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Das verbrannte Bett

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Auch darin glaubte Herr Blümel Ausnahme zu sein, wieder mit Recht.

Denn Herr Blümel gewahrte jetzt eine Bekannte und vergaß sich selbst so weit, daß er sogar den Gruß der Höflichkeit unterließ.

Fräulein Konstanze Krause war rasch an Herrn

Blümel vorübergeschritten, an den scherzenden Damen und dem lächelnden Weinbergbesitzer.

Sie ging nicht allein.

Neben ihr wandelte, lang wie ein Kirchturm, daher selbst diese hohe Blonde überragend, eine jener männlichen Gestalten, deren gerader steifer Rücken nur als Rüstung des Hochmuts zu bezeichnen war. Einer von denen, deren Evangelium der Sport ist. Jene Art von Menschen, die nie warten. Die stets kurz vor Schluß der Schalterstunden, nie früher als eine halbe Minute vor Abfahrt eines Zuges kommt und weder unruhig noch mit dem Höflichkeitslächeln der Entschuldigung. Gegenstück und natürliches Ärgernis jedes Beamten.

Kein Wunder, daß sich Herr Blümel auch hier gereizt fühlte.

Genaue Betrachtung zeigte noch weizenblondes Haar unter blauer Sportmütze, blaues Jackett und weiße prallsitzende Beinkleider.

Eine Bekleidungsart, in der Herr Blümel niemals einer Dame seine Begleitung zugemutet haben würde.

Weiße Beinkleider hielt Herr Blümel für weibisch, unpraktisch und auch sonst nicht für anständig.

Seine Kollegen, besonders die jüngeren, diese Meinung nicht teilend, hatten wiederholt um Begründung dieser strengen Beurteilung aufgefordert.

Herr Blümel hatte nähere Äußerungen zur Beweisführung abgelehnt. Nur geantwortet, daß es Dinge gäbe im menschlichen Leben, wo allein Instinkt Nichtiges einzugeben vermöge. Wer aber findet Recht und Verständnis bei Kollegen?

Dies alles nur nebenbei. Im Augenblick überlegte Herr Blümel nur, wie er feststellen könnte, ob er sich als gescheit und kombinationsfähig ansehen dürfe?

Er hatte sich nämlich gesagt, daß dieser Hochmütige niemand anders sein könne als Herr Udo von Silken, einmal von Fräulein Konstanze flüchtig erwähnt während eines Walzers im Schönbrunner Park.

Sie hatte von diesem Herrn gesagt, auf Adel reime man leider heute Tadel. Dazu geseufzt.

Herr Blümel hatte daraus geschlossen, daß sich geschäftliche Verdrießlichkeiten an diesen Herrn knüpften.

Nichts natürlicher also, als daß Herr Blümel sein Vermutungsvermögen gern auf die Probe gestellt hätte und darum Fräulein Konstanze zu begrüßen suchte.

Nur um dadurch die Bekanntschaft des Weizenblonden herbeizuführen und dadurch wiederum feststellen zu können, in welcher Eigenschaft dieser mit Fräulein Konstanze in Wien herumzuspazieren beliebte. Alleinstehende müssen Menschenkenntnisse zu sammeln suchen, wo sie sich bieten.

Das blonde Paar hatte plötzlich kehrtgemacht und schritt nun auf die Menschengruppe zu, in der Herr Blümel nachdenklich stand.

Auf diese rasche Wendung war Herr Blümel nicht vorbereitet.

Er hatte weder Zeit gefunden, sich von den Damen zu verabschieden, noch sich Worte der Begrüßung zurechtzulegen.

Zu alledem kam hinzu, daß gerad im Augenblick des Vorüberkommens jener beiden Fräulein Jolanthe neckisch, die plötzliche unverständliche Zerstreutheit des Herrn Kanzleioffizials verspottend, ihn mit dem Zeigefinger ihres weißen Handschuhs auf die Schulter tippte.

Weibliche Intimitäten, noch dazu offensichtlich am hellen Tage, mußten auf Herrn Blümel mehr als peinlich wirken.

Ob Fräulein Konstanze diese Bewegung bemerkt, war nicht gewiß. Ihr kühler, klarer Blick barg sich im Schutz der langen Wimpern wie hinter einem Vorhang.

Fräulein Jolanthe hatte inzwischen die gleiche Handbewegung an dem jungen Weinbergbesitzer verübt.

Herrn Blümel verhalf dies zu rascher Verabschiedung. Äußerlich lächelte er, solang ihn die Damen im Auge hatten.

Alle diese Vorkommnisse verwirrten Herrn Blümels Zielsicherheit. Er unternahm erst einige Schritte in verkehrter Richtung, eilte zu spät dem Ausgang zu.

Fräulein Konstanze und ihr Begleiter waren nirgends mehr zu sehen.

Neue Fragen bedrängten Herrn Blümel. Hatte ihn die junge Dame gesehen? Hatte die Unterlassung des

Grußes von seiner Seite Beleidigung verursacht? Hatte man ihn nicht sehen wollen, hatte man absichtlich zu zeigen gewünscht, wie wenig ein Kanzleioffizial zu bedeuten hatte im sommerbelebten Weltall?

Fragen, die man an sich selbst stellt, kann man sich auf das beruhigendste beantworten. Herr Blümel machte von diesem Vorteil ausgiebigen Gebrauch. Aber leider glauben wir uns selber am allerwenigsten …

* * *

Herr Blümel war wieder in seinem Zimmer. Dies dünkte ihm jedoch nicht mehr die sichere Burg, die es ihm bisher gewesen.

Nach dem heutigen Nachmittag war es nicht mehr unmöglich, daß an seine Tür geklopft wurde, daß ihm die Damen des Hauses Einladungen, Aufmerksamkeiten, Anfragen zukommen ließen. Kurzum, daß damit begonnen wurde, seine Ruhe zu unterminieren.

Herr Blümel überlegte, ob wir überhaupt leben können, wie wir wollen? Ob unsere Handlungen, unsere Wünsche nicht von unserer Umwelt bestimmt werden?

Herr Blümel versuchte jedes Hüsteln, Räuspern, ja beschleunigtes Atmen zu unterdrücken, um seine Anwesenheit zu verbergen, somit jedem Störungsversuch von außen vorbeugend. Sozusagen inkognito im eigenen Zimmer zu sitzen.

Denn er wünschte ungestört nachdenken zu können.

Aber merkwürdig genug, der ganze Mensch mag noch so nachgiebig sein, kein Teil seines Körpers läßt sich etwas befehlen, was er selbst nicht will.

Herrn Blümels Kehle hatte Laune, gerade heute zu kitzeln, kratzen, ihren Besitzer zum Räuspern zu zwingen. Kein Unterdrückenwollen überwältigte ihren hartnäckigen Willen.

Herr Blümel konnte sich nur dadurch helfen, daß er gleichzeitig den Fensterflügel knarren ließ und also diesen zu verdächtigen suchte, Urheber dieses Geräusches im leeren Zimmer zu sein.

Diese Doppelbetätigung behinderte natürlich die Nachdenklichkeit.

Herr Blümel mußte überlegen, was zu unternehmen sei, um endlich wieder auf den geordneten Gang seines Lebens zurückzukommen, äußerlich wie innerlich.

Zum äußeren Gleichmaß hätte es gehört, daß er um diese Stunde im oder vor dem Café am Graben anzutreffen gewesen wäre, um sich durch Zeitungslektüre um den Betrieb der Welt zu kümmern. Über verschiedene Vorkommnisse würde man heute Weiterführung oder Aufklärung erhalten. Da war der kleine nette Skandal in der Oper zwischen den zwei berühmten Kolleginnen, die sich im Kostüm der Walküren gegenseitig ein wenig angespien hatten. Sicher oder wenigstens sehr möglich, daß die Zeitungen heute schon Gewißheit brachten, welche von beiden den edlen Wettkampf begonnen hatte. Das war eine Frage, die im Augenblick ganz Wien beschäftigte. Worauf Wetten geschlossen wurden in Büros und Kanzleien. Denn mit seinen großen Künstlern glaubt der Wiener Bescheid zu wissen.

Außerdem hatte es in Japan wieder ein Erdbeben gegeben. Grauenhafte Einzelheiten darüber sollten heute in einer Extrabeilage gebracht werden. Dann war die Geschichte des leergefundenen Sarges auf dem

Währinger Friedhof, die auch noch ihrer Aufklärung harrte.

Gar nicht zu reden von der Politik aller europäischen Staaten, die wieder einmal dem amüsantesten Schachspiel nichts nachgab.

Der Herr im fleckigen Bratenrock fraß sich gewiß längst durch alle köstlichen Neuigkeiten durch. Ungestört. Er würde triumphieren, sähe er den Herrn Kanzleioffizial hier sitzen, mit nichts beschäftigt, als Fensterflügel windbewegt knarren zu lassen.

Und warum das alles?

Hatte sich Josef Blümel Selbstvorwürfe zu machen? Oder war er Opfer seiner Umwelt? Deutlicher gesagt, Opfer allzugroßer Lebhaftigkeit verschiedener Femina?

Warum hatte sich Fräulein Konstanze Krause damals unaufgefordert von irgend jemandem an den gleichen Tisch gesetzt, den der Kanzleioffizial sich mit Kennerblick ausgewählt hatte?

Warum hatte sie diesen Platz wählen müssen?

Warum?

Hatte sie besonderes Vertrauen zu diesem einzelnen Herrn gehabt? Oder hatte sie ihn für unbedeutend, für ein Nichts genommen, wie wenn sie sich einen leeren Tisch zu eigen machte? Oder hatte Sympathie unbewußt ihre Schritte geleitet? Wie das vorkommen soll. Wenn Herr Blümel auch nicht daran glaubte.

Herr Blümel fühlte Mattigkeit, er bemerkte, daß ihm der Kaffeetrunk, gewohnt, belebend fehlte.

Sollte er doch noch das Café aufsuchen, wenn auch verspätet?

Herr Blümel ertappte sich bei der schreckhaften Möglichkeit, Fräulein Konstanze wieder neben dem langen Weizenblonden begegnen zu können.

Er glaubte, jede persönliche Ursache bei dieser Empfindung des Unwillens ausschalten zu können. Sie war auf nichts anderes zurückzuführen als auf angeborene Gegensätzlichkeiten. Kontrast zwischen Parademarsch und Schubertlied …

Bei dieser Überlegung bemerkte Herr Blümel ein kleines Paketchen, bisher übersehen, vor sich auf dem Tisch.

Zufolge des zufälligen Erinnerns an Fräulein Konstanze im gleichen Augenblick, glaubte er zuerst, es könne sich um eine Sendung von Fräulein Konstanze handeln. Gedanken nehmen auch bei Klardenkenden unverhütbar vollkommen unmotivierte Seitenwege. Man könnte dies Gedankenlosigkeit der Gedanken nennen.

Erst nachdem der Herr Kanzleioffizial mit verschiedensten Vermutungen, welcher Art weiblicher Neckerei, Aufmerksamkeit, Anspielung, Überraschung dies Päckchen bergen mochte, viel überflüssige Zeit verloren hatte, überzeugte ihn energisches Zugreifen, daß es sich um etwas handelte, das er selbst dorthin gelegt.

Es war die Streichholzschachtel, die er sich heute morgen dort zurechtgelegt hatte, um sie nachmittags

umzutauschen. Sie war, obwohl voll bezahlt, mangelhaft gefüllt. Sie enthielt siebenundfünfzig Hölzer, anstatt der vorgeschriebenen Zahl Sechzig.

Es war erstaunlich, wie wenig Menschen sich bewußt waren, wieviel Zündhölzer eine normale Streichholzschachtel zu enthalten hatte. Und wie wenig von diesen wenigen sich die Mühe nahmen, die Schachtel auf ihre Vollständigkeit zu revidieren. Auf solchen Leichtsinn aber baut der Spekulant. Diese Flüchtigkeit ist es, die den Schwindlern Häuser errichtet. Diese Trägheit, diese Bequemlichkeit mästet die Unredlichkeit. Diese Faulheit bringt den Fleiß Ehrlichgewillter zur Fäulnis.

 

Erregung steigerte sich in dem Herrn Kanzleioffizial bei diesen Feststellungen. Er fühlte, daß er eine Mission zu erfüllen habe.

Rasch erhob er sich, griff die Schachtel und ging dem Zigarrenladen zu, wo er sie gestern gekauft hatte.

Der Ladeninhaber, Herr Feigl, kannte die Gewohnheiten des Herrn Kanzleioffizials, ohne sich darüber zu erregen. Man muß die Kunden nehmen, wie sie sind. Bei sich selbst gab er es zu, Querulanten sind es, die die Konkurrenz anschüren, die Qualität auf gleicher Höhe zu halten, wenn nicht zu steigern.

Ohne Umstände zu machen, wechselte er die Schachtel aus, versichernd, daß, wenn auch diese mangelhaft gefüllt, er zu weiterem Umtausch jederzeit bereit. Nur die bedauernde Bemerkung gab er als Beigabe, daß er selbst durch andere Geschäfte verhindert sei, selbst alle Streichholzschachteln durchzuzählen.

Und gesellte, als der Herr Kanzleioffizial gleich im Laden die Durchzählung vornahm, noch die Nachdenklichkeit hinzu, daß es doch gut wäre, daß es Junggesellen gäbe. Sie hielten die Genauigkeit, die Korrektheit auf der Welt instand. Bewahrten die Pedanterie vor dem Aussterben. Ein Ehemann, der vergaß bald Sehen und Hören für solche Einzelheiten. Wer drei oder vier Köpfe zu erhalten hat, verliert den eigenen. Das wäre eins der merkwürdigen Rechenexempel des Bürgerlebens.

Diese Worte verdrossen Herrn Blümel. Was berechtigte diesen fremden Menschen, Herrn Blümel als lebenslänglichen Junggesellen abzustempeln? Konnte Herr Josef Blümel nicht schon in wenigen Wochen ebensogut ein Ehemann sein, wie es so viele andere waren? Bildete sich dieser kleine, runde Ladeninhaber ein, daß der Herr Kanzleioffizial nicht imstande wäre, Eindruck auf Frauen zu machen, daß er, als Bewerber eines schönen Mädchens, unweigerlich abschlägigen Bescheid erhalten würde?

Erst als Herr Blümel dreiundsiebzig Zündhölzer in einer Schachtel gezählt hatte, merkte er über dieser Unmöglichkeit, daß seine Gedanken wieder auf Nebensächliches abgewichen waren.

Nicht oft genug kann vor Gedanken gewarnt werden. Selbst im Ordentlichsten treten sie derartig massenhaft auf, daß er ihrer nicht dauernd Herr werden kann. So hatte auch Herr Blümel vergessen, daß er selbst dem Sprecher vor ihm erst kürzlich versichert hatte, daß er sich niemals selbst halbieren würde, indem er sich zur Hälfte eines Paars machen würde.

Unsere Mitmenschen erinnern sich unserer eigenen Worte genauer als wir selbst. Darum kennen sie uns auch besser, als wir selbst in uns Bescheid wissen …

Herrn Blümels verdrießliche Blicke verfingen sich am Telephon.

Wie, wenn er sich jetzt mit Fräulein Konstanze verbinden ließ? Nur um diesem rechthaberischen Tropf von Ladeninhaber zu beweisen, daß auch Junggesellen andere Zerstreuungen kennen, als Streichhölzer abzuzählen, rhythmischen Gründen ausgeprägten Ordnungssinns folgend?

Außerdem berechnete Herr Feigl seinen Kunden keine Ferngespräche.

Nachdem Herr Blümel die Nummer des Hotels gerufen, räusperte er sich stark.

Ohne eitel zu sein und nicht etwa, um einen besonders wohllautenden Stimmeindruck zu machen.

Er hielt es für seine Pflicht darauf zu achten, sich nicht mit heiserer Stimme an Mitmenschen zu wenden, die man durch den telephonischen Anruf gewissermaßen zu einem Gespräch zwang.

Rücksichtnahme ist ein Luxus. Sie wirft keinerlei Gewinn ab im scharfen Lebensgang.

Der Portier des Hotels, mit der Stimme abgenutzter Mechanik, rief auf die wohllautende, leise, doch präzis hörbar gesprochene Frage kurz und schnell zurück, daß Fräulein Krause soeben abgereist wäre.

»Allein?« rief der Herr Kanzleioffizial wieder zurück.

Seine Stimme, Unbeachtheit nutzend, klang nun doch heiser, total heiser.

Keine Antwort kam zurück.

Nicht viele glauben so genau zu wissen, wann Verbindungen zu unterbrechen sind, wie ein gutgeschulter Hotelportier …

* * *

Wissen gibt Sicherheit. Herr Blümel hätte sich unbesorgt vor unliebsamen Begegnungen Café und Zeitung zuwenden können.

Merkwürdigerweise war ihm jedoch jetzt gleichgültig geworden, was sich in Japan Entsetzliches begeben hatte. Selbst naheliegende Neuigkeiten, wie den Kampf der Sängerinnen, glaubte er entbehren zu können.

Schließlich verfügten wohl alle diese Leute über Nahestehende, die mit ihrem Schicksal verknüpft waren und deren Pflicht es war, sich um sie zu kümmern.

Der Lindenduft heute abend war unerträglich. Diese gesteigerte Süßigkeit der Luft drängte sich in alle Blicke und Bewegungen. Der Zuckergeschmack des Blütenduftes legte sich auf die festverschlossensten Lippen.

Lächerlich, aber man wurde gezwungen, an zärtliche Berührung verschiedenster Art zu denken.

Im Stadtpark perlten zudem Wiener Walzertakte, vortrefflich gespielt.

Blümel, der Wiener, bedurfte solcher Abendmusik wie der Münchner seines Bierschoppens.

Heute dünkte ihm dies alles zusammen beinah zuviel.

Er fühlte sich einsam.

Vor wenig Wochen noch hätte der Herr Kanzleioffizial jeden für närrisch gehalten, der ihm zu sagen gewagt hätte, er könne sein Alleinsein einmal bedauern.

Immerhin durfte sich Herr Blümel zu seiner Rechtfertigung sagen, daß er sich dieser Schwäche voll bewußt war. Obendrein mutig genug war, sich selbst die Schuld daran zuzuschieben. Fehler, die man einsieht, sind halbe Fehler.

Jedoch mußte sich Herr Blümel eingestehen, daß gerad aus halben Sachen gern ganzes Unglück entsteht.

Ein Mann seiner Gesinnung, von seinen Grundsätzen hätte jeder weiblichen Bekanntschaft aus dem Weg gehen müssen, ohne Ansehen der Persönlichkeit.

Wie er es bisher durchgeführt hatte. Für Pflichtmenschen darf es keine Ausnahmen geben. Ausnahmen sind Selbstbetrug. Jeder Betrug jedoch untergräbt die Ruhe und somit die Lebenskraft.

Denn alle Gespräche wirken nach. Selbst wenn sie im Freien geführt worden und sofort vom leichten Sommerwind verweht schienen. Sie leben, wirken, wachsen weiter. Kein Hauch, keine Bewegung im Weltall ohne Nachwirkung. Wer das weiß, wer sich dessen bewußt geworden, hätte nicht so leichtsinnig handeln dürfen, wie es sich Herr Blümel jetzt vorzuwerfen hatte.

Bei gleichem Walzerklang hatte Fräulein Konstanze behauptet, daß alle Kinder schön wären.

Diese Worte wehten wieder hervor in dem Lindenduft.

Herr Blümel konnte nichts daran ändern. Vor Naturgesetzen muß jede Tatkraft haltmachen.

Herr Blümel, solchem Zwang gehorchen müssend, fühlte sich genötigt, über Fräulein Konstanzes Behauptung nachzudenken.

Er überlegte, ob es nicht Pflicht eines nach Ehrsamkeit, Vervollkommnung Strebenden wäre zu versuchen, einer Vaterstadt, die als Kleinod der Kultur galt, tadellose Mitbürger zu schenken.

Ein Sohn, in die Welt gesetzt, mit männlich reifer Überlegung und bei vollem Bewußtsein, würde vielleicht eines jener nützlichen, förderlichen, notwendigen Individuen werden, wie sie die Welt stets dringend benötigt, zumal die einer alten Kultur.

Vielleicht lohnte es sich, die Masse der kleinen Sorgen aufzuladen, um ein Geschöpf aufwachsen zu sehen, das alle Vorzüge besaß, die man sich selbst gewünscht hatte. Stattliche Figur, Kühnheit in Wort und Blick, Sicherheit im Reisen, Raschheit des Entschlusses im Umgang mit jedermann. Einer von denen, die durch die Spiegeltüren der Luxusgeschäfte so geschickt und vertraut aus- und einzugehen verstehen wie der Fromme durch die Dompforten. Einer, der zu Haus im tiefen Sessel sitzt, im flauschigen oder seidenen Hausrock, je nach der Jahreszeit, und der niemals erfährt, wie leicht ein bis zur Fadenscheinigkeit gebürsteter Beamtenrock Staub annimmt und allmählich eng wird wie eine Zwangsjacke.

Solch Liebling des Geschicks vermochte möglicherweise auch einer von jenen zu werden, die auf den Feldern der Kunst und Wissenschaft blühten. Auch solche wuchsen schließlich nicht aus dem Erdboden. Im Gegenteil, sie entstammten oft recht bescheidener Herkunft. Jede Zeitung brachte täglich Beispiele davon.

Wenn sich Herr Blümel nicht irrte, leitete man im allgemeinen Spezialeigenschaften des Genies vom Wesen der Mutter her.

Trotz Geringschätzigkeit aller Weiblichkeit wollte sich Herr Blümel dieser Möglichkeit nicht verschließen.

Im besonderen Ausnahmefall. Für die Entwicklung der Nachkommenschaft zu sorgen, war nun einmal eigenstes Gebiet der Frau. Hier war sie sozusagen als Fachmann hinzunehmen.

Der Walzer verklang. Die Luft wurde kühler, Tau schluckte dem Blütenduft die allzu große Weiterwirkung fort.

Herr Blümel sagte sich, daß er dieses Vaterproblem nur rein theoretisch mit sich erörtert hatte.

Ein Lokomotivenpfiff fegte den zarten Nachklang der Dreivierteltakte scharf hinweg. Der aufdringliche Ton durchschnitt Herrn Blümels Grübelei. Aber er zwang auch seine immer bereite Nachdenklichkeit dazu, ganz unfreiwillig an Reisende zu denken und damit schließlich an das die Sommernacht durchfahrende Fräulein Konstanze. Reiste sie allein? Falls dem Weizenblonden Begleitung gestattet war, würde er sich gewiß korrekt benehmen. Vermutlich aber auch mit aller kavaliermäßigen Übertreibung der Höflichkeit, die auch von Frauen ernster Anschauung leider übermäßig geschätzt wurde.

Die Musik hatte wieder eingesetzt. Ein einzelnes Waldhorn spielte: »Ach wer doch so mitreisen könnte in der herrlichen Sommernacht.«

Niemals hatte Herr Blümel so deutlich bemerkt, welch plumpes Instrument das Waldhorn war. Wie begrenzt seine Taktmöglichkeiten.

Dieses Geblase trieb Herrn Blümel immer weiter aus dem Stadtpark fort, schließlich über die Donaubrücke dem Prater zu.

Erst als es zu spät war, wurde er sich bewußt, daß er vom Regen in die Traufe gekommen. Hier tobten die grellen Orgeln der Karusselle, Rutschbahnen und Schaukeln in ungehörig zusammengeschweißten Tonsprüngen wildverschlungen durcheinander.

Erst einmal hier ungewollt dazwischen, war es kein Wunder, daß sich Herr Blümel der tätowierten Dame im perlenverhangenen Zelt erinnerte.

Wie das so ist, sie wurde Herrn Blümel sogar zum Probefeld seiner Gedächtnisprüfung. Herr Blümel wunderte sich wieder selbst einmal, wie wenig leichtsinnig er veranlagt war. Denn das einzige, was ihn im Augenblick mit diesem verfänglichen Feld beschäftigte, war die Selbstprüfung, wieweit sich sein trainiertes Gedächtnis auf die einzelnen Tätowierungen festgelegt hatte. Sich ihrer erinnerte, klar und bestimmt in der Zeichnung an sich wie auch insbesondere der Körperteile, an denen sie angebracht waren.

Er stockte plötzlich nicht ohne Erschrecken. War die Kraft seines Gedächtnisses im Abnehmen? Er wußte plötzlich nicht mehr, ob der merkwürdige Anker mit Pfeil und Stern sich unter der linken Achsel befunden hatte oder unter der rechten?

Er konnte nur hoffen, daß der Grund dieser Gedächtnisschwäche in der Gleichgültigkeit lag, die er dieser Unwichtigkeit beigemessen hatte.

Immerhin, ein Mann der Gewissenhaftigkeit muß alles, was er gesehen und was er erlebt, so genau wissen, daß er es beschwören könnte.

Einmal im Zweifel an seinem Wissen foltern, bohren, zwacken ihn Nachdenklichkeit, Ungewißheit, es zu versuchen, selbst mit Opfern zu erlösender Genauigkeit zurückzufinden.

Rettungspflicht gegen sich selbst zwang ihn, die Unwissenheit des Halbwissens gegen exakte Zweifellosigkeit einzutauschen, wo es die Möglichkeit dazu gab.

Und die war da. Herr Blümel war zufällig direkt vor das Zelt geraten.

Gerad wurde die tätowierte Schöne einen Augenblick lang, verschleiert, sichtbar hinter schnell zurückgeschlagener und wieder niederfallender Zeltwand. Während ein Tamtam derart ungehörig lautschmetternd geschlagen wurde, daß man die eigene Wirbelsäule sich wie einen Schlangenleib schlängelnd zu fühlen glaubte.

Der Anpreiser, vorm schmalen Zelteingang mit Türkenmütze und Schärpe breitbeinig aufgepflanzt, rief, daß nur die schönen Damen hereinzuspazieren brauchten. Wenn Eva vorangehe, folge Adam nach.

Darüber ärgerte sich Herr Josef Blümel ernstlich.

Dieses herabgekommene Individuum von Marktschreier setzte wieder einmal die ganze Männlichkeit herab, zugunsten dieses sogenannten schönen Geschlechts.

Ein wahrer Mann braucht keine weiblichen Vorbilder. Weder bei großen Entschlüssen noch bei kleinen.

Resolut und aufrecht schritt der Herr Kanzleioffizial, die Perlenstreifen teilend, in das Zelt hinein als erster und einziger.

Moschus und Tätowierung mischten sich hier zu merkwürdigem Dunst.

 

Der Herrn Blümel anekelte.

Dafür erfreute er sich jedoch bald der Erleichterung, feststellen zu können, daß sich seinem Gedächtnis noch nicht die geringste Verminderung nachsagen ließ.

Der Anker mit Pfeil und Stern befand sich genau an der Stelle, wo ihn der Herr Kanzleioffizial gemutmaßt hatte.

Die Tätowierte war kitzlich. Ein bekanntes Merkmal für Unbeherrschtheit des Weibtums. Aber Herr Blümel, beeifert von seinem gewissenhaften Feststellungswunsch, ließ sich weder beirren noch hindern.

Doch achtete er diesmal auf seine Brieftasche.

Als er das Zelt verließ, sagte er sich, wenn ich manchmal tue, was viele andere tun, so tue ich es weder aus Frivolität noch Gewohnheit, sondern aus Gründen der Hygiene sowohl wie denen des Mitleids und der Nächstenliebe. Und auch dies, nur bezwungen von zufälligen Umständen, also nicht aus eigenem, freiem Willen …

Am andern Morgen fand der Herr Kanzleioffizial Blümel einen neuen jungen Beamten in das gewohnte Viereck der Kanzlei gerückt.

Herr Blümel, Feind jeder Art von Veränderung und heute Morgen nicht ganz unbelastet in der privatesten Abteilung seines Gewissens, prüfte den Neuling scharf.

Er war bedeutend jünger als Josef Blümel. Steckte in ihm der vorzeitige Nachfolger?

Josef Blümel blickte noch schärfer.

Der Neue nannte seinen Namen und fügte reichlich viel Verbeugung hinzu.

Damit war weder viel gesagt noch getan.

An Namen war nur bemerkbar, daß der Höfliche den gleichen Rufnamen mit Josef Blümel teilte.

Herr Blümel mußte plötzlich an Josef I., Josef II. denken, an Kaiser und Könige, die hintereinander regierten, die einander ablösen mußten, ob der vordere wollte oder nicht.

Jedesmal, wenn Josef Blümel in das Café am

Graben ging, versagte er es sich nicht, den kleinen Umweg um die Kapuzinerkirche zu nehmen, in deren Gruft vierundvierzig Kaiser und Kaiserinnen, Erzherzöge und Erzherzoginnen ruhten, darunter die große Maria Theresia. Was hatten sie nun von ihrer Herrlichkeit? Josef Blümel war nur Kanzleioffizial, bescheiden im Budget, aber er lebte. Unerhört wohltuend war es bei solcher Feststellung, die Beine zu großen Schritten zu bewegen, in das Café zu treten, den Duft der braunen Wunderbohne schon vorschmeckend einzuatmen.

Beim Durchblitz solcher Rückbezüglichkeiten hatte Josef Blümel am linken Ringfinger des Neuen den glatten Goldreif bemerkt, der in seinen Augen jeden Mann entmännlichte.

Dieser schmale Goldstreifen war vielsagender als Namensnennung, Lächeln und Verbeugung. Er verriet Herrn Blümel, daß, der ihn trug, hartnäckig, rücksichtslos, eisenfest nach Titel, Beförderung, Besoldungsverbesserung strebte. Daß nach jedem Büroschluß auf ihn die Frage aus weiblichem Munde lauerte: »Nun?«

Auch Lächeln kann Drohung sein.

Aber Blümel war nicht der Mann, der sich mit seinem Erkennungsvermögen wichtig machte. Er ließ diesen zweiten Josef nichts von seiner Beobachtungskraft spüren.

Im Gegenteil, er erwiderte dieses Lächeln. Erhöhte den Wert heimatlicher Liebenswürdigkeit sogar noch durch einige verbindliche Begrüßungsworte und widmete sich dann seiner Pflicht.

Diese Überwindung ließ ihn bedenken, wie einsam, armselig ein Mensch sei. Er lächelt selbst denen zu, von denen er weiß, daß sie einmal seinem Leichenbegängnis beiwohnen werden, in Besorgnis, sich dabei zu erkälten und beschäftigt mit allen Ansprüchen des Lebenden.

Wehmut beschlich Herrn Josef Blümel. Ihm wurde fast übel. Er mußte den Kognak aus dem Wandschrank nehmen und ein Gläschen trinken.

Obwohl er das Lächeln der Kollegen hinter seinem Rücken fühlte.

Das gehörte auch zu den merkwürdigen Widersprüchen des Menschenlebens. Jeder belächelt den andern. Und jeder hat eigentlich recht.

Diesen Einfall hätte Herr Blümel nicht ungern Fräulein Konstanze übermittelt. Sie war eine gescheite Person. Es wäre aufmunternd gewesen, zu erfahren, ob auch sie schon diese Beobachtung festgestellt und welchen Standpunkt sie solchen Wahrheiten gegenüber einnahm.

Über Klugheit mußte man sich freuen, wo man sie fand. Eine gescheite Frau durfte man nicht kurzweg mit weiblich abtun. Wenigstens nicht der gerechte geradsinnige Mann, für den sich der Herr Kanzleioffizial zu halten berechtigt fühlte.

Der schmale Neuling mit dem Goldring benutzte die

Frühstückspause, um die Handschrift des Herrn Kanzleioffizials zu rühmen.

Lob ist ein Nichts. Herr Blümel wußte, daß es nichts an Menschen, Dingen und Tatsachen zu ändern vermochte. Sie sind, was sie sind. Auf dieser Nichtigkeit beruht es wohl, daß Lob niemals übel wirkt, selbst wenn es aus zahnfauligstem Mund kommt.

Diese Schmeichelei wirkte also auch auf Herrn Blümel weder abstoßend noch wohltuend. Die Exaktheit seiner Handschrift war dem Herrn Kanzleioffizial durchaus bekannt. Das erneute Hervorheben dieses Vorzugs brachte ihn jedoch auf die naheliegende und darum so sehr übersehene Möglichkeit, daß man Fragen an Entfernte handschriftlich stellen könne. Daß man sich auf diese Weise sogar vieles mitteilen könne, das mündlich schwieriger zu sagen wäre, weil man sekündlich Widerrede erwarten konnte.

Zumal Herr Blümel bei aller Separatachtung vor Fräulein Konstanze nun doch noch nicht überzeugt war, ob nicht auch sie plötzlich von der Sprachgewandtheit aller Weiblichkeit Gebrauch machen könnte.

Es bedurfte nur des Erinnerns an Fräulein Jolanthe und ihre Frau Mutter gestern im Park von Belvedere. Was war nicht alles geschwatzt worden. Das ganze Weltall mit allem Zubehör, mit allen seinen Daseinsmöglichkeiten, war zwischen diesen gepflegten, goldplombierten Damenzähnen zum Ragout vermengt worden während des kurzen Zusammentreffens. Zurückbesinnen auf jene Minuten brachte Herrn Blümel wieder ins Gedächtnis, daß ihn Fräulein Konstanze mit diesen beiden Damen gesehen hatte und der Mangel einer Begrüßung seinerseits ernste Beleidigung verursacht haben könnte.

Herr Blümel war kein Weiberknecht, aber Wiener genug, um keine Frau beleidigen zu wollen.

Es wurde ihm jetzt klar, daß es seine Pflicht war, an Fräulein Konstanze zu schreiben.

Allerdings, Fräulein Konstanzes Wohnung in Berlin war ihm unbekannt. Doch konnte diese vermutlich durch Fräulein Steffi Pichler in Erfahrung gebracht werden.

Trotzdem würde Herr Blümel, allein um seiner Ritterpflicht gegen Fräulein Konstanze zu genügen, nicht den Laden des Fräulein Steffi betreten haben. Allzu große Umstände konnte ihm nun einmal keine Angelegenheit wert sein, die mit Weiblichkeit verknüpft war.

Es traf sich nur zufällig so, daß Herr Blümel ohnedies den Pichlerschen Laden hätte aufsuchen müssen, um sich ein Paar Sommerhandschuhe zu kaufen, die auffallend billig ausgezeichnet auslagen im Schaufenster. Auch in der Mariahilferstraße würde sich kaum Preiswerteres entdecken lassen, dagegen bestand stets die Gefahr, seiner Brieftasche beraubt zu werden im Gedräng dieser überfüllten Geschäftsstraße.

Alles Gründe genug, um sich endlich in den Kreis von Fräulein Steffis Kundschaft einzureihen, in den man durch die Nachbarschaft vom Graben-Café von Rechts wegen längst gehört hätte.

Außerdem war Herr Blümel durchaus noch nicht fest entschlossen, sich bei diesem notwendigen Einkauf nach der Adresse von Fräulein Konstanze zu erkundigen oder überhaupt von der jungen Dame zu sprechen. Wenn nicht etwa Fräulein Pichler selbst das Gespräch auf diese gemeinsame Bekannte bringen würde.

Zwar wieder nach einigem Nachdenken schien es Herrn Blümel als die Pflicht primitivster Menschlichkeit, Erkundigung einzuziehen, warum Fräulein Konstanze unvorbereitet schnell hatte abreisen müssen? Ob etwa gar Trauerbotschaft aus Familienkreis Ursache dazu gewesen sei.

Herr Blümel empfand für jeden, der solcher Art in seiner Lebensfreude getroffen wurde, reichliches Mitgefühl. Ohne Unterschied des Geschlechts. Mensch ist Mensch …

Wehmütig war Herrn Blümel zumut, auch noch, als er aus dem Büro den gewohnten Weg zum Graben ging.

Obwohl es ein strahlender Hochsommertag war und milder Südwind den Hauch des Wiener Waldes über die Stadt fächelte.

Herr Blümel aber erblickte Trübseligkeit auf Schritt und Tritt. Trotzdem er sich bewußt war, daß solche Betrachtungen als lebensverkürzend galten. Und er sie gar nicht nötig hatte. Er mußte überall Fadenscheinigkeit bemerken, die sich angstvoll versteckte hinter aufdringlichem, buntem Luxus. Edle Gesichtszüge, verunstaltet durch Verbissenheit der Enttäuschung. Überall flitzten die Kinder der Armen hindurch, deren Augen niemals jung blicken. Überall hörte er Krückengeklapper, Bettlergemurmel, Einsamkeitsgestöhn. An den Häusern zählte er die vielen Fenster, die der heißen Sommerluft verschlossen waren, Kranke, Sterbende vermutete er dahinter.