Himmel und Hölle

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VIII. Was in dem Dorfe Haramont von 1810 bis 1814 weiter geschah

Nach diesem zweiten schauerlichen Heulen Bernhards sagte Bastian zu Ehrlich:

»Wirst Du deinen Hund schweigen lassen?«

»Ich kann wohl zu Bernhard sagen, wenn Bastian im Wasser liegt: »geh Bernhard und hole Bastian heraus,« ich kann aber nicht zu ihm sagen, wenn Bastian sprechen will: »schweig, Bernhard.«

»Du kannst ihn also nicht zur Ruhe bringen?« entgegnete Bastian. »So werde ich es übernehmen, wenn er noch einmal heult.«

»Bastian,« sagte darauf Ehrlich mit seiner überreden: den Stimme, »reibe Dich nicht an Bernhard, ich rate es Dir.«

»Warum?« fragte Bastian.

»Warum? Weil er Dich nicht leiden kann.«

»Der Hund kann mich nicht leiden? Ha! Ha! Und warum denn nicht?

Ehrlich richtete seine so klaren und so sanften, großen blauen Augen auf Bastian und antwortete:

»Weil Du mich nicht lieb hast, Bastian, und Bernhard, der mich liebt, alle die nicht leiden kann, welche mich hassen.«

Niemand sagte etwas auf diese melancholische Antwort und erst nach einiger Zeit murmelte Bastian:

»Dummheit! Ich hasse Dich nicht, im Gegenteil.«

Und er reichte Ehrlich die Hand, der sie lächelnd nahm. Bernhard aber richtete den Kopf empor, streckte die Zunge heraus und leckte die beiden Hände Ehrlichs und Bastians.

»Da siehst Du, dass er mich nicht hasst?« fuhr Bastian fort, der das Wort »hassen« in seiner Art aussprach.

»Weil Du im Grunde doch gut bist, entgegnete Ehrlich, »und manchmal Dir selber sagst, dein Übelwollen gegen mich sei ungerecht.«

Die Meinung, welche Ehrlich mit diesen Worten aussprach, bezeichnete das, was in dem Herzen Bastians vorging, so bestimmt und richtig, dass der Husar nichts darauf zu antworten vermochte und das Gespräch lieber auf etwas Anderes brachte.

»Nun,« sagte er, »Ihr wollt durchaus ein anderes Lied haben?

»Ja, ja,« antworteten Alle.

»So will ich Euch eine fingen und noch dazu ganz so wie es dort gesungen wird, wo das Lied zu Hause ist. Aber dazu muss ich mich erst verkleiden.«

»Wieso verkleiden?« fragte der Bursche.

»Ja, die Mädchen werden mich mit ihren weißen Händchen als altes Mütterchen kleiden, sonst, gute Nacht! Singe ich nicht.«

»Darauf soll es uns nicht ankommen,« meinten die Mädchen. »Was brauchen wir?«

Weiter nichts als eine Haube, ein Brusttuch und eine Schürze, auch ein Spinnrad; vielleicht verwirre ich den Faden etwas, aber — wenn man Eierkuchen backen will, muss man Eier zerschlagen, wie man beim Regimente sagt.«

Und nach seiner uns schon bekannten Gewohnheit setzte er schnarrend hinzu:

»Ach, beim Regimente war's eine Luft!«

Da nun alle Gegenstände, welche Bastian verlangte, nicht schwer herbeizuschaffen waren, so hatte er sich bald in ein spinnendes altes Mütterchen verwandelt, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, müssen wir gestehen, dass als Bastian mit dem langen Schnurrbarte, eine Weiberhaube auf dem Kopfe, ein Busentuch züchtig auf der Brust zusammengesteckt, eine Schürze. vorgebunden, eine Brille auf der Nase, mitten in dem Keller vor das Spinnrad sich setzte, das Rad mit dem linken Fuße drehte und mit der rechten Hand den Faden auszog und befeuchtete, der Triumph, nach dem er strebte, vollständig war, und Alle, selbst Mariechen, laut lachten und in die Hände klatschten.

Nur Bernhard schien noch immer unruhig zu sein, aber diese Unruhe beschäftigte nur Ehrlich, der einzusehen anfing, dass derselben irgendetwas zu Grunde liegen müsse. Bastian aber begann in näselndem Tone und spinnend sein Lied:

Wie ist's doch so schön,

Wie ist's doch schön

Zu zweien im Wald,

Im grünen Wald,

Spazieren zu gehn!

Zu Vieren wird's langweilig gar bald,

Doch schön ist's, schön,

zu Zweien gehn.

Schnurr! Schnurr! Schnurr!

Es versteht sich von selbst, dass das »Schnurr« den Ton des sich drehenden Spinnrades bezeichnen sollte. Leider können wir auf dem Papiere den Ton, mit dem Bastian sang, und die Gesichter, die er dabei schnitt, nicht wiedergeben, sonst würden wir gewiss auch auf die Leser denselben Eindruck hervorbringen, wie der Husar auf die Gesellschaft, nämlich lautes Lachen erregen.«

Der Anfang machte ihm Mut und so fuhr Bastian fort:

Es guckt da, mein Schatz,

Dein Mädchen rund

Am Röckchen bunt,

Und ziehst Du auch hoch hin den Latz

Bis an den Mund,

Die Brust bleibt rund.

Schnurr! Schnurr! Schnurr!

Ich fass' Dich am Kinn,

Nicht sträube Dich,

Lass küssen Dich,

Du weißt nicht, wie gut ich Dir bin.

Wie Lieb’, erfreut,

Erfahre heut!

Schnurr! Schnurr! Schnurr!

Wie ist's doch so schön,

Wie ist's so schön

Zu Zweien im Wald,

Im grünen Wald,

Spazieren zu gehn!

Zu Vieren wird's langweilig gar bald;

Doch schön ist's, schön,

Zu Zweien gehn!

Schnurr! Schnurr! Schnurr!

Kaum war Bastian mit seinem Refrain zu Ende gekommen, als Bernhard unter den lauten Beifalle der Bursche und Mädchen, als habe er nur auf den Augenblick des Schlusses gewartet, den Gesang fortsetzte, aus den tiefen Tönen in die höchsten hinaufstieg und den Keller mit dem schauerlichsten Geheul erfüllte, dass menschliche Ohren jemals gehört hatten.

Selbst Bastian hatte diesmal den Mut nicht, dem Hunde zu drohen.

Es folgte demnach dem Geheul eine noch schauerlichere Stille. Plötzlich aber, mitten in dieser Stille, sprang Ehrlich auf und rief die schrecklichen Worte aus:

»Feuer!«

Gleichzeitig hörte man auf dem Kirchturm mit allen Glocken stürmen, während die Dorfbewohner draußen entsetzt riefen: »Feuer! Feuer!« Der entsetzlichste Ruf, den die menschliche Angst ausstoßen kann, ist gewiss der Ruf: »Feuer!« besonders wenn er in einer finstern Sturmnacht unter schauerlichen Glockentönen erschallt.

Auch stürzten auf diesen Ruf die Bursche und Mädchen sogleich aus dem Keller hinaus, eilten auf die Gasse und folgten dem Menschenstrome, der nach Nordwesten zog.

Über den Häusern des Dorfes leuchtete am Himmel greller Schein, der mit jedem Augenblicke stärker wurde, und in den sich Funken mischten, welche der Wind mit den schwarzen dicken Rauchwolken dahin trieb.

Kaum waren die Bursche und Mädchen an den letzten Häusern des Dorfes angekommen, wo die Aussicht nicht mehr hemmte, als sie den Umfang des Unglücks in seiner ganzen Ausdehnung ermessen konnten.

Das Gut Longpré stand in Flammen.

Mariechen erblickte den Vater Kleine, der mit übereinander geschlagenen Armen auf einem Steine stand, dem Brande zusah und nicht zu Hilfe eilte, wahrscheinlich weil er recht wohl wusste, dass der Beistand, den ein alter Mann unter solchen Umständen leisten kann, ganz nutzlos ist.

»Mein Gott, Vater Kleine, sagte Mariechen, was ist's denn?«

»Du siehst's ja,« antwortete der Alte.

»Aber . . .«

»Die eigensinnige Julie hat das Heu noch feucht eingefahren, ob ich es ihr gleich gesagt habe, und nun wird es sich von selbst entzündet haben.«

»Die arme Julie! die arme Julie!« klagte Mariechen.

Julie war die Frau, welche Mariechen alle Tage acht Maß Milch zum Verkaufen gab.

Da die Leute aus dem Dorfe wie versteinert stehen geblieben waren und dem Feuer zusahen, wendete sich das Mädchen zu Bastian, Ehrlich und den andern jungen Burschen und sagte:

»Ihr Mannsleute, lauft doch und helft, helft!«

Ihre Worte hatten eine elektrische Wirkung, denn bis auf Vater Kleine und ein Paar alte Männer, die unbeweglich und starr am Ende des Dorfes stehen blieben, eilten alle dem Schauplatze des Unglücks zu.

Feuer ist im Allgemeinen das Unglück, bei dem man am wenigsten das allgemeine Mitleid anzuregen braucht. Jeder fürchtet, wenn er die entsetzlichen Wirkungen sieht, für sich selbst Feuerschaden und beeilt sich, gewissermaßen sogar aus Selbstsucht und selbst mit Gefahr die Flammen auszulöschen.

Das brennende kleine Gut stand an der andern Seite der Schlucht und war in gerader Linie kaum fünfhundert Schritte entfernt, aber man musste den Berg hinunter und wieder hinauf, was die Entfernung verdoppelte.

Je näher man kam, umso deutlicher erkannte man in dem hellen Schein des Feuers die, welche zuerst angekommen waren, erschrocken um den Glutherd herum liefen oder in nutzloser Weise zu helfen suchten.

Wie es Vater Kleine gesagt hatte, so war es: die Scheuer brannte, aber von ihr aus verbreitete sich die Flamme bald zu den andern Gebäuden.

Mariechen, Ehrlich und Bastian kamen nach wenigen Minuten an und ihnen folgten die Andern.

Die zuerst angekommen waren, hatten die Tür aufschlagen müssen. Julie war wahrscheinlich zum Besuch in der Nachbarschaft gewesen, der Knecht in der Schenke und die Magd bei dem Schatze.

Als man in den Hof trat, hörte man das Vieh brüllen. Man weiß, welchen seltsamen Eindruck das Feuer auf die Haustiere macht; gewöhnlich kann man sie da nicht fortbringen, wo sie sind, und sie bleiben im Stalle, Pferde, Rinder, Schafe, bis der Tod sie erfasst.

Die zuerst Angekommenen hatten Alles versucht, um die Pferde, Kinder und Schafe zu retten, aber das gewöhnliche Widerstreben gefunden, und so war die arme Julie der Gefahr ausgesetzt, nicht nur die Gebäude niederbrennen zu sehen, sondern auch dabei all ihr Vieh zu riskieren, was sie in gänzliche Armut stürzen musste.

 

Hier zeigte sich indes recht auffallend die eigentümliche Macht, welche Ehrlich über die Tiere besaß. Er ging in den Stall hinein und redete zu den zitternden Pferden, die in ihrem Entsetzen sich losgerissen, sich zusammengestellt hatten und nach Jedem schlugen, der ihnen nahen wollte; auf die Stimme Ehrlichs aber richteten sie den Kopf empor und wieherten, dann trat Ehrlich hinzu trotz dem Rauche, setzte sich auf eines der Pferde und brachte es leicht durch die Tür in den Hof, wohin das andere folgte.

Er pfiff in eigentümlicher Weise, brachte sie so an einen sicheren Ort und befahl dem Bernhard, sie da zu bewachen, was der Hund auch sofort übernahm.

Darauf ging Ehrlich in den Kuhstall, wie er früher in den Pferdestall gegangen war und zwar gerade auf den Stier zu, der brüllend mit den Hörnern das Stroh umher warf. Er fasste ihn an den dampfenden Nüstern und zog ihn nach sich. Er war ganz demütig und folgsam geworden. Sobald die Kühe den Stier gehen sahen, folgten sie ihm, und nach wenigen Augenblicken befanden sich alle bei den Pferden, unter der Obhut Bernhards.

Es blieben nun die Schafe noch übrig. In deren Stall, der bereits brannte, brauchte Ehrlich gar nicht hineinzugehen; er rief an der Tür so wie die Schäfer rufen und sofort stürzten sie sich wie eine Lawine heraus unter Sprüngen und Blöcken, womit sie sowohl das Entsetzen, das sie empfunden hatten, als die Freude über die Rettung ausdrückten.

Die Bauern hatten Ehrlich diese dreifache Arbeit, die man für unmöglich gehalten, mit Staunen und einer Art Verehrung verrichten sehen. Bastian namentlich, den die Pferde geschlagen, die Kühe gestoßen hatten, und der, um ein Schaf herauszubringen, dasselbe hatte herauftragen müssen, war gar nicht abgeneigt, Ehrlich für einen Hexenmeister zu halten, denn auf dem Lande glaubt man noch an Hexenmeister und schreibt ihnen die außerordentlichsten Wunder zu. Nur sieht diese Wunder Niemand, während Ehrlich vor Aller Augen und als verstehe sich das so von selbst, Dreierlei getan hatte, was alle Andern für unmöglich gehalten.

Die Bauern standen um ihn herum, als ob ihnen von dem so »blöden« Jünglinge irgend eine Inspiration kommen müsse, vor welcher das Feuer zurück weiche oder erlösche, als man plötzlich ein grässliches Schreien hörte, anfangs in der Ferne, nach dem Turme von Vez zu, aber es kam von Sekunde zu Sekunde näher. Es war herzzerreißendes Frauenschreien, das gar nichts Menschliches an sich hatte, und in dem man nur die Worte verstand, welche freilich alles erklärten: »Mein Kind! mein Kind! Rettet mein Kind!«

Julie war es, die atemlos herbei lief, mit fliegendem Haare, mit ausgestreckten Armen. Sie hatte ihr kaum dreijähriges Kind der Magd überlassen, die es eingeschlossen hatte, und in das Dorf Bonneuil gegangen war, weil sie wusste, dass Julie bei ihrem Vater in Vez war, und die Nacht dort bleiben wollte.

Von Vez aus hatte aber Julie das Feuer gesehen, sie hatte erkannt, dass ihr eigenes Gut brenne, war fortgelaufen, und auf dem Wege mit einem Mädchen zusammengetroffen, das ebenfalls so schnell als möglich nach dem Feuer lief. Dieses Mädchen war die unglückselige Magd, welche die Folgen ahnte, die ihre Unvorsichtigkeit haben konnte, und so rasch als möglich lief, um wenigstens das Kind noch zu retten.

Sobald die arme Mutter das Mädchen erblickte, erriet sie alles, und begann mit der Kraft, dem Mute, der Wut einer Mutter, mit dem herzzerreißenden Geschrei, das man von Weitem gehört hatte, von Neuem ihren atemlosen Lauf. Alle schauerten, als sie den Ruf hörten: »mein Kind, mein Kind! Rettet mein Kind!«

Man hatte die Pferde, die Kühe, die Schafe gerettet, dabei aber die Flammen das Wohnhaus ergreifen lassen, dass man für ganz menschenleer hielt, da man Niemanden von der Familie sah; man hatte das Vermögen der Witwe gerettet, das Feuer aber das Leben verzehren lassen.

Alle traten bei Seite vor dieser Frau, die mit solcher Gewalt an die Tür schlug, dass sie aufsprang, aber mit der einbringenden Zugluft schienen auch von allen Seiten die Flammen hervorzubringen.

Die Treppe brannte.

Julie wagte sich in das Innere hinein, aber man eilte ihr nach, man hielt und zog sie zurück.

Da verdoppelte sie ihr Jammergeschrei, die Arme emporgestreckt nach den Fenstern, die von den Flammen hell erleuchtet waren, und in der Glut zersprangen, hatte sie nur den einen, den schrecklichen Ruf, das Jammern der Mutter:

»Mein Kind! mein Kind! mein Kind!«

Mariechen sah um sich und erkannte, dass alle Männer bestürzt und mutlos da standen. Man suchte nach Ehrlich, aber er war verschwunden.

»Bastian!« rief sie, Bastian, sehen Sie die arme Mutter nicht?

Ach, Herr Bastian,« fiel auch Julie ein, »Sie sind Soldat, Sie fürchten nichts.«

»Ja,« entgegnete Bastian, »das ist gerade so als sagten Sie zu mir, Bastian, springe einmal von dem Kirchturm herunter. Ich werde nicht zurück kommen können, aber gleichviel, ich will's versuchen.«

»Und er sprang in das Haus hinein unter dem Zurufe: »Mut, Bastian, Mut!« Diese Rufe kamen von allen Lippen, oder vielmehr aus allen Herzen; aber trotz der ermutigenden Zusprache gelangte der Husar kaum bis zur Hälfte der Treppe; da musste er zurück weichen vor den mächtig andrängenden Flammen.

Das Haar und der Bart war ihm verbrannt.

»Ach, Bastian, Bastian, mein Retter!« rief Julie, »noch einen Versuch!«

Bastian machte den Versuch noch einmal, und verschwand im Rauche, aber unter seinen Füßen brach die brennende Treppe zusammen, und er stürzte in glühende Trümmer hinein.

Die Hoffnung zu dem Kinde zu gelangen, musste also aufgegeben werden, da die Treppe zusammen gebrochen war.

Aber wenn auch alle die Hoffnung aufgeben, eine Mutter gibt sie nie auf.

»Durch das Fenster!« rief Julie. »Durch das Fenster! Es ist eine Leiter da, es muss eine Leiter da sein. Mein Gott, wenn ich die Leiter hätte, holte ich selbst mein Kind.«

»Dreitausend Schock Donnerwetter!« rief Bastian. »Die Leiter, die Leiter! Niemand außer mir darf das Kind holen.«

Aber man suchte die Leiter vergebens, und die arme Mutter rang in verzweiflungsvollem Wehklagen die Hände.

In diesem Augenblicke ließ sich eine sanfte Stimme über Alle hören, als käme sie vom Himmel herab.

»Platz, Platz!« rief die Stimme. »Da ist das Kind.«.

Man blickte empor, und bemerkte mitten in den Flammen und dem Rauche Ehrlich, der mit dem Kinde auf den Armen an das Fenster trat.

Er hatte die Leiter genommen, war damit durch den Garten gegangen, da durch ein Fenster in das Haus gestiegen, und bis zu dem Bettchen des bereits fast erstickten Kindes gelangt.

Dann wollte er auf dem Wege zurückkehren, auf dem er gekommen, aber nach dem Einsturz der Treppe waren die Flammen mächtiger aufgeschlagen, und der Weg nach jenem Fenster war ihm abgeschnitten.

Deshalb erschien er mit dem Kinde auf dem Arme am Fenster nach dem Hofe.

»Ein Tuch, eine Decke, in das ich das Kind werfen kann!« rief Ehrlich.

Ein paar Personen drangen in das Haus, die arme Mutter aber stand unbeweglich da, die Arme nach ihrem Kinde ausgestreckt.

Die, welche in das Haus sich gewagt hatten, kamen mit einer großen Decke zurück. Diese hielt man unter dem Fenster auf, und fasste die vier Zipfel recht fest.

Es die höchste Zeit; die Flammen drangen, wie wütend darüber, dass ihnen ihre Beute entrissen werde, heran, und umhüllten Ehrlich mit ihrem Feuer- und Rauchkreise.

Darum ließ er das Kind hinabfallen, sobald die Decke unten zum Empfange bereit war, und es kam wohlbehalten da an.

Die Mutter stürzte sich auf dasselbe, nahm es auf ihre Arme, und lief mit ihm wie eine Wahnsinnige davon.

Etwa dreihundert Schritte weiter sank sie mit ihm an einem Frimen (Getreidehaufen) nieder.

Was lag ihr an der Ernte, welche von den Flammen verzehrt wurde, was an dem einstürzenden Hause? Hatte sie aus diesem Unglücke nicht das Einzige gerettet, was das Leben einer Mutter ausmacht, ihr Kind?

In ihrer erhabenen Undankbarkeit hatte sie sogar Ehrlich vergessen.

Das Fenster war etwa zwanzig Fuß hoch.

Nachdem Ehrlich das Kind hinabgeworfen hatte, erhob er seine sanften Augen gen Himmel, schlug die Arme auf der Brust über einander, flüsterte einige Worte, und sprang hinab.

Er kam zwar auf die Füße, aber der Gegenstoß war doch so heftig, dass er wankte, einen Seufzer ausstieß und ohnmächtig niedersank.

Als er wieder zu sich kam, lag er im Hofe auf frischem Stroh; neben ihm kniete weinend Mariechen, und hielt seine linke Hand.

Bernhard leckte ihm winselnd die rechte, und beschnupperte von Zeit zu Zeit sein Gesicht, gleich als wolle er sich überzeugen, dass er nicht tot sei.

Zum Glück wussten die beiden Mütter, Frau Marie und Madelaine, von allem dem nichts, und als Ehrlich die Augen wieder aufschlug, begegnete er nur denen Mariens.

Er lächelte, und machte eine Bewegung, als wolle er ihr Gesicht den seinigen nähern.

In ihrer Freude vergaß Mariechen alles, sie schrie laut auf, und drückte ihre Lippen auf die Lippen des Jünglings. —

Mit Ausnahme ihrer Liebkosungen als Kinder, war es das erste Mal, dass die beiden Gesichter einander berührten. —

Da erkannten aber auch die beiden keuschen Kinder Etwas, das sie selbst bisher nicht geahnt hatten.

Sie hatten nicht aufgehört einander als Bruder und Schwester zu lieben, und fingen nun an einander als Liebende zu lieben.

Sie standen Hand in Hand auf, und traten mit Bernhard schweigend den Rückzug nach den beiden Häuschen an.

In der Mitte des Weges etwa begegneten sie den beiden Müttern, die ihnen entgegen kamen.

Sie hatten bereits gehört, welch großen Dienst Ehrlich der armen Julie geleistet, und wie diese dachten sie keinen Augenblick an die Pferde, die Kühe und Schafe, sondern sie riefen:

»Ach, mein Sohn, Du hast ihr also das Kind gerettet?«

Ehrlich lächelte, und antwortete nicht, Mariechen aber erzählte, was er in der schrecklichen Nacht getan. Diese Erzählung, die rein aus ihrem Herzen floss, und von Tränen der Liebe begleitet war, ging in alle Einzelheiten ein, und stellte Ehrlich als das dar, was er wirklich gewesen war, als den Vermittler zwischen der Vorsehung und dem Unglücke.

Die beiden Mütter hörten erstaunt die Erzählung Mariechens an, denn sie hatten das Mädchen noch nie so begeistert, sie hatten Ehrlich noch nie so seelenheiter gesehen.

Ohne dass es ihnen gesagt zu werden brauchte, errieten sie, dass der stille Wunsch ihrer Herzen in Erfüllung gegangen sei. Frau Marie führte Mariechen in die Arme Madelaine's, Madelaine führte Frau Marien Ehrlich zu.

Da gingen über die Lippen der beiden Kinder die leisen Worte:

»Frau Marie, ich liebe Mariechen.«

»Frau Madelaine, ich liebe Ehrlich.«

»Nun,« sagten darauf mit freudigen Seufzern die beiden Mütter: »das ist nichts Böses, Kinder; wir wollen mit dem Vater Kleine darüber reden.«

Vater Kleine war, wie man es sich wohl denken kann, der Lenker und Leiter des Geschickes in beiden Häuschen.

Gleich am nächsten Tage wurden ihm denn durch Madelaine die nötigen Mitteilungen gemacht.

Er hörte ernsthaft zu, und als Madelaine alles gesagt, was sie zu sagen hatte, antwortete er:

»Hm! wir wollen sehen.«

Da dies die gewöhnliche Antwort des Vaters Kleine war, wenn er in etwas willigen, in etwas nachgeben wollte, so hielten die beiden Familien dieselbe für eine Zustimmung, und die Freude, der Segen des Himmels, ließ sich zu den beiden Familien nieder.

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