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Spreemann Co

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Und wie sie eingeschlafen war, erwachte sie auch.

Herr Spreemann aber erhob sich am andern Morgen voll von Mißmut und Ärger. Er hatte geträumt, daß er ein kostbares Hochzeitsessen gegeben hatte. Der Schreck darüber lag ihm noch in allen Gliedern.

Aber man ist im Traum rascher als in der Wirklichkeit.

Sechs unruhige Tage mußten noch vergehen, bis es so weit war. Es gab störende Besuche und unnütze Anfragen, und hätte nicht auch das Geschäft infolge der Neugierde ganz besonders floriert, Spreemann würde die ganze Sache zum Teufel gewünscht haben.

So sagte er sich, daß man durchführen müsse, was man sich vorgenommen habe.

Die Bäume waren grün, das neue Pflaster glänzte auf dem Platz und heller Sonnenschein fiel auf Herrn Jungs flatternde Tauben, als endlich die breite Hochzeitskutsche um die Ecke bog.

Aus allen Fenstern reckten sich die Köpfe.

Onkel Ziehlke und Herr Kreisrat waren die Trauzeugen.

»Verlier deinen Orden nicht,« rief die Kreisrätin ihrem Mann nach und beugte sich weit aus dem Fenster. So daß alle es hören mußten. Sie selbst war auch schon im Feststaat.

Feierlich stieg das Brautpaar in den Wagen.

Herr Spreemann sah sehr stattlich aus, mit den weißen Handschuhen und dem Myrtensträußchen im Knopfloch. Mamsell Lieschen verschwand ganz unter einem duftigen Schleier, zu dem das Körbchengeld auch noch ausgereicht hatte.

Der kleine Lehrling, in einem schwarzen Anzug, in den er zu seiner eigenen Hochzeit gewiß hineingewachsen sein würde, trug Lieschens schwere Seidenschleppe. Sie war überstreut mit Myrtenblüten. Genau wie im Modejournal. Die Nachbarn waren zufrieden. Der Wagen fuhr fort.

Die kleine Spittelkirche war vergoldet mit Maiensonne. Der Fischmarkt ringsum war sonntäglich gescheuert. Aber in den Rinnsteinen segelte noch mancher Heringskopf ins Unbekannte und über den Kirchstufen schwebte noch der Duft des Wochentags.

»Wir könnten bald einmal wieder Seezunge haben, in brauner Butter gebacken,« sagte Spreemann zu Lieschen.

»Wenn sie nur nicht so teuer wären,« flüsterte sie hinter ihrem dichten Schleier.

»Was mögen sie miteinander getuschelt haben,« dachten die Leute, die sich angesammelt hatten, um ein Brautpaar zu sehen.

In der Kirche drinnen war alles versammelt, was schwarzseidene Kleider und Goldbroschen besaß.

Tante Karoline hatte den Russen zwischen sich und Mariechen gesetzt. Dicht vor den Altar. Ein gutes Beispiel hat oft schon Gutes getan.

Alles verlief aufs feierlichste.

Der Herr Pfarrer erwähnte in seiner Rede nicht nur das Waisenhaus und den versunkenen Apfelkahn, sondern auch den sichtbaren Wohlstand des geschätzten Bräutigams. Die Tränen der Verwandten flossen.

Das Festessen fand auf Herrn Spreemanns Kosten, aber in der Mühle einer seiner Nichten statt.

Damit die junge Madame Spreemann heute abend nicht wieder so viel zu tun haben würde als am vergangenen Sonntag.

Lieschen hatte erst nichts davon wissen wollen, der Unkosten wegen. Sie meinte, wenn man im Hause koche, würde man von den Resten noch eine Woche leben und dadurch wieder manches einsparen können.

Spreemann aber sagte, daß man in diesem besonderen Falle schon einmal eine Ausnahme machen könne. Einmal sei keinmal.

Die Kosten bestritt er aus der Reservekasse für nicht vorhergesehene Unfälle.

Sechstes Kapitel

Jede Ehe ist ein Sprung ins Unbekannte.

Wohl hört man über diesen Stand so vielerlei reden, raunen und munkeln, spotten und loben, daß man schon vorher klug zu sein glaubt. Das ist ein Irrtum, auch hier macht nur die eigene Erfahrung gescheit.

Eins glaubte Spreemann mit Sicherheit im voraus zu wissen. Er würde in seiner Ehe keinen Gesindelohn zahlen müssen.

Aber kaum, daß der Mai vorbei war, sagte Madame Spreemann, daß es ihr selbst zwar gleich wäre, sie es aber um Spreemanns willen nicht mehr recht fände, wenn sie die Eimer selbst aus dem Brunnen zöge, daß sie sich auf dem Hof dem gewöhnlichen Gerede von Kreisrats Dienstmagd aussetze.

Spreemann erwiderte, daß es allerdings schöner wäre, wenn das Wasser aus der Wand heraus in die Kannen und Töpfe liefe; aber solange die Wagen noch nicht ohne Pferde rennen könnten, müßte sie wohl auf dieses Kunststückchen Gottes warten.

Er lachte über sein Späßchen, ahnungslos und vergnügt, denn er rauchte eine neue Sorte Tabak, die ihm vorzüglich schmeckte.

Er wußte nicht, daß Frauen für alles einen Ausweg wissen, wenn sie etwas ernstlich wollen.

Lieschen sagte, daß sie an kein Wunder, sondern an eine bescheidene Magd zu zwei Taler Lohn gedacht habe. Die Gesindestube stände doch leer. Es lag kein Grund vor, Herrn Spreemanns Ansehen weiter zu schädigen.

Spreemann versank in Nachdenken.

Er wollte nicht, daß sein Ansehen Schaden litte. Nein.

Aber gerade, daß die Gesindestube frei war, hatte ihm in den letzten Tagen eine große Beruhigung gewährt.

Heimliche Wünsche quälen die Besten.

Er wollte, daß Lieschen dahin zurückkehrte.

Zuerst hatte er gar keinen Anstoß an dem neuen Möbelstück in seinem Zimmer genommen. Aber mit der Zeit störte ihn Lieschens frühes Aufstehen, sie nieste manchmal, räusperte sich, sie störte.

Schon häufig hatte er des Morgens gesagt, daß er sich immerfort an dem neuen Möbelstück stoße, das seiner Meinung nach das ganze Zimmer verunglimpfe.

Aber Madame Lieschen antwortete, daß er gestern wieder zu lange beim Biere gewesen und darum mißgelaunt sei. Sie werde ihm am heutigen Abend keinesfalls den Hausschlüssel mitgeben.

Spreemann verstummte dann. Er hatte zu lange alleine gelebt, um geschickt antworten zu können. Er konnte sich nur innerlich ärgern.

Auch die Ehe will gelernt sein. Das hätte Spreemann sich sagen müssen.

Statt dessen hatte er sich vorgenommen, Madame Lieschen mitzuteilen, daß ein Geschäftsmann mehr Zeit für sich allein brauche, daß es ihn störe, immer jemand um sich zu haben. Sie sollte zurück in ihre Kammer. Sonst könnte alles beim alten bleiben. Er war ihr nicht böse. Sie störte ihn nur.

Aber das war noch schwerer hervorzubringen als die Brautbewerbung, trotzdem er gegen Tränen schon etwas abgehärteter war.

»Überlegst du noch?« unterbrach Lieschen vorsichtig das Schweigen.

»Ich will keine Magd,« sagte Spreemann. Zu weiterem fehlte ihm noch der Mut.

Madame Lieschen blickte erschreckt auf. Sie vermutete, daß Spreemanns große Sparsamkeit hinter dieser Absage stände.

Sie seufzte schwer. Denn auch sie hatte viel mehr zu sagen, als sie wagte.

Wie aber konnte sie diesem sparsamen Manne mitteilen, daß man im nächsten Jahre doch zu dreien sein würde. Auch ohne Magd.

Sie hatte keine Mutter, keine Schwester, keine Freundin.

Allein und ratlos saß sie dem rauchenden Manne gegenüber. Tränen liefen über ihr schmaler gewordenes Gesicht.

Frauen lernen viel rascher, was die Ehe bedeutet.

Lieschen sagte sich, daß Spreemann nichts so sehr liebe als sein Geschäft. Sie mußte also versuchen, die schwere Mitteilung mit dieser Liebe zu verknüpfen.

So sagte sie leise, daß über kurz oder lang vielleicht ein Kompagnon für sein Geschäft kommen würde, den er doch brauchen könnte, wenn er alt wäre. Der also keine Verschwendung sein würde.

Sogleich begriff Spreemann nicht.

Erst sagte er noch, daß sich Frauen nicht ins Geschäftliche mischen sollten. Aber als sich Lieschen dann etwas deutlicher auszudrücken wagte, verstummte er plötzlich. Vor Freude, vor unbändiger Freude. Aber um dieser Ausdruck geben zu können, fehlte ihm auch die Gewohnheit. Er schwieg.

Lieschen nahm dieses Verstummen als heimlichen Ärger. Sie hob den Kopf und sagte:

»Etwas ganz Großes hat Gott damit den Menschen gegeben. Wer hat mich je geliebt, als ich Kind war? Wer wird mich einfache Frau je lieben? Er wird es.«

Ihr Gesicht war ganz in Gold getaucht. Wohl nur vom Licht der Öllampe.

Oder sollte aus dem Grau des lächerlichen Alltagslebens plötzlich ein Glorienschein aufstrahlen können?

»Er wird mich lieben,« wiederholte Lieschen fest, und ihre Blicke gingen weit über Spreemann hinweg.

»Du glaubst also, daß es ein Junge wird?« sagte Spreemann.

Lieschen fuhr zusammen. In dieser Stimme hatte kein Ärger gelegen.

Und plötzlich hatte sie Mut. Erregt sprach sie weiter. Alles was sie hoffte. Und Klaus antwortete. Alles, was er hoffte. Noch nie hatten sie so schön miteinander geschwatzt. Als sich Spreemann des Stammtisches erinnerte, war es viel zu spät dafür.

In die Gesindestube kam die bescheidene Magd zu zwei Talern.

Und schon am nächsten Tage wurde noch ein besonderer halber Taler verausgabt, für den Besuch des Herrn Sanitätsrats.

Sanitätsrat Knapp machte seine Besuche mit dem Stock in der Hand und der Pfeife im Munde und verordnete seinen Patienten Gorellas Brustpulver oder Baldriantee. Mit teuren Medizinen schreckte er sie nicht. Zahlten sie schon den Arzt, sollten sie wenigstens vom Apotheker verschont bleiben. Er war ein Feind aller Gifte und ein Freund alles Angenehmen. Er hatte wohl dem Tod noch keinen Menschen entrissen, denn er war ein Gegner aller Gewalttätigkeit, aber er hatte ihm auch noch nie einen mit Eilpost zugeschickt. Und das will auch etwas sagen, bei einem beliebten und beschäftigten Arzt.

Madame Lieschen verordnete er Baldriantee. Kalt aufgegossen, jeden Abend eine Tasse. Alles andre würde sich von selbst ergeben. Eine Diagnose, die sich vollständig als richtig erwies und seinem Wissen als Mensch und Arzt alle Ehre machte.

Sofort nach seinem Besuch legte Spreemann zwei Reservekassen an. Noch eine dritte hinzuzufügen, hatte Sanitätsrat Knapp als übertriebene Vorsicht, also als nicht für nötig, erklärt.

Nie hatte das Leben dem Herrn Spreemann mehr Spaß gemacht als jetzt.

Wenn aus der Küche der angenehme Duft des schmorenden Sommerobstes kam, mußte er sofort an kleine, feine Schleckermäuler denken.

 

Als der erste Schnee fiel, dachte er nicht zuerst an die Pulswärmer, sondern an Schneemänner. Mit zwei alten Knöpfen als Augen, einem Fetzen Siegel als Mund und einem Stück Holz als Pfeife. So wie sie Jungens an den Rand der Landstraße bauten, um sich dann bebend vor Frost in warme Stuben zu sehnen. Wie sie aber auch Jungens bauen könnten, die nach einer solchen kalten Arbeit eine kleine Tasse Schokolade und ein größeres Stück Kuchen bekommen sollten.

Aber wie sich auch draußen das Wetter gestaltete, das Beste war, wenn der Abend kam und die Kasse gezählt wurde. Welch ein liebliches Klingen und Klirren gab es, wenn alle die Reservekassen ihren Anteil schluckten.

Die Verwandten kamen jetzt selten. Sie sagten, daß sie in einer jungen Ehe nichts zu suchen hätten.

Man sucht nicht gern, wo man nichts mehr zu finden weiß.

Aber Klaus und Lieschen vermißten niemanden. Die gleichen Hoffnungen, Wünsche und Besorgnisse hatten sie auf einmal ganz miteinander vertraut gemacht. Als ob sie sich immer gekannt hätten. Wenn Lieschen in den Laden hineinguckte, wurde Klausens Gesicht breit vor Freude. Kam Klaus in die Küche geschlichen, lachte Lieschen ihn an.

Munter sprangen die Tage ins neue Jahr, einem neuen Frühling entgegen.

Schon gab es wieder Schnittlauch. Schon lagerte im Warenraum die neue Sommersäson. Schon steckte seit vielen Tagen Herr Sanitätsrat Knapp an jedem Morgen Kopf und Pfeife in den Laden und fragte:

»Nun, wie geht's der Madame Spreemann?«

Schon jährte sich der Tag, an den man mit trübem Grauen und doch schon mit ein wenig Dank zurückdachte und dessen Wiederkehr Herr Sanitätsrat Knapp bei einem Frühschoppen feiern und beschwatzen wollte. Aber gerade heute kam ihm der Lehrling des Herrn Spreemann schon weit über den Platz entgegengelaufen.

Ein Arzt muß manches Opfer bringen. Politik und Frühschoppen blieben den andern. Sanitätsrat Knapp mußte seine Pfeife ausklopfen und eilig versuchen, auf seinen runden, kurzen Beinen den schnellen, langen des Lehrlings zu folgen.

Oben sagte ihm die zitternde Magd, daß die Madame noch gerade Herrn Spreemann das Gewehr hatte geben und Herrn Spreemann nachwinken können, als sie auch schon schnellstens nach Herrn Rat rufen mußte.

»Gewehr, wieso?« fragte der Sanitätsrat und nahm eine Prise als Entschädigung für die Pfeife.

Die Magd fragte zurück, ob denn Herr Rat nicht das Alarmsignal gehört hätte. Die ganze Bürgerwehr sei zusammengeblasen worden, und der Herr Spreemann gehöre doch dazu.

»Kein Unglück kommt allein,« murmelte Sanitätsrat Knapp, nahm noch eine Prise und klopfte an die Tür der guten Stube, die zum Schlafraum umgewandelt worden und nun die beste Stube werden sollte.

Es war schwer zu sagen, ob Herr Sanitätsrat Knapp mit dem ersten Unglück Spreemanns nahe bevorstehende Vaterschaft gemeint hatte, oder das Aufgeben seines eigenen Frühschoppens. Aber da er als Arzt und Stadtrat für die Erhöhung der Einwohnerzahl sein mußte, scheint die zweite Hypothese glaubhafter.

Jedenfalls marschierte Spreemann, während zu Haus so Wichtiges für ihn vorging, mit geschultertem Gewehr nach dem Schloßplatz, in Reih und Glied mit andern Bürgern, die ebenso friedlich gesinnt waren wie er, die ebenso wie er direkt vom Schlafrock in den Waffenrock gerutscht und alle bedeutend geübter waren, eine Pfeife zu entzünden, als ein Gewehr.

Es war eine große Ehre, zur Bürgerwehr zu gehören. Man marschierte in der besten Gesellschaft.

Trotzdem hatte Spreemann jedesmal eine Heidenangst, daß sein eigenes, schweres, großes Gewehr, oder gar das seines Vorder- oder Hintermannes von selbst losgehen könne, und noch mehr fürchtete er, daß er selbst einmal damit schießen sollte.

Der Mann, der das Pulver erfunden hatte, der hätte vor allen andern das Hängen verdient. Das war auch so ein Streitpunkt am Stammtisch. Der Lehrer nannte den Pulvererfinder einen Wohltäter. Herr Jung meinte ganz wie Herr Spreemann, daß der Mensch nicht umsonst Schwarz geheißen habe. Er war ein Teufelskerl.

Dieses Schritt und Tritt und Schritt und Tritt zwischen den Gewehrmündungen entfernte Spreemanns Gedanken also ganz von der Angst um Madame Lieschens Befinden. Aber zum Glück war auch heute niemand mehr da, als die Bürgerwehr angerückt kam. Der Schloßplatz war leer, wie eine Kirche am Wochentag. Nur zwei Gendarmen gaben sich dem boshaften Märzwind preis und meldeten dem Führer der Wehr, daß zwei Männer, die sich mit roter Krawatte angesammelt hatten, den Beweis aufbringen konnten, daß sie nur ihre Frauen erwarteten, die bei einer Schneiderin waren und daher ganz natürlicherweise ihre Ehemänner stundenlang warten ließen.

Die Bürgerwehr stand stramm und machte kehrt.

Auch Herrn Spreemanns Gedanken drehten sich. Was mochte inzwischen bei ihm zu Haus geschehen sein?

Eilig polterte er mit seinem schweren Gewehr die Treppe hinauf.

Schon auf dem ersten Absatz hörte er ein Geschrei wie von jungen Katzen. Grauen beschlich ihn! War das Lieschen? War ihr Verstand gestört? Hätte er nicht solche Angst vor dem Gewehr gehabt, er hätte sich auf der Stelle ein Leid angetan.

So lief er weiter. Im Flur stand der Sanitätsrat und ließ sich von der Magd einen Fidibus geben, um endlich wieder seine Pfeife anzuzünden.

»Da sind Sie ja,« rief er vergnügt bei Spreemanns Anblick – »ich gratuliere. Verwendung für beide Reservekassen. Zwei kräftige Berliner.«

»Richtige Jungen? Männliche?« stammelte Spreemann.

Die Magd fing angstvoll ihres Dienstherrn Gewehr auf, das er achtlos von der Schulter rutschen ließ.

»Natürlich, mit allem, was dazu gehört,« antwortete der Sanitätsrat lachend.

»Wohin mit dem Gewehr?« schrie Spreemann die Magd an, »daß es – jene Jungen nicht etwa in die Finger bekommen. Auf den Boden damit.«

Der Sanitätsrat verschluckte sich vor Lachen.

»Unbesorgt. Die sind noch lange nicht reif zur Bürgerwehr,« gluckste er hervor. Und dann beeilte er sich, fortzukommen. Da hatte er einen fertigen Spaß für seine Patienten.

Er riet nur noch Spreemann, rasch zu Madame Lieschen zu gehen, die schon besorgt um ihn wäre. Dann lief er prustend davon.

Spreemann hatte nie gewußt, daß Menschen so klein sein können. Aber er gewöhnte sich daran. Als ihm versichert wurde, daß selbst Könige in diesem jugendlichen Zustand nicht größer waren, gefiel es ihm sogar. Er fand es drollig, daß sie stets die Händchen ballten, wie wenn sie etwas darin versteckt hielten. Daß es zwei waren, fand er ganz natürlich. Er hatte oft genug zwei Taler verdient, wo er nur auf einen gerechnet hatte. Von nichts kommt man nicht vorwärts.

Aber er wurde furchtbar erregt, wenn sie schrien, und hatte eine grenzenlose Hochachtung vor Lieschen, die diese zappelnden Zwerge zu drehen und wenden und zu beruhigen verstand. Er flüsterte nur noch, aus Furcht, sie zu wecken. Er wurde ein Akrobat, was das Gehen auf Fußspitzen betraf.

Lieschen aber lächelte. Sogar im Schlummer.

Zum erstenmal spürte sie, daß sie um ihrer selbst willen da war. Begriff sie, daß sie kein herrenloser Hund mehr war, sondern eine reiche Frau, die geborgen in einem breiten Bette liegen konnte, wenn sich draußen die Unruhe der Frühe regte und der neue Tag schonungslos zur Arbeit rief . . .

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Doch auch auf Zehenspitzen geht die Zeit ihren Weg, nimmt und gibt, färbt und feilt, schenkt und stiehlt. Ohne Hände, ohne Werkzeug. So daß wir oft genug erst lange nachher spüren, daß sie am Werk gewesen.

Bald konnte Spreemann seine Zwillinge mühelos unterscheiden. Denn Hans, der seine Weltreise etwas früher begonnen als sein Bruder und darum der ältere genannt wurde, hatte plötzlich einen dicken Haarschopf auf dem kahlen Köpfchen. Braun wie Manchestersamt. Über Christians zarter Stirn aber flockte sich auf einmal ein blonder Flaum. Gelb wie Nanking-Seide. Sie waren nicht mehr zu verwechseln.

Sie gaben sich alle Mühe, komplette Bürger zu werden.

Als der gute Bratenduft der Martingans durch die warme Wohnung zog, streckten sich aus den kleinen Gaumen die ersten weißen Zähne hervor.

Die waren allerdings nicht heimlich gekommen.

Einen ganzen Monat lang war Spreemann die Nächte hindurch auf und ab marschiert und hatte einem schreienden Leinenbündel killekill zugewispert. War er unermüdlich bemüht gewesen, durch den tanzenden Zipfel seiner Nachtmütze oder die hüpfende bunte Quaste seines Schlafrocks lächelnde Ruhe bei seinem Nachwuchs zu erzwingen.

Sein Lieschen hatte dieses Los redlich geteilt, nur daß sie ein klingelndes Glöckchen anwandte und türüllülü flötete.

Der ganze Profit dieser Mühen waren vier Zähne gewesen. Es fehlten somit noch dreißig pro Mund. Summa summarum sechzig.

Sanitätsrat Knapp steckte seinen tabakbraunen Zeigefinger in die kleinen Münder und stellte wenigstens den Besitz dieser ersten Zähne wissenschaftlich fest.

»Ein Wunder ist diese menschliche Maschine,« sagte er und nahm befriedigt eine Prise. »Ein Wunder an Feinheit und Zuverlässigkeit,« fügte er hinzu und mußte niesen.

Spreemann sagte: »Zum Wohl!« Aber er schüttelte den Kopf dabei.

Ein Wunder ist nur, was sich unerwartet ereignet. Das konnte niemand von diesen Zähnen behaupten.

Spreemann schüttelte noch einmal den Kopf und sagte:

»Daß alle Menschen das durchmachen müssen, unglaublich.«

»Als Kinder?« fragte der Arzt.

»Als Eltern,« antwortete Spreemann.

»Ach so. Ja, sehen Sie, lieber Freund, zwei auf einmal, das ist auch ein ganz besonderes . . .«

Sanitätsrat Knapp unterbrach sich. Er hätte beinahe Malheur gesagt. Aber nun sagte er eilig:

»Glück. Ein ganz besonderes Glück.«

Spreemann schwieg.

Knapp räusperte sich und stand auf.

»Nun muß ich zu Ihrem Verwandten, dem Gerbermeister,« sagte er, als er in seinen schweren Pelz kroch. »Leider steht es nicht gut mit dem Alten.«

Spreemann rechnete nach, daß er noch vor drei Tagen am Stammtisch gewesen.

»Was will das sagen, mein Lieber. Fünfundsiebzig Jahre und Grippe. Der große Kalendermann rechnet genau.«

Sanitätsrat Knapp gab jedem der Zwillinge einen zärtlichen Klaps auf ihre rundeste Stelle. Dann ging er.

Klaus und Lieschen blieben nachdenklich zurück.

Aber da kam der Lehrling herauf und meldete, daß die Madame Bankier nur vom Herrn Prinzipal selbst bedient sein wolle. Und so konnte das Ehepaar nur rasch übereinkommen, am morgigen Sonntag Onkel Albert zu besuchen.

Doch schon am Abend war die Trauerbotschaft da. Onkel Albert hatte keine Rücksicht auf die Pläne seiner Verwandten genommen.

Sein Begräbnis war die erste Feierlichkeit, wo Lieschen seit ihrer Hochzeit die ganze Familie wiedersehen sollte. Spreemann führte die Mutter seiner Zwillinge feierlich am Arm, als man zwischen den Gräberreihen dem Sarge nachschritt. Madame Spreemann trug einen großen Immortellenkranz und eine neue Pelzgarnitur, die mit allem Glanz der Grabsteine wetteifern konnte. Ein großer breiter Schal und eine große Muffe, alles aus hellem Nerz. Spreemann hatte Lieschen damit überrascht. Sie sollte zeigen können, wer Madame Spreemann war. Wenn es ihm auch lieber gewesen wäre, wenn er diesen Einkauf hätte im Frühling machen können, wo Pelze die Hälfte kosten. Aber für solche traurigen Ereignisse gab es leider keinen festen Termin.

Auch war das Geld dafür nicht weggeworfen. Schon eine Woche später mußte sich alles, was noch da war, um einen neuen Sarg versammeln. Madame Ziehlke, die ihren Mann nie gern allein ausgehen ließ, folgte ihm eilig. Und Sanitätsrat Knapp hatte wieder einmal der Natur ihren Lauf lassen müssen.

Nun hatte der Sohn die Gerberei und bald eine Frau. Die Töchter stritten sich um die elterlichen Möbel. Madame Ziehlkes Heiligtum, eine Vitrine aus Glas und Ebenholz, mit Regalen aus lila Sammet, schuf bittere Feindschaft zwischen ihnen. Denn jede Tochter wollte sie in ihre Mühle haben, und beide vergaßen, daß sich zwar eine Mutter teilen läßt, aber kein Schrank. Selbst wenn er noch so schön und fein ist.

Sie hatten also reichlich untereinander zu tun und wenig Zeit, sich um die Familie Spreemann zu kümmern.

Dagegen hatte sich Tante Karoline wieder eingestellt. Sie kam häufig und immer häufiger.

Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen. Der Russe hatte Mariechen geheiratet. Aber er hatte sie auch nach dem großen Rußland mitgenommen. Nun war sie allein. Ganz allein.

Wie anders sehen Wünsche aus, wenn sie erfüllt sind.

Karolines Gesicht war verändert. Es war schlaff geworden, seit es nicht mehr von aufreizender Erwartung gespannt war. Um ihren Mund lag das nachsichtige Lächeln weißhaariger Menschen.

 

Sie freute sich an den Zwillingen und fand, daß sie sich genau so benahmen, wie es ihr Mariechen in ihrem Alter getan.

Nur wenn die Frau Kreisrätin zu Besuch kam, reckte sie sich auf, erzählte von Mariechens Wohlstand und sagte in ihrem alten Ton:

»Es soll ja ein ganz enorm großes Reich sein, dieses Rußland. Nicht einmal die Sonne geht darin unter.«

Ganz wie wenn Mariechen die Zarin selbst geworden wäre.

Aber wenn die Rätin gegangen war, lächelte sie wieder mild und müde und war dankbar und zufrieden, daß sie noch hier bleiben konnte, wo Worte und Schritte, ja, sogar Kinderstimmchen durch die freundlichen Stuben schallten.

Bei ihr war es still wie in einer Gruft.

So ersetzte sie den Zwillingen die Großmama. Und Lieschen, die niemals Verwandte gehabt, holte sich manchen weiblichen Rat bei ihr.

Aber auch Spreemann kamen ihre Besuche durchaus gelegen. Er sah ein, daß zu einer ordentlichen Familie eine Großmama nötig war. Zumal da, wo es Zwillinge gab. Er trat alle seine Rechte an sie ab.

Er sprach lang und viel mit ihr über Menschen und Kinder. Er hatte sich das Vatersein friedlicher vorgestellt. Man wurde doch von allen Seiten dazu beglückwünscht. Das fand er übertrieben.

Tante Karoline aber malte ihm aus, wie die Zwillinge in Matrosenanzügen zur Schule gehen, wie sie mit feinen Seidenschlipsen hinter dem Ladentisch stehen würden und erinnerte ihn daran, wie rasch und gründlich die Zeit arbeitete. Sie selbst war ein Beweis dafür. Es war ihr oft wie ein Traum, daß es nicht ihr Mariechen war, das sie da zappelnd im Arm hielt. Daß es nicht ihr Seliger war, der da draußen die Tür aufschloß und nun hereinkommen würde, um zu fragen, ob es Pellkartoffeln mit Hering gäbe. Denn das war sein Lieblingsgericht gewesen.

Spreemann hörte ihr geduldig zu, aber als sich die Zwillinge um die Weisheitszähne zu mühen begannen, meinte er doch, daß es Kinder unter sechs Jahren nicht geben sollte.

Es war das erstemal, daß der solide und praktische Herr Spreemann Unmögliches begehrte.

Aber die Wirklichkeit nahm es ihm nicht übel und blieb ihm treu.

Rasch und emsig reihten sich die guten und mäßigen Säsons aneinander. Beinahe im Umsehen war der Tag da, wo Hans und Christian mit neuen Kittelanzügen, einen Lederranzen auf dem Rücken, quer über den Platz zur Schule trabten.

Die Bäume hatten die ersten Knospen angesteckt. Die Spatzen zwitscherten und flatterten frühlingsvergnügt zwischen Pferdebeinen und Bäumgezweig. Alles war genau wie damals, als Spreemann mit der Bürgerwehr anmarschiert kam und seine Zwillinge vorfand.

Ein kleiner Schreck durchzuckte ihn, als er ihnen nun hinter der Ladenscheibe nachblickte. Über die sonnigen Steine hüpften sie ihren ersten Pflichten entgegen. Sie spielten zwar Eisenbahn, Hans war die Lokomotive und Christian der Kohlenwagen. Aber sie fuhren doch ins wirkliche Leben hinein.

Spreemann räusperte sich. Beinahe hätte er der kurzsichtigen Madame Inspektor zehn Zentimeter übers Maß gemessen. Aber zum Glück merkte er es noch, ehe es zu spät war. In größter Geschwindigkeit verlegte sein gewandter Zeigefinger den Start für die Schere um zwölf gute Zentimeter zurück. Das war die Geschicklichkeit, von der er zu seinen Angestellten sagte, daß sie einem guten Kaufmann angeboren sein müsse.

Es war merkwürdig still heute vormittag. Wunderlich genug, daß einem auch das Gepolter rollender Holzkugeln, das Knattern von Knallerbsen fehlen konnte. Madame Lieschen guckte ein paarmal in den Laden hinein. Aber sie hatte verweinte Augen.

Doch schon nach einigen Tagen hatte man sich an die Ruhe gewöhnt. Man fand sie sogar angenehm.

Auch machte es Spreemann nicht wenig Spaß, als die Jungen überall nun herumzubuchstabieren begannen und bald auch in seinem Laden langsam und ernsthaft entzifferten:

»In Lon–don nicht, noch in Pa–ris,

In Brüs–sel nicht, noch Wien,

Klei–den Mon–si–eur sich und Ma–dame

So schick wie in Ber–lin.« Hans konnte den Spruch bald auswendig. Christian behielt nur die letzte Reihe.

Des Nachmittags sprangen sie nun vor dem Laden herum. Sie umkreideten die Pflastersteine und teilten sie in Erde, Himmel und Hölle, über die sie auf einem Bein hinwegsprangen. Die Hölle verlangte einen besonders großen Sprung. Hansen gelang es immer.

Christian aber plumpste häufig hinein.

Überhaupt Christian.

»Er ist nicht dumm,« sagte Lieschen. »Er denkt nur langsam.«

Aber wenn ihr die Kinder in der Küche nachsprangen und Hans sofort die Eier und Löffel nachzuzählen begann und bei allem fragte, was es koste und was es wert sei, worauf man also zu antworten wußte, dann hatte Christian nachdenklich den Finger im Mund und erkundigte sich, wer die allererste Henne gemacht, die das allererste Ei gelegt habe. Es war nicht leicht mit dem Jungen.

Hans wußte bald seine Schulkenntnisse zu verwerten. Als er auf seinem Butterbrot ein Pfefferkorn in der Wurstscheibe fand, holte er es rasch heraus, um es in einen Blumentopf zu pflanzen. Damit Pfeffer wüchse und er einmal als Erwachsener keinen zu kaufen brauche. Christian aber hatte sein Pfefferkorn zerbissen. Seine Zunge brannte. Seine Augen tränten. Aber er sah sehr hübsch aus mit dem blonden Haar, dem zarten Teint und den schlanken Gliedern. So recht herrschaftlich.

Daher kam es wohl, daß Spreemann eines Abends in die Reservekasse für Christian einen heimlichen Extrataler gleiten ließ. Die ganze Nacht darauf schlief er unruhig, wie ein Verbrecher. Er hatte schwere Träume. Und am andern Morgen nahm er den Taler wieder aus der Kasse heraus. Ehrlich währt am längsten.

Aber daß ihm wunderlich wohl wurde, wenn Christian auf seine Knie hüpfte und Väterchen sagte, konnte er nicht hindern. Der Junge sprach so oft etwas aus, was er selbst als Kind gedacht hatte, was er aber niemals hatte weiter denken können, weil er vor allen Dingen hatte reich werden wollen. Reich. Aber Christian rief ihm seit langen Jahren wieder die Landstraße vor Augen. Das Wandern neben dem Vater, mit seinen hohen Stulpenstiefeln, von deren heimlichen Schätzen er noch nichts ahnte. Des Vaters Bild wurde so deutlich. Sein Wesen ihm so verständlich. Sich selbst aber stellte er sich vor wie Christian.

Tante Karoline und Lieschen sagten, daß der brünette, stämmige Hans der ganze Vater wäre. Klug, flink und praktisch, sparsam und überlegt. Auch sie hatten recht.

Aber der Mensch ist Erde. Aus Tausenden von Stoffen geheimnisvoll zusammengesetzt . . .

»Ich möchte noch erleben, was aus den Jungen einmal wird,« sagte Tante Karoline. »Der Christian hat ganz was von einem Künstler.«

Und sie erzählte lang und breit von ihren Erfahrungen, die sie mit einem Opernsänger gemacht, der einmal in ihrer guten Stube wohnte. Sie hatte ihm bald gekündigt. Das wäre nie etwas für Mariechen gewesen.

Doch Spreemann war ärgerlich geworden. Er sagte, daß er sich solche Reden über Christian verbitte. Der Junge sei vollkommen normal. Was aus den Jungen werden sollte, war doch nicht schwer zu erraten. Sein kluges Lieschen hatte dies gewußt, ehe sie da waren. Seine Kompagnons. Seine Nachfolger.

Aber auch ihm wär's recht gewesen, wenn sich die Jungen hätten beeilen können mit dem Wachsen. Ihre Vaterstadt gab ihnen dazu ein kräftiges Beispiel. Die Häuser schossen immer mehr in die Höhe, drängten sich enger und enger aneinander. Selbst vor den Toren begann man zu bauen.

Spreemann sah es mit Staunen, wenn er am Sonntag nachmittag mit Lieschen, Tante Karoline und den Jungen hinaus nach Moritzhof wanderte. Überall veränderte es sich.

Draußen unter den Bäumen traf man die Verwandtschaft. Die Mühlenbesitzer und den jungen Gerbermeister. Der eine Müller hatte nun seine Mühle in Schöneberg.

Während man die saure Milch aus den Näpfen löffelte, sprachen die Männer von Politik und Wochenumsatz, die Frauen von Kindern und Kleidern. Hier verkehrte das beste Publikum, hier sah man bald, wie es um die Mode stand. Lieschen hatte wachsame Augen. Sie gab Spreemann, auf dem Rückwege, manchen nützlichen Wink. Das Geld für dieses Sonntagsvergnügen war nicht auf die Straße geworfen.

Die Jungen aber fuhren Boot oder angelten und störten hier niemand.

Es war ein Plätzchen, wie vom lieben Gott selbst gemacht, sagte Tante Karoline. Der lange Weg fiel ihr schon recht beschwerlich. Aber sie wollte dabei sein.