente einfach nicht finden, vielleicht hat er ja trotzdem dir etwas darüber verraten!«

Stephen konnte sich durchaus denken, was sie suchte. »Jetzt komm erst mal mit hinunter, wir trinken auf der Terrasse einen Kaffee. Ich glaube, mir sind da einige Zusammenhänge klarer als dir. Zwar kann ich dir schlecht erklären warum – doch ich habe Vater im Laufe der Zeit besser kennen gelernt, als du denkst.«

Natürlich hatte er das; schließlich musste er gleich zwei Erwachsenenleben mit Thomas McLaman verbringen, das zweite sogar wegen der intensiven Zusammenarbeit bei der LAMANTEC AG ziemlich auf Tuchfühlung. Doch das konnte er seiner Mutter SO nicht erzählen, auf keinen Fall.

Mutter und Sohn nahmen auf der Terrasse neben dem Pool Platz. Stephen liebte diese Stelle ganz besonders, denn ein namhafter Gartendesigner hatte vor einigen Jahren begeistert seine spontane Idee aufgegriffen und eine kleine Wasserkaskade geschaffen. Die ergoss ihr Wasser nun gurgelnd und glucksend wie ein Bach in einen kleinen Teich, der optisch nur durch ein dekoratives Bruchstein-Mäuerchen von der geschwungenen Silhouette des Schwimmbeckens getrennt war.

Schweigend genossen beide ihren heißen Kaffee, jeder für sich in Gedanken versunken. Dann klärte Stephen seine Mutter schweren Herzens auf.

 

»Es gibt kein Testament und auch keine Lebensversicherung, Mama. Du brauchst gar nicht weiter danach zu suchen. Vater war halt so – nach ihm die Sintflut. Er war ein Mensch, der auch nie ernsthaft ins Kalkül gezogen hätte, vorzeitig abzuleben. Es durfte ohnehin keinerlei Umstände geben, die er nicht selbst kontrollieren konnte. Nicht einmal den Tod. Tut mir leid, aber ich glaube, wir müssen ohne solche hilfreichen Verfügungen zu Recht kommen.«

Kirstie starrte ihn erschrocken an. »Wie kannst du das wissen? Selbstverständlich kenne ich seine Denkweisen … aber dass er so weit gehen konnte?« Sie blickte ungläubig drein, sträubte sich innerlich gegen die bittere Erkenntnis, dass es ihrem verstorbenen Mann tatsächlich egal gewesen sein könnte, wie sie nach seinem Tod in finanzieller Hinsicht überleben würde.

»Ich bin mir ziemlich sicher, aber durchsuche ruhig weiter seine Unterlagen, wenn du mir nicht glaubst. Rufe zur Sicherheit seinen Anwalt an, falls er bei diesem oder einem Notar Verfügungen hinterlassen hat. Aber ich würde mich an deiner Stelle von vornherein damit abfinden, dass diese Bemühungen höchstwahrscheinlich vergeblich sein werden. Das hält hinterher wenigstens die Enttäuschung in Grenzen.«

Als Stephen registrierte, wie schockiert seine Mutter auf ihre Fingernägel starrte, taten ihm seine allzu nüchternen Ausführungen leid; er stand auf, legte ihr die Arme um die Schultern und sagte in weitaus einfühlsamerem Ton: »Wie dem auch sei – du bist nicht allein, schließlich hast du noch mich! Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Zum Beispiel kann ich in der Firma nach dem Rechten sehen, deren Leitung an Vaters Stelle übernehmen und die existierenden Projekte fortführen, das wird mir eine Ehre sein. Du wirst sehen, ich bringe die LAMANTEC AG eines Tages ganz groß raus!«

Jetzt sah Kirstie drein, als sei er Münchhausen persönlich, der gerade üble Lügengeschichten erzählt. »Stevie, sei mir bitte nicht böse, aber du hast dich noch nie für die Firma deines Vaters interessiert, ganz im Gegenteil! Was ihn übrigens sehr enttäuscht hat, doch das ist dir bekannt. Dir fehlt es an sämtlichen Kenntnissen über dieses Imperium, genau wie mir auch. Also, entweder Simon bekommt das in Kürze auf die Reihe, oder wir müssen uns zurückziehen und unsere Anteile verkaufen!«

»Simon? Wieso Simon?« Stephen kramte in seiner Gehirnschublade. Ach, genau! Siedend heiß fiel es ihm wieder ein. Anders als in seinem zweiten, parallelen Leben gab es Simon Jansen im ersten Leben als seinen Vorgesetzten und er selbst war nur ein ihm unterstellter Programmierer gewesen, der weisungsgebunden arbeitete. Aber hatte Simon überhaupt 2004 schon eine Anstellung bei der LAMANTEC inne gehabt?

Kirstie stöhnte. »Stimmt, du weißt es ja noch gar nicht! Vater wollte nächste Woche mit dir reden und befürchtete schon im Vorfeld, dass du dich mit ihm anlegen würdest. Genauer gesagt rechnete er fest mit deiner Absage. Also, zur Verdeutlichung: dein Vater wollte dich einstellen. Er hatte gemeint, dass du gefälligst dein Potential in das einstige Familienunternehmen einbringen sollst, anstatt mit deinen Programmen konkurrierende Firmen reich zu machen. Aber er kannte natürlich auch deine Einstellung zu allem, was mit seiner Person zu tun hatte. Insbesondere dein Problem, dich ihm bedingungslos unterzuordnen. Von der Pike auf hättest du dich in der Firma hocharbeiten sollen und gerade deshalb rechnete er nicht ernsthaft mit deinem Einverständnis. Aus diesem Grund sagte er diesem Simon gegen meinen Widerstand schon mal unter Vorbehalt zu, auch wenn die Verträge noch nicht unterzeichnet sind. Tut mir leid, aber haargenau so war das!« Himmel noch mal, genau dieses Gespräch mit Vater war einst dafür verantwortlich gewesen, dass er nach Spanien auswanderte! Nur mit seiner Harley, den Klamotten auf seinem Leib und dem Notebook. Viel mehr hatte nicht in den Rucksack gepasst, den er in sein neues Heimatland mitnahm. Doch dieses Mal hatte Vater sich vorzeitig ins Nirwana verfügt, dieses emotionsgeladene Gespräch würde nicht mehr stattfinden können.

Er sah seiner Mutter fest in die Augen. »Simon ist recht gut und ein netter Kerl obendrein. Aber er ist nicht innovativ genug, nicht wirklich brillant. Da die Verträge noch nicht unterzeichnet sind, können wir ihn immer noch als gewöhnlichen Programmierer ohne Aufstiegsoption einstellen, meinetwegen auch zur Koordination der einzelnen Programmbestandteile bei den Projekten. Aber die Leitung des Unternehmens und den Überblick darüber möchte ich mir selbst vorbehalten! Bitte vertrau mir; ich bin sicher, dass die Firma nahtlos weiterlaufen sowie sogar ihren Umsatz steigern wird.«

Kirstie war schlichtweg baff. »Du kennst Simon? Woher hast du denn Informationen über seine Qualifikation? Und wieso glaubst du, dass du die Firma im Griff hättest? Du weißt, wir haben einen Aufsichtsrat. Das ist eine Schlangengrube, vielen war Thomas schon lange ein Dorn im Auge, sie kamen nur nicht gegen ihn an. Wie könntest DU dich da behaupten?«

Wie sollte er seiner Mutter nun das wieder erklären, ohne ausgiebig über seine Erfahrungen aus den Vorleben berichten zu müssen?

Er verfügte als Programmierer über mindestens 60 Jahre Berufserfahrung aus zwei Karrieren und obendrein über Kenntnisse, die Innovationen bis 2029 beinhalteten. Im letzten Leben hatte er sich sogar die Firmenleitung mit Vater geteilt, dieser war für Finanzen und PR zuständig gewesen, er selbst für die technische Seite der Medaille. Simon war beim ersten Mal sein Chef gewesen, beim zweiten Mal ein einfacher Programmierer.

In nur scheinbar gelassenem Ton bat Stephen daher Kirstie: »Lass uns das in Ruhe angehen, Mama. Morgen gehe ich erst einmal ins Büro, die Lage checken. Ich schau mal, ob ich die Kombination für den Safe herausbekomme, da drin sind die Quellcodes und die wichtigsten Papiere aufbewahrt. Ich unterhalte mich zunächst mit Vaters Sekretärin, die wird hoffentlich auch so einiges wissen. Danach sehen wir weiter, okay? Vielleicht kann ich durch Kompetenz überzeugen.«

Kirstie stimmte halbherzig zu, was sollte sie auch anderes tun? Allerdings machte sie sich schon ein paar Sorgen, als sie ihren Sohn beobachtete, wie er zurück ins Haus schlenderte. Sah er wie ein angehender Firmenchef aus, wie ein Aufsichtsratsvorsitzender? Eindeutig nein.

* * *

An diesem ersten Tag seines dritten Lebens ereilte Stephen die zweifelhafte Freude, im Zimmer seiner Jugendzeit zu Bett gehen zu dürfen. Es fühlte sich seltsam an, von heute auf morgen wieder jung zu sein, genauer gesagt 25 Jahre jünger als zum Zeitpunkt seiner Erschießung auf dem Hamburger Flughafen.

Tagsüber hatten sich die turbulenten Ereignisse überschlagen, er war jeweils nur aus aktuellen Situationen heraus zum Nachdenken und Handeln gezwungen gewesen. Erst dieses makabre TrauerEvent nach Vaters Beerdigung, dann das Wiedersehen mit Belinda

… bislang hatte er sich weder ausreichend mit sich selbst, noch mit seiner neuen Situation befassen können. Geschweige denn mit der Frage, welche grobe Planung er für den Beginn seiner neuen und allerletzten Chance als am sinnvollsten erachtete. Nicht dass er womöglich gleich wieder seine Weichen in die falsche Richtung stellte.

Stephens Blick fiel auf seine CD-Sammlung, die reichlich chaotisch geordnet auf dem Regal neben seinem Bett residierte. Spontan griff er nach einer Scheibe von AC/DC, ließ den Song »Highway To Hell« abspielen; der dünkte ihm irgendwie passend. Als er nun hellwach auf seinem, nach wie vor, unordentlichen Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, wurde ihm langsam die Tragweite der vielen Geschehnisse des heutigen Tages bewusst. So kurz erst war er im Leben zurück; und so viel hatte sich schon verändert, ohne dass er irgendetwas davon hätte maßgeblich beeinflussen können.