Hidden Tales

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Schließlich rissen wir uns los und versuchten, die vorgegebenen Koordinaten innerhalb des Gebäudekomplexes zu lokalisieren. Auf der Ebene der Weinbehälter waren diese jedoch nicht zu erreichen. Egal, von welcher Richtung aus wir es versuchten, immer versperrten Wände unseren Weg. Also begaben wir uns ein Stockwerk höher und fanden dort eine kleine Halle, die sich allem Anschein nach genau oberhalb des Bereichs befand, der eine Etage tiefer durch Wände von der Behälterhalle abgetrennt war. Ergo musste der gesuchte Cache hier irgendwo versteckt sein. Im Fußboden der Halle befanden sich mehrere Öffnungen zu dunklen Schächten von kaum erahnbarer Tiefe, allesamt völlig ungesichert.

Wir schauten uns an. Reichten diese Löcher bis zur Ebene der Weinbehälter? Womöglich sogar noch tiefer? Es war absolut klar, dass die alte Weinfabrik nicht als Touristenattraktion ausgebaut war und dass eine nächtliche Begehung nicht unbeträchtliche Risiken mit sich bringen würde. Mit dieser plötzlichen Steigerung des Schwierigkeitsgrades hatten wir nicht gerechnet. Aber auch dies war zu lösen. Und so kurz vor dem Ziel würden wir nicht aufgeben! Irgendwo in Felanich mussten doch starke Taschenlampen zu bekommen sein.

Auch hier hatte die neue Zeit mit ihren Technologien Einzug gehalten. Elektronikgeräte wie Smartphones aller Art hätten wir an jeder Ecke erwerben können – nur dass deren Lampenfunktion zu schwach und die Preise dafür stark überhöht waren.

Die benötigten Taschenlampen fanden wir schließlich in einem versteckten kleinen Laden, den wir fast übersehen hätten. Wir atmeten auf – jetzt ging es nur noch darum, die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit herumzubringen, was wir in unserer Spannung mit einem durchaus leckeren Fischauflauf gerade so hinbekamen.

Mit dem letzten Rest Tageslicht begaben wir uns zurück in die Weinfabrik und in die kleine Halle, wo wir beobachteten, wie die langen Schatten zu einem immer dunkler werdenden Grau zusammenflossen. Ab einem gewissen Grad von Dunkelheit rückten wir näher zusammen. Es handelte sich um unseren ersten Night-Cache, und die Situation in dieser Umgebung erzeugte eine ganz andere Intensität an Grusel als das Entdecken eines Schatzes vor der eigenen Kellertür. Trotzdem hielten wir uns zurück mit dem Einschalten unserer Lichtquellen – schließlich wussten wir nicht, wie lange die Suche dauern würde. Und keiner von uns hatte Erfahrung mit der Lebensdauer und Zuverlässigkeit von spanischen Batterien in mallorquinischen Taschenlampen.

Letztendlich war die Nacht hereingebrochen und somit die Zeit gekommen, die Suche zu beginnen. Was sollte schon passieren, solange wir aufpassten, nicht in eines der gefährlichen Löcher zu fallen?

Wir schauten uns um. In der Halle herrschte tiefste Dunkelheit. Und wie es sich im Laufe der Dämmerung schon angedeutet hatte, mussten wir die Hoffnung aufgeben, dass sich der Schatz von selbst bemerkbar machen würde. Also schalteten wir die Taschenlampen ein und begannen, aktiv zu suchen. Doch schon bald wurde klar, dass auch dies nicht weiterführen würde – in der Halle war nichts zu finden.

Im unsteten Licht schienen die Löcher im Boden jedoch umso dunkler und bedrohlicher, und eine ungute Ahnung überkam mich. Ich zog Amanda daher an den Rand desjenigen, das den gefundenen Koordinaten am nächsten lag, und bedeutete ihr, auch ihre Lampe wieder auszuschalten.

Langsam gewöhnten sich unsere Augen an die Dunkelheit. Und tatsächlich – nach einiger Zeit schien am Boden des Lochs etwas zu fluoreszieren, als würde es aufgesaugtes Licht langsam wieder abgeben.

Wir schauten uns an. Sollte dies wirklich der gesuchte Schatz sein? Was für eine Art von Humor mochte dies sein, uns nach einer Reihe von höchst einfachen Stationen in eine solche Situation zu bringen? Wie auch immer, mit unseren Mitteln schien die Hebung dieses Cache schlicht und einfach aussichtslos.

Oder doch nicht? Noch waren wir nicht bereit, diese Mission aufzugeben. Befanden wir uns nicht in einer Industrieruine aus halbwegs moderner Zeit? Und hatten wir bei unserer Suche nicht allerlei Gerümpel herumliegen sehen? Es wäre doch gelacht, wenn sich nicht irgendetwas davon als Werkzeug zur Bergung verwenden ließe!

Wir starteten ein Brainstorming, und schließlich fielen uns ein paar aufgerollte Kabel ein, die wir in einer Ecke der Halle gesehen hatten.

Diese waren schnell gefunden und hielten einer ersten Prüfung auf prinzipielle Brauchbarkeit stand. Wenn das Loch nicht tiefer war als bis zum Boden der Halle mit den Weinbehältern, schien eines davon sogar ausreichend lang zu sein und trotzdem gerade noch leicht genug, um damit zu hantieren. Das Schweizer Taschenmesser, das uns bereits bei etlichen Schatzsuchen gute Dienste geleistet hatte, erwies sich wieder einmal als Helfer in der Not, um damit die Kunststoffumhüllung des Kabels an einem Ende aufzuschneiden und den Metallkern freizulegen. Dieser ließ sich mit geringem Aufwand zu einer Art Haken biegen. Voilà – das Werkzeug war gefertigt. Jetzt musste es nur noch wie erhofft seinen Dienst tun.

Etwa eine Viertelstunde fischten wir vergeblich in den Tiefen des Loches und wollten schon fast aufgeben. Lang genug war das Kabel, man hörte ein schwaches Klacken, wenn der Metallhaken den Boden berührte. Bloß am Cache wollte er keinen Halt finden! Leuchteten wir nicht mit den Lampen in die Öffnung, sahen wir den Haken nicht, leuchteten wir hinein, war das Glimmen des Cache nicht auszumachen. Es war zum Verzweifeln!

Frustriert schauten wir uns an. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Weiterhin war kaum anzunehmen, dass außer uns noch jemand in Kürze zu diesem Schatz vordringen würde. Wir könnten also bald mit besserer Ausrüstung wiederkommen. Und dennoch …

»Drei Versuche noch!«, schlug ich vor, und Amanda stimmte zu.

»Drei«, startete sie den Countdown.

Ich konzentrierte mich ein paar Sekunden, um anschließend ein weiteres Mal nach dem Schatz zu angeln. Der Haken schien zu greifen, doch als ich anzog, löste er sich.

Erneut schauten wir uns an. Wenigstens hatte sich der Cache bewegt!

»Du?«, fragte ich und reichte Amanda das Kabel, das sie nickend entgegennahm.

»Zwei«, sagte ich und übernahm so den Countdown.

Eine scheinbar endlose Zeit verharrte Amanda und starrte in die Tiefe, als wollte sie den Schatz beschwören. Endlich bewegte sie das Kabel, Millimeter für Millimeter, in unerträglich langsamer Zeitlupe, sodass wir kaum das Scharren des Hakens über den Boden vernehmen konnten. Dann schien sie Widerstand zu spüren, und sie hielt inne. Ich wagte kaum, zu atmen. Schließlich, mit offensichtlich kaum gebändigter Anspannung, zog sie an. Und der Haken griff! So vorsichtig, wie sie das Kabel über den Boden manövriert hatte, beförderte sie nun den ersehnten Schatz auf unsere Ebene.

Kaum hielten wir ihn in den Händen, lehnten wir uns erst einmal erschöpft aneinander und dankten still allen Erdgottheiten, die möglicherweise für das Geocaching zuständig sein mochten, dafür, dass wir den Countdown nicht hatten ausreizen müssen.

Schließlich widmeten wir uns dem mühsam errungenen Fund. Er war ähnlich gestaltet wie derjenige, den wir in unserem Haus gefunden hatten. Wie damals machte sich Amanda an die Enthüllung.

Im Schein der Taschenlampen entpuppte sich die enthaltene Gabe als zwei schwarze Ringe aus einem uns unbekannten Material, das sich fast wie polierter Stein anfühlte, wobei einer etwas größer als der andere war. Den beiliegenden Zettel reichte Amanda wieder mir.

»Mache Dich bereit und folge der, die Deiner Liebe würdig ist!«, stand dort in der gleichen altertümlichen Schrift, die wir schon kannten.

Auch ohne ihre Mimik erkennen zu können, spürte ich erneut jene seltsame, verstörende Intensität in Amanda. In diesem Moment fühlte ich mich jedoch zu erschöpft, um weiter darüber nachzusinnen.

»Denkst du, was ich denke?«, flüsterte ich.

Als sie nickte, nahm ich ihr den kleineren Ring aus der Hand und steckte ihn ihr auf den Finger. Er passte wie maßgefertigt. Ebenso der größere für mich.

Einen Moment verharrten wir, dann verständigten wir uns mit einem Blick. Es schien in dieser Situation so klar, was zu tun war. Wir zogen die konventionellen Freundschaftsringe, die wir bis dato getragen hatten, von den Fingern und legten sie ins Kästchen, das sich mithilfe des Hakens ganz sanft wieder in sein tiefes Loch absenken ließ.

Eine ganze Weile saßen wir noch beieinander, wobei wir uns über Kreuz an den Händen hielten, sodass sich die schwarzen Ringe berührten. Schließlich erhoben wir uns, um schweigend, aber mit einem tiefen Gefühl der Verbundenheit, den Ort des Geschehens zu verlassen.

Am Mietwagen angekommen riefen wir auf Amandas Handy die Geocaching-App auf. Eigentlich war es nur pro forma – wir hätten es nicht gebraucht, um zu wissen, dass der Multi-Cache, dem wir die letzten Tage gefolgt waren, nicht mehr existierte.

3

Wieder vergingen Monate, in denen wir unser gemeinsames Hobby ruhen ließen. Das Erlebnis in der nachtdunklen Weinfabrik hatte uns doch mehr mitgenommen, als uns zunächst bewusst gewesen war.

Doch spürten wir beide, dass unser Leben dabei war, sich ganz subtil zu verändern. Es hatte sich durchaus seltsam angefühlt, am Morgen nach jener Nacht nicht mit unseren gewohnten Freundschaftsringen aufzuwachen, sondern mit der Gabe aus der Dunkelheit, paradoxerweise aber auch weiterhin richtig und stimmig.

Folgerichtig trugen wir jetzt die schwarzen Ringe aus diesem merkwürdigen steinernen Material zum Zeichen unserer Verbundenheit, auch wenn wir sie zuweilen argwöhnisch beäugten, weil sie jenseits der Schatzsuche des Geocachings ein Geheimnis zu bergen schienen, das uns nicht wirklich zugänglich war.

 

Ich musste mir auch eingestehen, dass sich trotz des stetig zunehmenden Bindungsgefühls in mir eine gewisse Vorsicht Amanda gegenüber eingeschlichen hatte. Beides zusammen ergab einen sehr eigenen und ungewohnten Gefühlscocktail – denn auch Amanda schien sich zu wandeln, ganz subtil und moderat, sodass mein Alltagsverstand meinte, es weiterhin leugnen zu können. Unzweifelhaft war sie die Frau, die ich liebte! Und dennoch …

Im täglichen Umgang schien sie mir immer blasser zu werden, bis ich – jenseits aller Gothic-Ästhetik – begann mir Sorgen um sie zu machen. In meinen Träumen sah ich sie zudem immer häufiger mit leicht zugespitzten Ohren, und Neigung und Farbe ihrer Augen schienen sich ebenfalls fast unmerklich zu verändern.

Wachte ich nach diesen verstörenden nächtlichen Visionen auf, lag einfach wieder Amanda neben mir. Blasser und irgendwie weniger von Enthusiasmus durchdrungen als früher, doch eindeutig meine Amanda – die Frau, die ich liebte.

Auch die Welt in ihrer Gesamtheit schien sich zu wandeln, irgendwie zu verdunkeln, als würde ein düsterer Schleier über sie gezogen.

Kurzum: Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen, um unsere frühere Lebensfreude zurückzugewinnen!

In dieser Stimmung flatterte ein Reiseprospekt in unseren Briefkasten, der von einem lichten Land erzählte, einer Insel der Glückseligen inmitten einer Welt, die in finsterer Bewusstseinsnacht verharrte. Diese Passage bezog sich auf die Stellung des beworbenen Landstrichs im mittelalterlichen Europa, und doch schien es genau das zu versprechen, was wir in dieser Situation benötigten. Unser Interesse war geweckt. Kurz darauf buchten wir unseren nächsten Urlaub. Und zwar in Occitanien, dem Land von Oc – dem Land der Katharer.

Ein paar Tage lang ging unser Plan auf. Unter einem strahlend blauen südfranzösischen Himmel genossen wir unseren Urlaub wie ganz gewöhnliche Touristen, indem wir uns die einheimische Küche munden und alle Mauernischen und Fliesenfugen der Sehenswürdigkeiten außer Acht ließen, ohne uns Gedanken über mögliche versteckte Schätze zu machen. Belustigt stellten wir fest, dass wir uns stundenlang mit dem Sammeln völlig überflüssiger Informationen beschäftigen konnten – zum Beispiel mit der Erkenntnis, dass es sich bei Carcassonne tatsächlich um eine reale Stadt handelte und nicht bloß um ein Brettspiel.

Dann kamen Wolken auf, und mit ihnen hielt die Düsternis in uns wieder Einzug.

Zwei weitere Tage versuchten wir, die gedrückte Stimmung durch gesteigerte Aktivität auszugleichen, aber schon bald wurde klar, dass dies keine Lösung darstellte.

Als ich am folgenden Morgen aus weiteren verstörenden Träumen auftauchte, lag Amanda auf einen Ellbogen gestützt neben mir und beobachtete mich. Zwischen uns hatte sie ihr Tablet platziert, das sie auf mich zuschob, als ich offensichtlich wach war.

Es brauchte keine Erklärung, um ihre Geste zu verstehen. Diese und ihr Blick machten ausreichend deutlich, dass wir doch wussten, auf welche Weise wir – zumindest gefühlt – Energie generieren konnten. Noch ein wenig gefangen in meinem letzten düsteren Traum zögerte ich. Und doch war mir klar, dass ich ihr letztlich zustimmen würde.

Auch hier im Land von Oc, wie inzwischen fast überall in Europa, gab es versteckte Caches zuhauf. Was uns, kaum dass wir die App aktiviert hatten, aber wie magisch anzog, war dieses eine Symbol, das anders aussah als die üblichen Tropfen zur Markierung der Verstecke. Mit seinen abgerundeten Zacken wirkte es, als sei die klassische Versteckdarstellung von einem Stern überlagert worden, oder als hätte sie sich in einen Umhang mit starkem Faltenwurf gehüllt.

Wir schauten uns an. Eine derartige Symbolik hatten wir noch nicht gesehen. Die Legende der App half auch nicht weiter. Den verfügbaren Informationen zufolge handelte es sich um einen Multi-Cache mit mystischer Thematik. Nichts Besonderes also. Eigentlich …

Dennoch war unser Interesse geweckt. Gleichzeitig aber auch unsere Vorsicht – hatten wir doch noch zu gut das Ende unseres letzten Multi-Cache-Abenteuers in Erinnerung.

Unsere Blicke fingen sich und flossen ineinander. Was schließlich siegte, war das Gefühl der Bindung, das wir immer dann hatten, wenn wir uns gemeinsam einem Abenteuer stellten – und nicht nur touristisch von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten schlenderten. Folgerichtig fanden sich auch unsere Hände, deren Druck die Vereinbarung für die nächste Mission besiegelte.

Dieses Mal begann unsere Suche gleich zu Anfang anstrengender. Die erste über die App vorgegebene Fundstelle befand sich in der Spoulga d’Ornolac, die auch als Grotte de Bethléem bekannt war. Den Vorgaben des Reiseführers folgend fuhren wir zunächst mit dem Wagen nach Ussat les Bains, um von dort aus einem unbeschilderten Weg den Hang hinauf zu folgen, von dem wir hofften, dass er der richtige sein möge. Fasziniert erkundeten wir dabei zunächst die Umgebung. Besonderes Interesse weckte in uns die sogenannte Mystische Pforte, deren Mauerbogen jedoch bedauerlicherweise eingestürzt war – die uns aber gleichzeitig bestätigte, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen hatten. Schließlich erreichten wir die markante überhängende Felswand und in ihrer Nachbarschaft die Spoulga, in der sich der Cache befinden musste. Glücklicherweise schienen sich relativ wenige Geomuggels in diese Gegend zu verirren. Wir würden also lediglich auf einen unbeobachteten Moment warten müssen – was ich durchaus mit leichtem Bedauern konstatierte, da ich so kaum Gelegenheit erhalten würde, weitere meisterhafte Ablenkungsshows seitens Amandas mitzuerleben.

Offensichtlich verspürte sie aufgrund des einen anderen anwesenden Paares keinerlei Impuls in diese Richtung. Und so nutzten wir die Zeit zu einer mehr touristischen Besichtigung der Höhle. Eine Art granitener Altarstein lag so auf zwei kleineren Felsbrocken, dass er aus manchen Blickwinkeln zu schweben schien. Direkt dahinter befand sich in der Felswand das sogenannte Pentagramm, eine – bei gutem Vorstellungsvermögen – fünfzackige Struktur, in die sich anscheinend im Laufe der Zeit etliche Besucher gestellt hatten. Zumindest deuteten die fast blank polierten Griff- und Trittmöglichkeiten darauf hin. Und wie wir beobachten mussten, konnte sich auch das andere Paar diesen Missbrauch nicht verkneifen. Mehr oder weniger geduldig warteten wir ab, dass sie endlich mit dem gegenseitigen Ablichten fertig waren, damit wir unsere eigentliche Suche beginnen konnten.

Schließlich war es so weit, und wir waren allein in der Grotte. Nach kurzer Blickverständigung strebte ich zur hangseitigen Öffnung der Spoulga, wo ich den Schatz vermutete.

Schon nach kurzem Suchen musste ich mir eingestehen, dass mich meine Intuition dieses Mal wohl im Stich gelassen hatte. Mit einer gewissen Vorahnung richtete ich mich auf und wandte mich um – und tatsächlich, an der hölzernen Treppe am Eingangstor stand Amanda und hielt triumphierend eine kleine Dose in die Höhe. Zumindest was das Auffinden der Schätze vor Ort anging, ließ sich dieser Multi-Cache nicht viel schwerer an als derjenige auf Mallorca.

Und ähnlich ging es weiter. Für unser Empfinden klapperten wir so gut wie alle zugänglichen Höhlen der Gegend ab, um die dort versteckten, leicht erreichbaren Caches aufzufinden. Einerseits taten uns diese Wanderungen an frischer Luft gut, zumal uns die merkwürdige Schwere in diese felsigen Regionen nicht so leicht folgen konnte wie in die Städte. Anderseits stieg unsere Ungeduld angesichts dieser Unterforderung fast ins Unermessliche, harrten wir doch der Auflösung dieses Multi-Cache, die noch eine unbekannte Anzahl von Stationen voraus lag. Doch offensichtlich wollte uns der Ersteller diesen Gefallen so bald noch nicht tun. Von Grotten und anderen Felsformationen wechselten die Etappenziele schließlich zu den Festungen und Klöstern der Katharer, was für sich genommen aufs Neue eine kulturell hochinteressante Reise bedeutete. Die Burgen Puilaurens, Usson, Peyrepertuse, Quéribus und von Lastours, die Abteien Villelongue, Saint-Hilaire, Fontfroide und Saint-Papoul – wer weiß, ob wir sie alle gesehen hätten, wenn nicht in oder an jeder ein Etappen-Cache gelegen hätte. Schließlich wurden wir von den Anweisungen in die Festung von Carcassonne geführt, also fast dahin zurück, wo die Entscheidung zu dieser Mission gefallen war. Und dort wurde uns die Endstation dieser Reise verkündet. Montségur. Die Gralsburg. Als hätten wir es uns nicht denken können.

Höchst seltsam war allerdings, dass es keine Koordinaten gab, sondern nur die Burg genannt wurde, ergänzt durch den mehr als kryptischen Satz: »Das Ziel wird Euch finden, oder Ihr werdet das Ziel nicht finden.« Was auch immer das bedeuten mochte.

Entschlossen versuchten wir, das Rätsel zu verdrängen und uns darauf zu fokussieren, dass Montségur – wie eigentlich alles hier – bereits für sich genommen eine Besichtigung wert war. Also begaben wir uns zum Ort der erhofften Auflösung und folgten den anderen anwesenden Touristen, die bereit waren, für ein unglaubliches Erlebnis von Aussicht und mystischer Vergangenheit den steilen Burgberg zu besteigen – auch wenn die darauf befindliche neuere Gralsburg nicht das ursprüngliche Castrum war, in dem die Katharer belagert worden waren, und auch kaum Ähnlichkeit mit diesem aufwies. Gemäß Reiseführer befanden wir uns bereits auf tausend Metern Höhe, als wir uns dem Fuß des Berges näherten. Zunächst passierten wir den Gedenkstein, der am Prat dels Cremats, dem Feld der Verbrannten, an die Katharer erinnerte, die für das Festhalten an ihrem Glauben auf dem Scheiterhaufen der mittelalterlichen Inquisition hingerichtet worden waren, was uns allein bei der Vorstellung Schauder des Grauens über die Rücken laufen ließ. Danach gelangten wir durch einen Buchsbaumwald und über die Serpentinen eines steil ansteigenden und sehr schmalen Pfades zur eigentlichen Burgruine, die wir über einen überraschend modernen Holzvorbau betraten. Die wenigen anderen Touristen, die ebenfalls bis hierher durchgehalten hatten, verliefen sich, und Stille umfing uns innerhalb der dachlosen Überreste – was eine innere Ruhe bedeutete, die wir normalerweise genossen hätten. Jetzt und an diesem Ort schien dies aber auch zu implizieren, dass es hier nichts gab, das auf unsere Ankunft gewartet hatte. Ein bisschen ernüchtert spazierten wir durch die Ruinen und versuchten, keinen interessanten Winkel zu übersehen, um schließlich vor den Mauern die Aussicht über die felsige Landschaft zu genießen. Kaum etwas regte sich, außer den anderen Touristen, ein paar Vögeln und Schmetterlingen und den Pflanzen im lauen Wind. Amanda und ich schauten uns an und konnten unsere Enttäuschung kaum verbergen. Was nur mochte der kryptische Spruch gemeint haben? Und warum zeigte das Ziel sich nicht? Eine Weile verharrten wir noch unschlüssig, dann machten wir uns an den fast genauso beschwerlichen Abstieg.

Als wir den Gedenkstein für die Katharer in Abwärtsrichtung passieren wollten, ertönte unvermittelt ein Prasseln und Knacken in meinen Ohren, und ein Hitzeschwall flutete meinen Körper. Es fühlte sich an, als wäre ich geradewegs in eine Feuerwand gelaufen, und ich ließ mich zu Boden sinken, um nicht taumelnd zu stürzen.

Als ich wieder halbwegs klar sehen konnte, bemerkte ich, dass Amanda in ähnlicher Weise neben mir kauerte. Anscheinend hatte sie gerade etwas Ähnliches erfahren. Die wenigen Touristen, die vor uns gegangen waren, hatten ihren Weg fortgesetzt, als hätten sie nichts bemerkt. Hinter uns kam erst einmal niemand – wir waren bis auf Weiteres allein und schauten uns ungläubig an. Sollte dies die Art sein, wie sich das mysteriöse Ziel bemerkbar machte? Irgendwie war es naheliegend – hatte nicht hier der tödliche Scheiterhaufen gen Himmel gelodert? War es dieses Feuer aus der Vergangenheit, das wir gerade gespürt hatten?

Zögerlich standen wir auf und näherten uns dem Gedenkstein. Oben und hinten gab es etliche Mauerfugen, in denen aber nichts zu entdecken war. Also umrundeten wir den steinernen Sockel. An der Vorderseite lehnte ein Kranz und umrahmte ein Schild.

Und unterhalb des Schildes …

Wenn man wusste, wohin und wie man schauen musste, war der Cache eigentlich nicht zu übersehen. Offensichtlich hatten wir das Ziel gefunden, weil es uns diese Gunst gewähren wollte. Allerdings waren die damit verbundenen Effekte um einiges seltsamer gewesen, als es das nächtliche Bergen eines Schatzes in einer Weinfabrik mit sich gebracht hatte. Wir zögerten – und hörten plötzlich Schritte, die sich von oberhalb näherten.

 

Geomuggels! Also hieß es, schnell zu handeln.

Entschlossen griff Amanda zu, schnappte sich das Kästchen und zog mich beiseite, sodass wir auf die Touristen, die wenige Sekunden später vorbeikamen, wirkten wie ein Pärchen, das sich küssend einen Moment verliebter Entspannung gönnte. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Kaum waren sie außer Sicht, riss Amanda die Folie vom Cache und öffnete die Box. Ein Zettel fiel heraus, den ich aufhob und entfaltete.

»Mache Dich bereit und folge der, die Du wahrhaftig liebst!«, entzifferte ich eine weitere Variation der Botschaft in der inzwischen wohlbekannten altertümlichen Schrift.

Mit zittrigen Fingern fischte Amanda den weiteren Inhalt aus dem Kästchen. Wieder handelte es sich um zwei Objekte, die dieses Mal jedoch miteinander verbunden waren. Irritiert erkannten wir eine Art kleinen Becher und einen glatt polierten, länglichen Stein, der in das Gefäß gefügt war, als stünde er aufrecht darin. Beide schienen aus dem gleichen Material gefertigt wie die Ringe, die wir seit einigen Monaten trugen.

Verwundert schauten wir uns an. Waren nicht der Kelch Christi und der Stein der Weisen zwei wesentliche Aspekte des Heiligen Grals? Waren wir hier auf etwas Bedeutsames gestoßen? Oder trieb bloß jemand einen üblen Schabernack mit uns und mit heiligen Symbolen? Wäre nicht die immense Hitzeerfahrung gewesen, die ohne größere technische Hilfsmittel kaum zu erzeugen war, hätte man tatsächlich an einen Scherz glauben können. Wir hatten aber schon mehr Seltsames erlebt, also würden wir auch diese Gabe ernst nehmen – und akzeptieren, wie wir auch die Ringe angenommen und akzeptiert hatten. Blieb also lediglich die Entscheidung, was wir zum Austausch hinterlassen würden.

Kurz verständigten wir uns. Kelch und Stein waren Aspekte, Symbole des Grals, nicht der Gral selbst. Es mochte also völlig adäquat sein, in symbolischer Form zu antworten. Trotzdem verstand ich nicht sofort, was Amanda vorhatte, als sie das Schweizer Taschenmesser von mir forderte. Erst als sie es aufklappte und meine Hand nahm, dämmerte mir, was sie sich überlegt hatte.

Zwei schnelle Schnitte, und je ein Tropfen Blut quoll aus ihrem und meinem Finger, um sich im Schatzkästchen untrennbar zu einem einzigen zu verbinden.

Der Rest des Tages verging, als befänden wir uns in Trance. Zurück im Hotel aktivierten wir die App nicht. Wir wussten, dass der Multi-Cache nicht mehr existierte, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte.

4

Wir stehen auf unserem Balkon und blicken hinaus in eine Welt, die immer düsterer zu werden scheint und sich auch darüber hinausgehend wandelt. In den zunehmenden Fledermausschwärmen meinen wir, immer wieder auch andere geflügelte Wesen wahrzunehmen. Schauen wir unbelebte Dinge wie Wasserspeier gerade eben nicht an, wirken sie belebt. Die Augen von Menschen, die wir zu kennen glaubten, scheinen plötzlich aus ungeahnten und unergründlichen Tiefen heraufzublicken.

Auf was für ein Spiel auch immer wir uns eingelassen haben – offensichtlich hat es ein Level erreicht, von dem es kein Zurück gibt. Nur ein ständiges Weiter in Richtung einer höchst unbekannten Zukunft.

Amanda schmiegt sich an meine Schulter. Sie ist sehr blass, trägt ihr gewohntes schwarzes Kleid und wirkt wie ein Wesen aus einer fremden Welt – aber nicht mehr zur Show und zur Ablenkung von Touristen. Ihre tiefgrünen Augen stehen jetzt deutlich schräg und ihre Ohren laufen inzwischen ganz klar spitz zu, genau wie ihre Zähne, die sie weiterhin deutlich zeigt, wenn sie lacht.

Sie wird zu der, die sie schon immer war.

Und ja, sie ist die Frau, die ich zu lieben gedenke; die meiner Liebe würdig ist; die ich wahrhaftig liebe.

Und was fast noch wichtiger ist: Offensichtlich bin ich bereit, ihr in diese neue Welt zu folgen, sie mit ihr gemeinsam zu betreten und zu erkunden. Denn ganz langsam beginnen meine Augen und Ohren, sich ihren anzugleichen.

Tief schaue ich in Amandas unergründliche grüne Augen, bevor ich sie näher an mich ziehe, um sie zärtlich zu küssen.