Haus der Hüterin: Band 10 - Die Wächterin

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From the series: Haus der Hüterin #10
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Als hätten Rylees Gedanken sie herbeigerufen, erschien Maj im Türrahmen. „Wir brauchen verschiedene Waren“, sagte sie fast entschuldigend. „Übermorgen kommt die Gruppe für die Tagung an. Sie haben ein Buffet bestellt, und ich würde gerne schon einiges vorbereiten.“

„Ja sicher“, sagte Rylee und stand auf. „Bekommst du alles hier im Dorf?“, fragte sie.

„Das meiste“, bestätigte Maj. „Ich habe auch eine Liste von Dingen gemacht, die wir online bestellen können, aber etliches brauche ich schneller.“ Sie sah unsicher zu Rylee. „Es tut mir leid, dass ich nicht besser geplant habe. Im Dorfladen ist es sicher teurer.“

„Aber das macht doch nichts“, beruhigte Rylee sie. „Warte.“ Sie setzte sich wieder. „Ich wollte das schon die ganze Zeit machen.“ Sie erstellte einen Account im Großmarkt, bei dem sie, seit die Zahl der Gäste so stark zugenommen hatte, online bestellte und verknüpfte ihn mit einem Bankkonto. „So, jetzt kannst du selbstständig bestellen, was du brauchst. Vielmehr was wir brauchen.“

Maj war knallrot geworden. „Danke Rylee. Für dein Vertrauen, meine ich.“

Verlegen winkte Rylee ab. „Ich bestelle dir auch eine Bankkarte, mit der du im Dorfladen einkaufen kannst. Heute musst du aber noch einmal Bargeld mitnehmen.“

Sie gingen gemeinsam nach oben und Rylee holte Geld aus ihrem Zimmer. Als sie nach unten kam, zogen draußen dunkle Wolken auf. „Willst du wirklich bei diesem Wetter los? Es ist schon fast Abend. Soll ich dir ein Taxi rufen?“

„Aber nein, ich laufe gerne“, erklärte die Tabatai. „Und es macht mir gar nichts aus, nass zu werden.“

„Nimm aber Boh mit“, wies Rylee sie an. „Ich weiß, dass du gut auf dich aufpassen kannst, trotzdem fühle ich mich besser, wenn du nicht alleine unterwegs bist. Schließlich bist du noch nicht lange auf der Erde.“ Wie aufs Stichwort tauchte der Kater neben ihnen auf und strich Rylee ums Bein.

Maj nickte. „Vieles ist mir noch fremd“, gestand sie. „Ich wäre geehrt, wenn Herr Boh mich begleiten würde.“

„Herr ...?“ Rylee starrte sie an. Dann lächelte sie. „Boh ist der Wächter dieses Hauses, ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, ihn mit Herr anzusprechen.“

Boh brummte ungehalten, lief zu Maj und rieb sich an ihrem Bein.

„Herr Boh mag dich“, stellte Rylee lächelnd fest. „Bis nachher.“

Als sich beide auf den Weg gemacht hatten, setzte Rylee sich noch einmal an den Schreibtisch. Irgendwie konnte sie sich jedoch nicht konzentrieren. Immer wieder sah sie zur Tür und blickte auf die Uhr. Auch im Haus knackte es, als ob es unruhig wäre, und auch der Lebende Baum sandte nicht so viel Harmonie aus wie sonst.

Endlich stand sie auf, ging nach oben ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster. Es hatte angefangen, leise zu nieseln. Sie überlegte, ob sie Maj mit einem Schirm entgegen gehen sollte. Doch sie wusste genug aus Majs unglücklicher Vergangenheit, um zu wissen, dass die Tabatai Schlimmeres gewohnt war, als ein bisschen Regen.

Endlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog sich eine Regenjacke an, bat das Haus, niemanden herein zu lassen, und machte sich auf den Weg. Es war fast dunkel und weiter vorne im Ort sprangen in diesem Moment die Straßenlaternen an.

Erleichtert sah sie, dass Maj und Boh gerade den erleuchteten Bereich verließen und in ihre Richtung kamen. Sie beschleunigte ihren Schritt und hatte sie fast erreicht, als die Hölle losbrach. Eine Gestalt sprang aus dem Gebüsch neben der Straße und stürzte sich auf die beiden. Kampfgeräusche erklangen, Boh schrie wütend und Rylee rannte los. Je mehr sie sich vom Haus entfernte, desto schwächer wurde die Verbindung und damit ihre Kraft. Im Laufen öffnete sie den Äther und zog ihr Messer heraus.

Doch als sie näher kam, sah sie, dass Maj die Sache im Griff hatte. Sie hatte ihre Kampfform angenommen und sich in einer Gestalt, die auf dem Boden lag, verbissen. Neben ihr verteilten sich Waren aus einem umgestürzten Einkaufskorb. Aus einem Bündel ertönte lautes Fauchen und Kreischen. Rylee stürzte hinzu, kniete sich auf den Gefangenen und hielt ihm das Messer an die Kehle. Sie stutzte. Im Mondlicht konnte sie wenig Einzelheiten erkennen, doch der Eindringling hatte mehr Arme, als es für einen Menschen üblich war. Er leistete kaum Widerstand.

Maj löste sich und stand auf. „Lasst mich ihn halten, Herrin“, sagte sie undeutlich durch die langen Fangzähne.

Rylee nickte, stopfte das Messer zurück in den Äther, und wartete, bis Maj das Wesen in einem festen Griff hatte. Dann sah sie sich endlich nach dem Bündel um.

„Boh“, rief sie besorgt und versuchte, das metallisch glänzende Netz zu öffnen.

„Ein Glopsch“, erklärte Maj mit Verachtung in der Stimme. „Das Netz ist magisch. Er muss es öffnen.“ Sie schüttelte ihn heftig. „Los! Lass Boh sofort frei!“

Die Gestalt zitterte und wimmerte, schien Maj damit jedoch wenig zu beeindrucken. Sie zog eine ihrer Krallen über die Stelle, an der Rylee den Hals vermutete. „Mach schon!“

Das Netz fiel auseinander. Boh sprang heraus, machte einen Buckel und fauchte. Dann verwandelte er sich in einen Tiger und ging ganz langsam und geduckt auf ihren Gefangenen zu.

„Boh“, mahnte Rylee. „Du hast zwar jedes Recht, dich zu rächen, aber nicht hier, wo jeden Moment ein Mensch auftauchen kann. Außerdem möchte ich erst wissen, was hier eigentlich los ist. Bring ihn zum Haus, bevor jemand etwas mitbekommt, Maj!“

Die Tabatai, die Rylee nicht mal bis zur Schulter reichte, schnappte ihren Gefangenen, als wöge er nichts und trug ihn im Laufschritt zum Haus. Im Wohnzimmer ließ sie ihn fallen wie einen Stein.

Hier im Licht konnte Rylee endlich sehen, wen oder was sie da eigentlich überwältigt hatten.

Das Wesen war vielleicht einen Meter fünfzig groß und giftgrün. Unter einer Art rundlichem Kopf befand sich ein schmaler Körper, von dem unzählige Tentakel abzugehen schienen. Zwei davon waren dicker als die anderen und dienten offensichtlich zum aufrechten Laufen.

„Was hattest du mit Boh vor?“, fragte Rylee wütend.

Das Wesen antwortete nicht, sondern bibberte nur und schaute sie aus großen pupillenlosen Augen starr an.

Stattdessen antwortete Maj. „Niemand weiß, woher Glopschs kommen. Sie sind die Pest des Universums. Wie sagt man hier auf der Erde? Sie klauen wie die Raben. Man kann sie engagieren, wenn man etwas stehlen lassen will. Sie haben eine Art Glamour, der ihnen erlaubt, für eine gewisse Zeit eine andere Gestalt vorzutäuschen. So ist er hier herein gekommen. Er ist die dicke Frau gewesen! Wahrscheinlich wollte er das Haus ausspionieren.“ Ihr Gesicht zeigte Abscheu. Da sie selbst eine entehrte Sklavin war und von den meisten Völkern verachtet wurde, konnte Rylee erahnen, wie groß ihre Abneigung gegen den – wie hatte sie ihn genannt – Glopsch sein musste, um sie so offen zu zeigen.

„Aber warum wollte er Boh entführen?“, wollte Rylee wissen. Boh, der noch immer seine Tigergestalt innehatte, grollte tief. „Und was hat es mit diesem magischen Netz auf sich?“

„Es hat verhindert, dass Boh seine Gestalt wechseln oder sonstige Magie einsetzen kann. Sie sind sehr selten und sehr teuer“, erklärte Maj.

„Ich werde die AAFEE anrufen und ihnen diesen Glupsch oder Glopsch überstellen“, beschloss Rylee. „Sie werden wissen, was mit ihm zu tun ist.“

„Bitte nicht“, wimmerte das Tentakelwesen.

„Ach“, stellte Rylee fest. „Auf einmal kannst du doch sprechen? Warum sollte ich dich nicht ausliefern?“

„Ich habe doch nur meine Arbeit gemacht“, jammerte es. Sein Mund sah aus wie der Schnabel eines Kraken.

„Sag mir, wohin du Boh bringen wolltest!“

Maj schüttelte ihn, als er nicht gleich antwortete.

„Ich ... ich“, stotterte er mit klappernden ... Zähnen, oder was? Rylee war sich nicht sicher, ob er Zähne hatte oder ob es sein schnabelartiger Mund war, der die klackernden Geräusche produzierte.

„Ich sollte ihn zu einem Raumschiff in der Nähe bringen. Wozu weiß ich nicht. Ich habe auf Aldibaran den Auftrag bekommen und wurde hier abgesetzt.“

„Was für ein Raumschiff?“, fragte sie scharf.

„Ein Kleines. Mit nur zwei Mann Besatzung. Sie sahen wie Menschen aus. Mehr weiß ich nicht.“

Rylee holte ihr Handy von der Anrichte, wo sie es vergessen hatte, und rief Oberst Müller an. Er war ihr Ansprechpartner bei der AAFEE, dem Auswärtigen Amt für extraterrestische Einreisen. Nach einem eher holprigen Start hatten sowohl Rylee als auch der Oberst erkannt, dass ihre Zusammenarbeit für beide Seiten von Nutzen sein konnte, und dass sie manchmal sogar aufeinander angewiesen waren.

Der Oberst ging nicht ans Telefon, was Rylee im Hinblick auf die nachtschlafende Uhrzeit auch nicht erwartet hatte. Stattdessen meldete sich die gelangweilte Stimme des Soldaten, der heute zum Nachtdienst eingeteilt war.

Als sie sich mit Namen vorstellte, wurde er hellwach. „Wie kann ich Ihnen helfen, Hüterin Montgelas?“

Sie schilderte ihm die Vorkommnisse. „Vielleicht können Sie sich um das Raumschiff, das in der Nähe wartet, kümmern. Und kann ich Ihnen diesen Glupsch, Glopsch oder wie auch immer übergeben? Ich weiß nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll, und freilassen möchte ich ihn auch nicht.“

„Ich werde sofort jemanden schicken und auch Oberst Müller informieren. Sind Sie in Gefahr?“

„Nein, wir sind sicher“, beruhigte ihn Rylee. „Ich warte dann auf Ihre Leute.“

Stattdessen stand kaum zwanzig Minuten später der Oberst höchstpersönlich mit zwei Begleitern vor ihrer Tür. Verwundert überlegte Rylee, ob er auf dem in der Nähe gelegenen Flughafen, wo die AAFEE stationiert war, wohnte oder gar irgendwo in einem Ort in ihrer Nähe. Beim Angriff der Fremden vor wenigen Tagen war sie für die Unterstützung der AAFEE dankbar gewesen. Im Allgemeinen war sie jedoch froh, so wenig wie möglich Kontakt zu ihnen zu haben.

 

Sie brachte ihn zu ihrem Gefangenen, den Maj in eines der leeren Zimmer gesperrt hatte. Der Oberst musterte ihn kurz und ließ ihn dann abführen. Als er außer Hörweite war, wandte er sich an Rylee. „Haben Sie eine Idee, was das Wesen wollte? Sie sagen, es wollte Ihre Katze mitnehmen?“

Boh grollte leise und Rylee warf ihm einen mahnenden Blick zu. „Boh ist mehr als eine Katze. Er ist der magische Wächter dieses Hauses. Und ich habe keine Ahnung, warum jemand ihn entführen sollte.“

Sie erinnerte sich an das erste Mal, als Boh verschleppt und verletzt worden war. Aber die Person, die damals verantwortlich war, lebte nicht mehr.

Müller schüttelte den Kopf. Bevor er etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Er meldete sich und fluchte wütend. „Das Raumschiff ist weg“, erklärte er, als er aufgelegt hatte. „Verdammter Mist.“

„Wie konnten sie wissen, dass wir den Glopsch gefangen haben?“, fragte Rylee.

„Vielleicht gab es ein Zeitlimit, bis zu dem sie auf ihn gewartet haben. Was weiß denn ich“, knurrte er, sichtlich verärgert. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens erklärte er: „Ich lasse es Sie wissen, wenn wir etwas aus dem Eindringling herausbekommen haben. Wobei ich ihn bald wieder auf freien Fuß setzen muss. Versuchter Katzendiebstahl rechtfertigt keine dauerhafte Festnahme. Allenfalls eine Ausweisung. Ja, ich weiß!“, er hob abwehrend die Hand. „Er ist Ihr Wächter. Im Strafgesetzbuch gibt es aber keine Katzenwächter. Auch im interstellaren Recht nicht, soviel ich weiß. Wobei ich mich, glaube ich, nie mit den ganzen planetarischen Gesetzen auskennen werde. Soll ich zur Sicherheit einen meiner Männer hier lassen?“

„Nein“, antwortete Rylee rasch. Das fehlte ihr noch. „Wie Sie sehen, sind wir sehr gut alleine zurechtgekommen.“

Wortlos ging der Oberst. Rylee seufzte und rieb sich die Augen. Was für ein Morgen. Warum wollte jemand Boh entführen? Wenn derjenige sich mit Wächterkatzen auskannte, musste er wissen, dass das Haus und sie selbst den Werkater mit allem, was sie hatten, verteidigen würden. Natürlich hatte der Glopsch, oder hieß er doch Glupsch?, ihn deshalb außerhalb angegriffen. Im Gegensatz zu ihr hatte Boh aber auch in einiger Entfernung zum Haus noch magische Kräfte. Nur mithilfe dieses Netzes war es ihnen überhaupt gelungen, ihn zu überwältigen.

Boh brummte leise, als könne er ihre Gedanken hören, was vermutlich sogar der Wahrheit entsprach. Rylee bückte sich und streichelte ihn. „Du wirst jetzt vorsichtig sein, ja?“, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. Sie fühlte sich in letzter Zeit dauernd erschöpft. Genauer gesagt, seit Vlad ...

„Ich mache uns etwas zu essen“, unterbrach Maj den Gedankengang und verschwand Richtung Küche.

Eine Viertelstunde später saß Rylee müde am Tisch und schaufelte Rührei in sich hinein. Boh lag auf einem Stuhl neben ihr, als fühlte er, dass sie ihn jetzt in ihrer Nähe haben musste.

„Was liegt morgen an?“, fragte sie Maj, die inzwischen einen großen Teil der Planung übernommen hatte.

„Morgen muss ich mich hauptsächlich um die Planung für die Tagung kümmern.“

„Ach ja“, antwortete Rylee und schob sich noch eine Gabel in den Mund. „Köstlich“, bemerkte sie, bevor sie weitersprach. „Müssen wir noch etwas vorbereiten? Es waren fünfzehn Teilnehmer, wenn ich mich recht erinnere?“

„Ja“, bestätigte Maj. „Die Veranstalterin kommt schon morgen im Lauf des Tages, die anderen erst übermorgen früh. Die Zimmer sind alle fertig und die Lebensmittel habe ich größtenteils gestern noch bestellt. Ich werde ein kleines Buffet machen. Die Teilnehmer kommen von unterschiedlichen Planeten und haben ganz unterschiedliche Nahrungsansprüche, aber es ist nichts dabei, das wir nicht besorgen können.“

„Das Dessertbild sollte dabei helfen“, sagte Rylee lächelnd. Zimmermann hatte ihr einen Nachtisch geschenkt, der für jeden den Geschmack annahm, den er sich wünschte. Es war von unschätzbarem Wert und ersparte ihnen viel Arbeit.

Maj nickte ernst. „Ein Nachtisch versöhnt mit vielem, was nicht ganz perfekt ist. Ich habe nicht ganz verstanden, was für eine Art von Tagung sie hier durchführen?“

Rylee hob die Schultern. „Das weiß ich auch nicht genau. Ehrlich gesagt, habe ich auch nicht nachgefragt. Sie haben eine Menge Geld geboten und wir haben den Platz.“

Maj nickte, Rylee sah ihr jedoch an, dass ihr die Antwort nicht behagte. „Was ist?“, fragte sie.

Verlegen wandte sich Maj ihr zu. „Der Vorfall hat mich misstrauisch gemacht. Es scheint mir zu leicht möglich, sich ins Haus zu schleichen. Bitte vergebt mir“, fügte sie schnell hinzu.

Rylee überlegte einen Moment. „Du hast in gewisser Hinsicht recht“, antwortete sie langsam, „wir werden es nicht vollständig verhindern können, dass jemand in einer Verkleidung oder unter falschem Namen ins Haus kommt. Aber wenn er den Eid geleistet hat, sollte er weder uns noch dem Haus oder dem Baum oder einem der anderen Gäste schaden können.“

„Aber nichts verhindert, dass uns jemand ausspioniert. Wie es der Glopsch getan hat.“

Rylee nickte widerstrebend. „Stimmt!“, bestätigte sie. „Aber was könnten wir dagegen tun?“

Maj blieb ihr eine Antwort schuldig. Rylee wartete kurz, wünschte ihr dann eine gute Nacht und ging, gefolgt von Boh, in ihr Zimmer. Sie war todmüde und fiel, kaum hatte sie sich ausgezogen und die Zähne geputzt, ins Bett. Boh sprang neben sie. Schläfrig horchte sie ins Haus und sandte beruhigende Gedanken aus. Securus Refugium war immer noch aufgebracht, und auch der Baum schien unruhig. Wir müssen einfach noch viel stärker werden, dachte Rylee im wegdösen. Kurz darauf schlief sie tief und fest und träumte von Katzen und Netzen und großen breitschultrigen Vampiren.

Sie wachte auf, als Boh über ihren Bauch kletterte und zu Boden sprang. „Vielen Dank auch“, murrte sie, war insgesamt jedoch erleichtert, dass er noch bei ihr war. „Es wäre mir wirklich lieber, wenn du im Haus bliebest“, erklärte sie ihm. „Vor allem, da wir noch nicht wissen, wer dich einfangen wollte. Vielleicht versuchen sie es noch einmal!“

Boh warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte, was sie mit ihren Ermahnungen machen könne, sprang an der Tür hoch und drückte mit einer Pfote die Klinke herunter. Sie schwang auf, und Rylee zerrte die Decke hoch. „Machst du sie auch hinter dir zu?“, rief sie, sah jedoch nur noch Bohs Schwanz um die Ecke verschwinden. Durch den Türrahmen erblickte sie eine durchsichtige Gestalt. „Phillip?“, sagte sie indigniert.

„Ich habe mich sofort umgedreht!“, kam es flüsternd vom Flur. „Entschuldigt. Ich habe vor der Tür gewacht. Ich werde mich entfernen.“

Rylee starrte ihm sprachlos nach. Dann wickelte sie sich in ihre Decke, stand auf, tapste auf nackten Füßen zur Tür und schloss sie.

Während sie sich anzog, spürte sie eine Anfrage am Portal. Sie hatte etwas Dringliches und war nachdrücklicher als die Anfragen, die üblicherweise eintrafen. Die feinen Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf. Noch während sie sich eine Strickjacke überzog, öffnete sie die Tür und joggte die Treppe hinunter. Auch Securus Refugium schien angespannt und besorgt.

Im Portalraum hastete sie zur Konsole und betrachtete die Anfrage. Sie kam von einer gewissen Nialee. Sie bat um die Erlaubnis, unverzüglich einreisen zu dürfen, und schwor gleichzeitig den Eid. Rylee gab schnell die erforderlichen Daten ein und gab das Portal frei.

Nur wenige Sekunden später taumelte eine junge Frau aus dem Rahmen und wäre beinahe gestürzt, wenn Rylee sie nicht aufgefangen hätte. „Bitte“, hauchte sie kraftlos. „Bitte, bringt mich in den Garten.“

„In den Garten?“, vergewisserte Rylee sich, dass sie richtig gehört hatte.

„Ich muss ... Bäume ... sterbe ...“

„Boh, hol Maj!“, keuchte Rylee und versuchte, die junge Frau zur Tür zu ziehen. Zum Glück war sie zierlich und wog nicht viel. Rylee war dennoch erleichtert, als kurz darauf Maj die Treppe hinunter gerannt kam. „Bring sie in den Garten!“, bat sie und hielt sie am Arm, bis Maj die junge Frau mit Leichtigkeit auf die Arme nahm und nach oben schoss.

Rylee folgte ihnen, so schnell sie konnte. Als sie aus der Küchentür in den Garten hastete, sah sie die Frau am Fuße einer großen Eiche liegen. Obwohl sie dünn und verhärmt aussah, lächelte sie glücklich und fasste nach der rauen Rinde. Maj kniete neben ihr und sah sie besorgt an. Dann wanderte ihr Blick zu Rylee. „Ich glaube, sie ist eine Nymphe, vermutlich eine Baumnymphe.“

Rylee trat näher heran und ging in die Hocke. „Geht es Euch jetzt besser?“, fragte sie.

Die Nymphe versuchte, sich aufzusetzen. „Ja“, sagte sie mit verlegenem Gesichtsausdruck. „Entschuldigt bitte mein Benehmen. Ich bin die Baumnymphe Nialee. Ich werde den Eid befolgen und das Haus und Euch mit meinem Leben schützen.“

Rylee lächelte. „Das ist nett. Aber sagt, was ist mit Euch? Kann ich irgendetwas für Euch tun? Möchtet Ihr etwas essen oder trinken? Euch in einem der Zimmer hinlegen?“

Nialee schüttelte den Kopf. „Alles, was ich brauche, sind die Bäume um mich herum. Ich habe bisher in einem Haus auf dem Planeten Seriolia gelebt, doch es wurde von denen, die Ihr Fremde nennt, angegriffen und zerstört. Der Hüter wurde getötet. Ich habe solange dort ausgehalten, wie es ging, aber die letzten Bäume sind gestern gestorben. Zum Glück konnte ich das stillgelegte Portal reaktivieren.“ Sie sank erschöpft zurück.

Maj und Rylee sahen sich an. „Also wollt Ihr einfach hier draußen bleiben?“

Nialee strich mit der Hand über den Stamm neben ihr. „Ein wundervoller, magischer Garten.“ Sie schloss kurz die Augen. „Ihr habt sogar einen Lebenden Baum! Er ruft mich ...“

Rylee fühlte einen winzigen Stich Eifersucht. „Er ruft Euch?“

Die junge Nymphe setzte sich auf und sah sie entschuldigend an. „Nicht, dass Ihr meint, ich wolle mich mit ihm verbinden. Dazu bin ich viel zu jung. Aber vielleicht darf ich hier bleiben und einen anderen Baum fragen, ob er mich aufnimmt? Ich würde Euch in jeder Hinsicht helfen.“

Rylee starrte sie überrascht an. „Aufnimmt? Ich verstehe nicht.“

Nialee war nun ihrerseits überrascht. Sie betrachtete Rylee, als sähe sie sie zum ersten Mal. „Ihr seid auch jung? Ihr wisst nichts über meine Rasse? Das hier ist nur die Gestalt, die ich annehme, wenn ich reise oder mit anderen kommunizieren will. Normalerweise lebe ich in einem Baum und verbinde mich mit ihm. Er nährt mich und ich ihn. Deshalb wäre ich ohne die Bäume in meiner alten Heimat gestorben. Ich bin noch dazu eine magische Nymphe, das heißt, ich habe mich an das Leben in einem magischen Umfeld angepasst. Meine Familie lebt in neutralen Häusern oder anderen magischen Umgebungen.“

Rylee wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte die junge Frau kaum. Sollte sie ihr erlauben, dauerhaft hier zu leben?

Nialee schien ihren Konflikt zu verstehen. „Bitte, gestattet mir wenigstens, für einige Tage hier zu bleiben, bis ich mich vollständig erholt habe. Wenn Euch der Gedanke, mich dauerhaft aufzunehmen, danach noch unangenehm ist, suche ich ein anderes Haus, zu dem ich weiterreise.“

Rylee nickte. „Das ist doch selbstverständlich. Bitte fühlt Euch wie zu Hause. Ich weiß allerdings nicht recht, was ich jetzt für Euch tun kann.“

Nialee stand mühsam auf. Sie lächelte Rylee strahlend an. „Nichts.“ Dann ging sie langsam, die zartgliedrigen Arme ausgestreckt, zwischen den Bäumen hindurch.

Rylee stand auf und folgte ihr in einigem Abstand. Securus Refugium bebte, mehr interessiert als angespannt. Die Äste der Bäume zitterten und schienen nach Nialee zu greifen. Rylee versuchte, Schwingungen vom Lebenden Baum aufzufangen, nahm jedoch nichts Eindeutiges wahr. Seine Gefühle waren ausnahmsweise nicht auf sie, sondern auf die Baumnymphe ausgerichtet.

Nialee legte den Kopf schief, als lausche sie. „Danke“, sagte sie leise. Sie wandte sich um und sah Rylee verlegen an. „Er hat mich willkommen geheißen und mit den anderen Bäumen gesprochen.“ Plötzlich drehte sie sich um und sah in die Mitte des kleinen Hains. Wie von einer Schnur gezogen, ging sie auf eine schlanke Birke zu und streckte die Hände aus. Ganz kurz zögerte sie, bevor sie nickte und die zierlichen Finger auf die Rinde legte.

Ein letztes Mal drehte sie sich zu Rylee um. „Darf ich?“, flüsterte sie.

Rylee nickte stumm.

Nialee schmiegte sich an den Baum, atmete zitternd ein ... und war verschwunden.

Rylee starrte auf die Stelle, wo sie noch eben gestanden hatte. Boh lief hin und schnüffelte an der Rinde.

 

Die Blätter des Baumes raschelten und ein einzelner Zweig bewegte sich, als wolle er ihr winken. Frieden senkte sich über Rylee, und um sie herum begannen Vögel mit Hunderten Stimmen, die alle einzigartig klangen, zu singen.

Jetzt wandte sich der Lebende Baum an sie und sandte ihr ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit.

Rylee drehte sich zu Maj, die ein Stück hinter ihr gewartet hatte, und lächelte. Zusammen gingen sie zurück ins Haus.

Als sie sich gerade für ein spätes Frühstück an den Tisch setzen wollte, spürte sie jemanden am Tor. Auch Maj sah auf, als es klingelte. „Das ist die Lieferung!“, sagte sie in einem merkwürdigen Tonfall.

Rylee nickte und schnitt sich ein Stück Käse ab. „Brauchst du meine Hilfe?“

„Nein, nein“, sagte Maj rasch und war schon in der Halle verschwunden. Kurz darauf hörte Rylee die Eingangstür ins Schloss fallen.

Als Maj nicht wiederkam, stand sie neugierig auf und ging nach draußen. Auf dem Gartenweg blieb sie wie angewurzelt stehen. Neben dem Gartentor stapelten sich Säcke und Kisten. Aus einer davon meinte Rylee ein Gackern zu hören. Maj drehte sich mit hochrotem Gesicht um, einen Karton in der Hand.

„Du meine Güte“, sagte Rylee „Willst du ein ...“

„... Hotel versorgen?“, vervollständigte Maj den Satz. „Allerdings. Ich möchte auf alles vorbereitet sein. Es werden immer mehr Gäste kommen, und ich fühle mich nicht gut, wenn ich nicht genug im Haus habe, um sie zu verköstigen. Ich habe nicht mehr ausgegeben, als Ihr mir erlaubt habt!“ Sie sah Rylee herausfordernd an.

Rylee ließ den Blick über die Kisten wandern. Majs Blick wurde ängstlich.

Zuletzt sah Rylee sie direkt an. „Wir brauchen eine größere Vorratskammer“, sagte sie endlich. Als wieder ein Gackern erklang, setzte sie hinzu: „Und einen Hühnerstall?“

Zwei Stunden später zeigte sich, dass Maj neben ihren vielen anderen Qualitäten auch handwerklich begabt war. Sie hatte nicht nur Lebensmittel bestellt, sondern auch Pfosten und Hasendraht, um einen provisorischen Hühnerstall zu errichten. Jetzt pickten darin drei fette Hennen nach Würmern und anderem Kleingetier. Eine Bedingung hatte Rylee gestellt: „Ich esse nichts, was ich persönlich kenne!“, hatte sie gesagt und ihr Ton machte klar, dass es keine Ausnahme geben würde. „Eier gerne, aber kein Brathähnchen!“

Die meisten Vorräte hatten in der Kammer neben der Küche Platz gefunden, und Rylee hatte noch einen der leerstehenden Kellerräume zum Lager erklärt.

„Ich würde auch gerne Gemüse anbauen“, erklärte Maj und sah sich im Garten um.

Rylee folgte ihrem Blick. Sie hatte bereits ein Gemüsebeet angelegt, doch in den letzten Monaten war so viel auf sie eingeprasselt, dass es inzwischen fast überwuchert war.

„Du kannst das Haus bitten, dir zu helfen“, erklärte sie. „Es kennt dich und wird verstehen, wenn du ihm erklärst, was du machen möchtest.“

Rylee ging nach drinnen und warf einen Blick ins Wohnzimmer, das sie abgeteilt und dessen eine Hälfte sie zum Tagungsraum umgestaltet hatten. Als die Anfrage kam, hatte sie sich mit dem Haus verbunden und es gebeten, den Raum zu vergrößern. Sie wusste immer noch nicht, wie die Magie der Häuser funktionierte, doch am nächsten Tag war der Raum fast doppelt so groß gewesen und hatte auch mehr Fenster aufgewiesen. Sie war außen ums Haus herum gegangen und hatte es betrachtet. Von dort sah alles aus wie vorher.

Sobald etwas Zeit wäre, würde sie auch für Maj die Vorratskammer vergrößern lassen. Und vielleicht die Zimmer? Ob das Haus auch einen Hühnerstall bauen könnte? Die Hühner brauchten einen Schutzraum, damit sie nicht von Greifvögeln geholt werden würden. Und Nester. Ob sie Namen hatten? Sie würde sie Tick, Trick und Track nennen.

Über sich selbst den Kopf schüttelnd kontrollierte sie den Raum und prüfte, ob genug Schreibmaterialien, Geschirr und Gläser bereitstanden. Alles war perfekt.

Dann ging sie nach oben und warf einen Blick in die Zimmer. Sie hatte viele alte Sachen auf dem Dachboden gefunden und die Zimmer damit ausgestattet. Trotzdem sollte sie vielleicht ein paar moderne Elemente hinzukaufen. Jetzt, wo sie ihre Schulden fast abbezahlt hatte und regelmäßige Einnahmen eingingen, konnte sie sich das eine oder andere leisten.

Vielleicht konnte sie sogar einmal auf Shopping Tour gehen. Mit ... Polly? Sie könnte sie in Hamburg besuchen. Immerhin kannte sie noch fast gar nichts von der Welt. Nur ... Ein eiskalter Stich fuhr ihr durchs Herz, als sie sich an den Abend, den sie mit Vlad in Paris verbracht hatte, erinnerte. Sofort schob sie den Gedanken von sich. Es schmerzte einfach zu sehr.

Sie verließ das Wohnzimmer, als sich ein Gast am Portal anmeldete.

Aus dem Rahmen stieg eine Frau, deren Alter Rylee zuerst auf jenseits der siebzig geschätzt hätte, nur um sich gleich darauf zu korrigieren. Sie war jung, nein mittleren Alters, doch ihre Augen waren .... Ihr Blick fiel auf die ausgestreckte Hand der Frau. Altersflecken, nein eine junge, makellose Hand.

Rylee wurde schwindelig, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien ihr Gast Anfang der fünfzig zu sein und blieb auch so.

Die Frau lächelte freundlich und strich ihr schwarzes, fremdartig geschnittenes Kleid glatt. Um die schmale Taille lag ein Ledergürtel, an dem mindestens zehn kleine Beutel befestigt waren. „Entschuldigt“, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem jetzigen Alter passte. „Aber die Reise durch das Portal bringt mich immer einen kurzen Moment aus dem Konzept. Ist es so besser?“

„Ja, danke“, sagte Rylee und hieß sie willkommen. „Ihr müsst Evanora sein.“ Boh erschien plötzlich neben ihr und rieb sich an ihrem Bein.

Evanora ging graziös in die Hocke und hielt ihm ihre Hand hin. „Und du bist der Wächter“, murmelte sie so leise, dass Rylee sie fast nicht verstand. „Ich spüre Kraft in dir ... und Hingabe.“

Sie richtete sich wieder auf und legte den Kopf schief. „Ein machtvolles Haus, wenn auch noch nicht ganz am Zenit seiner Entwicklung angekommen. Und ich spüre noch andere Kräfte. Draußen ...“ Sie wandte den Blick in Richtung des Gartens.

Rylee überging die Aussage. Schließlich hatte es sich nicht um eine Frage gehandelt. Außerdem kannte sie die Frau nicht und würde ihr sicher nicht alle Geheimnisse verraten.

„Darf ich Euch auf Euer Zimmer bringen?“, sagte sie stattdessen freundlich und erntete ein amüsiertes Lächeln. „Gerne.“ Dann fügte sie, nachdem sie Rylee von oben bis unten gemustert hatte, hinzu: „Und ich würde gerne den Raum für unseren Zirkel sehen.“

„Natürlich“, sagte Rylee und ärgerte sich, dass sie nur eine Arbeitshose und ein nicht mehr ganz knitterfreies T-Shirt trug. „Darf ich fragen, was für eine Veranstaltung Ihr genau plant? Nur ...“, beeilte sie sich, hinzuzufügen, „damit ich weiß, ob ich Euch noch mit irgendetwas helfen kann.“

Die Frau hob die Hände. „Es ist kein Geheimnis. Wir sind Hexen und wir werden einen magischen Zirkel abhalten.“

Rylee blieb so abrupt stehen, dass ihr Gast fast in sie rannte. „Hexen?“, sagte sie ungläubig.

Sie hörte ein helles Lachen und drehte sich um. „Keine Angst. Unsere Magie ist nichts Böses, wie Ihr vielleicht aus den alten Geschichten der Erde entnehmt. Das Mittelalter war eine schwere Zeit für uns. Zum Glück bekamen wir durch einen Zufall die Möglichkeit, unsere Heimat zu verlassen und ins Weltall zu reisen. Leider wurden wir dabei in alle Winde zerstreut. Aber ab und zu treffen wir uns an einem Ort, tauschen den letzten Tratsch und die neusten Zaubersprüche aus und erschaffen gemeinsam einen magischen Zirkel.“ Sie sah Rylees Blick. „Ich verspreche, wir beschwören keine Dämonen!“ Sie hob die Hand wie zum Schwur. „Naja, zumindest keine gefährlichen. Das war ein Spaß!“, fügte sie schnell hinzu.

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