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Corona Magazine #355: Dezember 2020

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From the series: Corona Magazine #355
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Rezension: Fallout Shelter – Das Brettspiel

von Bernd Perplies

Die Bomben sind gefallen, doch in 500 Metern Tiefe liegt euer VAULT-TEC-Vault, eine fröhliche und florierende Gemeinde – zumindest bis zum plötzliche Ableben eures Aufsehers. Jetzt liegt es an euch, für Sicherheit und Produktivität zu sorgen und eure Bewohner glücklich zu machen, denn wer die Wahl zum neuen Aufseher gewinnen will, braucht die höchste Zufriedenheit.

Wer jetzt denkt: »Wie bitte? Ein heiteres Brettspiel über das Leben in einem Atombunker nach einem Nuklearschlag? Das ist doch krank!«, der kennt offensichtlich Fallout nicht. Das Videospiel aus dem Jahr 1997 verstand es geradezu meisterhaft, die Ödnis und das Leid nach einem Atomkrieg zu vermitteln und mit seinen 1950er-Jahre-Retrofuturismus-Elementen dennoch für einen gewissen, leichtherzigen Bruch mit dem Schrecken zu sorgen. Dieser »schwarze Humor« wurde zum Markenzeichen des gesamten Fallout-Franchises, und so darf man weder Fallout Shelter, das Brettspiel, noch das App-Game, auf dem es basiert, allzu ernst nehmen. Wer das tut, sollte lieber etwas anderes spielen.


Fallout Shelter basiert, wie gesagt, auf der gleichnamigen Free-to-Play-Handy-App aus dem Jahr 2015 (später auch für Windows und Konsolen erhältlich), die eigentlich als Werbemittel für das »große« Videospiel Fallout 4 programmiert wurde, sich aber zu einem veritablen Hit in der Community entwickelte. In der App ist es die Aufgabe des Spielers, den eigenen Vault auszubauen, Bewohner anzulocken, Ressourcen zu produzieren und das alles gegen Feinde aus dem Ödland zu verteidigen, um möglichst langfristig möglichst hohe Zufriedenheitswerte zu haben. Wie so viele Free-to-Play-Spiele hat es praktisch kein Ende und baut darauf, dass der Spieler immer mehr will und immer mehr optimiert (woraufhin er dann vielleicht ein paar echte Euro für In-App-Käufe mit Bonusmaterial ausgibt).


Der Spielaufbau für eine Partie mit drei Spielern.

Das Brettspiel kommt da deutlich kleiner daher und verschiebt auch den Fokus etwas. Hier ist der letzte Aufseher eines schon mit sechs Räumen ausgebauten Vaults gestorben, und jeder Spieler mimt einen Anwärter auf die Nachfolge. Um sich zu beweisen, gilt es, ein eigenes Stockwerk in der Tiefe auszubauen und dabei möglichst viel Zufriedenheit zu sammeln. Zufriedenheit bekommt man durch den Bau neuer Räume, wenn die eigenen Vault-Bewohner Freizeiteinrichtungen nutzen dürfen, und durch den Sieg über Eindringlinge. Dabei wetteifern die verschiedenen Spieler um knappe Ressourcen und um die besten Räume und Ausrüstungsgegenstände, die in einer Auslage erworben werden können.

Gespielt wird in Runden, die relativ flott vonstatten gehen. Zu Beginn jeder Runde (die erste ausgenommen) wird gewürfelt, ob irgendwelche Gefahren – von der Maulwurfsratte über Feuer oder Stromausfall bis zu den fiesen Leuchtenden Rad-Skorpionen – in den Räumen auf jedem Stockwerk erscheinen. Dann werden die eigenen Bewohner platziert. Anfangs sind es nur zwei, aber man kann in mehreren Räumen neue rekrutieren – bis zu einer maximalen Zahl von sieben. Indem man seine Figuren in Räumen platziert, erhält man die Ressourcen Wasser, Nahrung und Energie, die gebraucht werden, um beispielsweise neue Räume zu bauen, Ausrüstung zu erwerben oder eben neue Bewohner zu rekrutieren. Nachdem alle Figuren platziert wurden, werden sie wieder zurückgenommen, und die nächste Runde beginnt.


Unsere Vault-Bewohner – in dynamischen Posen.

Ein kleines taktisches Zusatzelement in diesem klassischen Worker-Placement-Mechanismus ist das Trainieren von Bewohnern. Typisch für Fallout ist die Attributsleiste »S.P.E.C.I.A.L.«, die für Werte wie (C)harisma oder (I)ntelligenz steht. Trainiert man eine Figur in einer Runde in einem Wert und setzt man sie danach auf ein Raumfeld, das den entsprechenden Buchstaben aufweist, bekommt man die Belohnung (Ressourcen oder neue Bewohner) doppelt! Das lohnt sich nicht immer, weil man ja durch das Trainieren auch eine Platzierung verliert, aber manche Felder zweifach werten zu lassen, kann schon recht hilfreich sein – vor allem bei der Rekrutierung weiterer Figuren.

Gefahren werden mit einem Würfelwurf bezwungen, der durch Ausrüstung modifiziert wird und gegen einen Zielwert ausgeführt wird. Erreicht man den Wert, ist die Gefahr gebannt, und man wird belohnt. Ansonsten bleibt die Gefahr, und die eigene Figur ist verletzt und fällt einstweilen aus. Glücklicherweise gibt es auch Krankenzimmer, die solche Verletzungen heilen können. Das ist meist kein Problem, weswegen man vor Kämpfen, sofern es nicht gerade gegen Rad-Skorpione geht, nicht zurückschrecken muss.


Ein Spielerbereich nach einigen Spielrunden.

Eine Partie endet, sobald ein Spieler seinen sechsten Raum gebaut hat oder der Gefahrenstapel leer ist. Danach wird geschaut, wer die meiste Zufriedenheit sammeln konnte. Der Spieler wird unter dem Jubel aller Vault-Bewohner zum neuen Aufseher gekürt.

Abschließend noch ein Wort zum Spielmaterial. Das dürfte jedem Fallout-Fan die Freudentränen in die Augen treiben. Das beginnt bei der wunderschönen geprägten Spielschachtel in Gestalt einer Tin-Box (Blech-Brotdose). Das passt nicht nur perfekt zur App-Vorlage, sondern auch zur Atmosphäre von Fallout. Pedanten mögen sich darüber ärgern, dass sich so eine Dose schlecht in einem Brettspielregal unterbringen lässt, weil sie eben nicht den Standardboxenmaßen entspricht. Aber der Rest dürfte begeistert sein. Diese Begeisterung hält auch an, wenn man ins Innere schaut. Zum einen befindet sich ein Plastik-Inlay in der Box, worin sich nicht nur sämtliche Spielmaterialien absolut sauber verstauen lassen, die Aussparungen für die Spielkarten sind sogar absichtlich etwas größer, damit die Karten mit Sleeves hineinpassen. (Was oft genug bei Brettspiel-Inlays nicht der Fall ist.) Die Spielkarten sind liebevoll bebildert, die Vault-Bewohner als 7 unterschiedliche Miniaturen ausgeführt (die den Posen der S.P.E.C.I.A.L-Attribute entsprechen), und die Gefahren sind sogar auf Klarsichtkarten gedruckt, sodass man sie auf Räume legen kann und es den Eindruck erweckt, als befände sich die Gefahr plötzlich in dem Raum. Das ist schon fast mehr Liebe zum Detail, als bei diesem kleinen »Zwischendurchspiel« gerechtfertigt gewesen wäre. Beide Daumen hoch dafür!


Das Ende einer 2-Spieler-Partie. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Der einzige Wermutstropfen ist der Preis. Knappe vierzig Euro kostet das Spiel bei vielen Händlern. Das scheint mir für das, was es an Spielspaß letztlich bietet, doch etwas zuviel zu sein – und ist womöglich Lizenzgebühren und dem wertigen Spielmaterial geschuldet. Ein bisschen Suchen zahlt sich hier aus, denn bis zu 20% Rabatt sind dann doch drin, und in dem Fall lohnt sich das Ganze definitiv.

Fazit

Fallout Shelter – Das Brettspiel ist ein leichtgewichtiges, flottes Worker-Placement-Spiel mit großartigem Spielmaterial und einem eingängigen Spielmechanismus. Das Suchtpotenzial ist natürlich geringer als bei dem App-Game, dafür kommt man hier viel schneller zum Sieg als bei dem zeitaufwändigen Videospiel. Für eine Partie zwischendurch, die wenig Vorbereitung und Regelstudium erfordert, ist das Spiel auf jeden Fall immer gut. Für Fallout-Fans uneingeschränkt zu empfehlen (sofern ihnen klar ist, dass sie keine Umsetzung des eigentlichen Rollenspiels kaufen). Doch auch Nicht-Fans können zuschlagen, sofern sie Lust auf ein kleines, feines Worker-Placement-Spiel haben – und die schwarzhumorige Prämisse kein Problem für sie ist.

Fallout Shelter – Das Brettspiel

Brettspiel für 2 bis 4 Spieler ab 14 Jahren

Andrew Fischer

FFG/Asmodee 2020

EAN: 4015566028838

Sprache: Deutsch

Preis: EUR 39,99

Rezension: Res Arcana

von Oliver Adam

Dämpfe vernebeln das Labor des Alchimisten, im heiligen Hain zerreibt eine Druidin Kräuter, und in den Katakomben beschwört eine Nekromantin einen Knochendrachen. In der Welt von Res Arcana verkörpern zwei bis vier Spieler ab zwölf Jahren alchemistische Magier, die magische Essenzen und Gegenstände nutzen, um Artefakte zu fertigen, Fähigkeiten zu aktivieren und uralte Monumente und Orte der Macht in Besitz zu nehmen. Für erfolgreiche Aktionen gibt es Siegpunkte, und am Ende gewinnt der Magier, der zuerst zehn Siegpunkte erreicht.


Zunächst soll ein Blick auf das beeindruckende Spielmaterial geworfen werden. Das Grundspiel bietet bereits zehn verschiedene Magierkarten zur Auswahl – vom Alchimisten über den Heiler bis hin zum Nekromanten –, aus denen die Spieler ihren Charakter auswählen können. Dabei bieten diese sehr unterschiedliche Fähigkeiten, die das eigene Spiel stark beeinflussen. 40 Artefaktkarten und acht Plättchen der magischen Gegenstände zeigen eine breite Palette von magischen Effekten und besonderen Kreaturen, die im Laufe des Spiels beschworen werden können. 150 Essenzmarker aus Holz verkörpern die Ressourcen Tod, Ruhe, Leben, Elan und Gold. Zehn Monumentkarten bringen neben Siegpunkten oft auch besondere Effekte und sind daher für den Sieg besonders wichtig. Die anderen Siegpunktebringer sind fünf Orte-der-Macht-Plättchen, die beidseitig bedruckt sind, sodass jede Partie mit einer anderen Kombination ausgestattet ist.

 

Alle Karten und Plättchen sind sehr stimmungsvoll illustriert und gliedern sich perfekt in die Thematik ein. Die Karten sind von hoher Materialqualität und sehr haptisch. Bei anderen Spielen muss man immer wieder die dünnen Spielertableaus kritisieren, bei Res Arcana bekommt man perfekte Karten und Plättchen auf dickem Karton. Ganz besonders lobend erwähnen möchte ich die großartige Boxeneinlage, die alle Komponenten perfekt schützt und für die Ressourcen ein durchdachtes Sortierkästchen bietet, das direkt aus der Box auf den Spieltisch gestellt werden kann. In Sachen Material und Ausstattung zaubert sich Res Arcana auf alle Fälle schon mal in die Champions League der Zauberwelt.


Zauberhaftes Material perfekt sortiert.

Kann das Spielgefühl von Res Arcana das hohe Niveau der Spielkomponenten halten? Der Autor Tom Lehmann ist bekannt für Spiele, bei denen Engine-Building und Deckbau einen hohen Stellwert besitzen. Und Engine-Buliding, also der Aufbau von Produktionsketten, die ineinandergreifen und zunehmend Ressourcen produzieren, findet sich in Res Arcana in starkem Maße wieder. Der Aspekt Deckbau, also die sukzessive Erweiterung eines Kartendecks, ist im Grundspiel dagegen nicht präsent.

Der Spielaufbau von Res Arcana geht sehr schnell. Jeder Spieler wählt aus zwei zufällig gezogenen Magierkarten eine aus. Zusätzlich erhält man ein Kartendeck aus acht zufälligen Artefaktkarten, drei davon auf der Hand, die restlichen im Nachziehstapel. Im Lauf des Spiels ändert sich dieses Kartendeck nicht mehr, das heißt, man bestreitet das gesamte Spiel mit diesen acht Karten. Das vermittelt eine gewisse Planungssicherheit, gleichzeitig kann aber der Zufallscharakter dazu führen, dass man von Beginn an mit einem suboptimalen Deck versumpft. Bei den Testrunden ist dies zwar nie geschehen; allein die Möglichkeit finde ich allerdings bedrohlich. Der Autor hat am Ende der Anleitung in den Spielvarianten einen Draft-Mechanismus als Lösung hierfür eingebaut, bei dem die Spieler zu Beginn die Artefaktkarten reihum nacheinander auswählen. Das ist sicherlich der spannendere Ansatz, der das Spiel jedoch auf eine deutlich komplexere Ebene hebt und eine gewisse Erfahrung der Teilnehmer erfordert. Darüber hinaus wählt jeder Spieler aus den acht offen ausliegenden magischen Gegenständen noch einen aus, der verschiedene zusätzliche Effekte erlaubt. In der Spielmitte wird nun der allgemeine Vorrat vorbereitet. Dazu zählen fünf Orte der Macht, zwei aufgedeckte und acht verdeckte Monumente sowie die Holzessenzen.


Die Magierkarten im Grundspiel.

Jede Spielrunde von Res Arcana besteht aus drei Phasen:

In der Ertragsphase erhalten die Magier neue Essenzen, die sie zur späteren Aktivierung der magischen Effekte benötigen. Einige Karten und Plättchen der Auslage zeigen ein Handsymbol, und daneben ist abgedruckt, welche Essenzen der Spieler in welcher Menge nehmen kann.

Die Aktionsphase ist das Herz des Spiels. In ihr führen die Spieler reihum so lange jeweils eine Aktion aus, bis alle Spieler gepasst haben. Folgende Aktionen stehen zur Verfügung:

- Ein Artefakt kann von der Hand in die Auslage ausgespielt werden, wobei die Ausspielkosten bezahlt werden müssen.

- Abwerfen eines Artefaktes von der Hand (dieses wird unter den Nachziehstapel gelegt) für zwei Essenzen oder ein Gold.

- Die Fähigkeit einer bereits ausgespielten Komponente nutzen, die noch nicht erschöpft wurde. Über diesen Weg gelangen die Magier an die meisten Ressourcen.

- Ein Monument oder einen Ort der Macht in Besitz nehmen und hierfür die Ressourcen bezahlen. Über diesen Weg werden die meisten Siegpunkte generiert.

- Ein Spieler kann passen und seinen magischen Gegenstand mit einem anderen noch verfügbaren aus der Mitte austauschen.

Nachdem alle gepasst haben, folgt die Siegphase, bei der überprüft wird, ob ein Spieler die erforderlichen zehn oder mehr Siegpunkte erreicht hat. Wenn dies der Fall ist, gewinnt der Magier mit den meisten Siegpunkten. Andernfalls startet eine neue Runde mit der Ertragsphase.

Die größte Einstiegshürde besteht im Verständnis der Symbole auf den Karten sowie den Synergieeffekten zwischen den Karten. Beim ersten Spiel läuft der Auftakt daher noch etwas zäh. Sobald nach ein oder zwei Runden die Zeichensetzung verstanden wurde, spielt sich Res Arcana aber sehr flott und flüssig. Anfängern wird der Einstieg durch nummerierte Startersets erleichtert, die gut aufeinander abgestimmt sind und die Komplexität flach halten. Sehr spannend ist der minimalistische Ansatz, da jeder Magier über ein rollierendes Kartenset von nur acht Karten verfügt, das nicht durch neue Karten ergänzt wird. Man muss also das Beste aus den verfügbaren Mitteln herausholen.

Res Arcana ist im Kern ein effizienzorientiertes Karten- und Ressourcenmanagementspiel. Eine Partie dauert normalerweise zwischen vier und sechs Runden (eine Spielstunde), und wenn die Spieler einigermaßen erfahren sind, entwickelt sich ein Wettrennen, das Fehler kaum verzeiht. Wer einmal im Hintertreffen ist, hat kaum Möglichkeiten, das wieder aufzuholen. Dabei steuern die zufällig verteilten Karten sehr stark den Weg, den man als Magier eingehen muss, um eine Chance zu haben (Ausnahme: Drafting-Option). Interaktion findet allenfalls beim Wettlauf um Monumente oder Orte der Macht statt. Im Spielsystem wurde als interaktives Element die Ressource Leben eingebaut, die durch verschiedene Karten aufgebraucht wird – bei den Testspielen war dieser Faktor jedoch irrelevant.

Das Experimentieren mit den synergetischen Effekten von Karten, Orten, Gegenständen und Monumenten macht auf alle Fälle sehr viel Spaß, und es gibt bereits im Grundspiel sehr viel zu entdecken. Ich bin schon gespannt auf die bereits angekündigte Erweiterung, die noch weitere Optionen ins Spiel bringen wird.

Fazit

Res Arcana besitzt eingängige Regeln und ist schnell gespielt. Hervorragende Spielmaterialien mit sehr thematischen Illustrationen bilden das Fundament für ein überzeugendes Karten- und Ressourcenmanagementspiel, dessen Komplexität nicht auf den Regeln, sondern auf den vielfältigen Karteneffekten und deren Synergien beruht. Durch die kurze Spieldauer müssen die Spieler sehr effizienzorientiert vorgehen, um bei dem spannenden Wettrennen um Siegpunkte nicht ins Hintertreffen zu geraten. Der vorhandene Glücksanteil durch die zufällig verteilten Kartendecks kann durch einen optionalen Drafting-Mechanismus reduziert werden. Die Karten zeichnen teilweise den optimalen Spielweg vor, sodass man sich nach einigen Spielen etwas mehr Varianz wünscht (die mit der ersten Erweiterung bereits auf dem Weg ist). Also ran an die Zauberstäbe und rein in den absolut überzeugenden Magierwettstreit!

Res Arcana

Kartenspiel

Tom Lehmann, Julien Delval

Sand Castle Games / Asmodee 2019

EAN: 0850004236147

Sprache: Deutsch

Preis: 34,95 Euro

Phantastisches Lesen


von Alexandra Trinley

PERRY RHODAN: Das gestohlene Sternenrad

von Alexandra Trinley

Bleisphäre, Sternenrad, und die Staubfürsten im Dyoversum – in dieser Kolumne geht es um die Bände 3074 bis 3085. Der Zyklus hat sich mittlerweile über enorm weit auseinanderliegende Schauplätze ausgebreitet. Die Galaxis Ancaisin gehört zum Galaxiengeviert, dem Herkunftsort der goldhäutigen, vierhändigen Cairaner, wo es Abyssale Triumphbögen gibt und Vektormaterie, die anfangs wegen ihres Aussehens Graue Materie hieß. Diese überaus gefährliche Waffe führt der Kandidatin Phaatom Nahrung zu, damit sie zur Chaotarchin aufsteigen kann. Dieser Schauplatz spielt indirekt eine Rolle, weil er die Ursache für die Präsenz der vierhändigen Fake News-Spezialisten in der Milchstraße ist.

Wovor die Cairaner fliehen: Die Kandidatin Phaatom ist eine Materiesenke, also ein negativ ausgerichtetes Bewusstseinskollektiv, das sich durch Vernichtung ausbreitet. Ihr Erstarken würde das Galaxiengeviert vernichten, und die Kosmokraten, die Ordnungsmächte des Kosmos, stehen ihr entgegen. Ein klassischer Konflikt der RHODAN-Serie, wie er auch in der diesjährigen Miniserie MISSION SOL zum Tragen kam. Doch was wird daraus? In nur 15 Bänden ist das Zyklusfinale fällig, und eine bunt gemischte Vielzahl von Protagonisten tummelt sich an diversen Orten. Quo Vadis, Mythos-Zyklus?

Zugegeben: 100 Bände in einem Komplettzyklus sind schwerer in einen Zusammenhang zu setzen als die üblichen 12 Bände einer Miniserie, die Hauptserie wird stets schwächer durchstrukturiert sein als ihre Trabanten. Allerdings geht die explizit angestrebte neue Bodenständigkeit der Hauptserie zu Lasten der Spannung, weil die übergreifende Handlung allzu oft auf der Stelle zu treten scheint. Würde es Abhilfe schaffen, wenn die Protagonisten bei ihren lokal begrenzten Abenteuern mehr Überblick hätten, damit es in der Folge für den Leser leichter ist, den Gesamtkonflikt im Kopf zu behalten?

Zusätzlich vermag das Verhalten der Figuren die Phantasie nicht zu binden, es ist, so als ob nicht nur die Leser im Unklaren wären, wo ihre Reise hinsoll, sondern auch sie. Nie zuvor war die Handlung so panoramisch aufgefächert, die Binnenhandlungen so plastisch, das Personal zu breitgestreut, doch die Agenda bleibt unklar.

Hinterlässt die Kommunikationsproblematik der Pandemie ihre Spuren? Die Exposés der Serie werden von zwei Expokraten geschrieben, das sind Wim Vandemaan und Christian Montillon, danach gehen sie, um Datenblätter bereichert, an die Autoren. Wenn es nun derart anstrengend ist, als Leser den Überblick zu behalten, sei die ketzerische Frage gestellt, ob der Einzelautor gründlich genug durchgestaltet, was die Materialmenge vorgibt. Während der Perry Rhodan Online Woche hat Wim Vandemaan einmal mehr sein enzyklopädisches Gedächtnis unter Beweis gestellt. Das ist eine schöne Sache. Allerdings kann man als simpler Leser neben Brotberuf und Alltag keine ebenso detailreiche Erinnerungskultur pflegen. Und wenn sogar die Verfasserin einer regelmäßigen Kolumne immer wieder die Perrypedia bemühen muss, so lässt sich Kritik an der Übersichtlichkeit anbringen.

Das Gute: Man hat definitiv damit begonnen, die Fäden zusammenzuführen. Völker vom Zyklusanfang treten wieder auf, Worte schaffen Anspielungen, die einen echten Masterplan im Zykluszusammenhang nahelegen. Wir sind gespannt.


©: Pabel-Moewig Verlag (alle Coverbilder)

Der Doppelroman um Arkon (PR 3074 und 3075)

In Uwe Antons Doppelroman Der imaginäre Imperator. Sie stoßen nach Arkon V vor – es ist ein Akt der Verzweiflung (PR 3074) und Die Warnung der Signatin. Gefährliche Experimente der Naats – die Bleisphäre reagiert (PR 3075) versucht das parapsychisch begabte Geschwisterpaar Dancer und Schlafner, gemeinsam mit dem scheinbaren Roboter TARA-Psi in die Bleisphäre vorzustoßen, die sich um das Arkon-System gebildet hat und an der das Sternenrad der Cairaner auftaucht. Die Bleisphäre, das ist ein linsenförmiges Kraftfeld von silbrig-bleigrauer Farbe, das weder optisch noch mit Messgeräten zu durchdringen ist und das komplette Arkon-System inklusive des äußersten Planeten umschließt. Die Wolke aus Eis- und Felsbrocken driftet nicht auseinander, in ihrer Nähe kommt es zu Realitätssprüngen und Phasen von schnellen Zustandswechseln, was von arkonidischen Wissenschaftlern die Bezeichnung Realitätsgezeiten erhielt. Atlan, der als Mascant des arkonidischen Imperiums agiert, also den höchsten Adelsrang unter dem Imperator innehat, mischt an anderer Stelle mit. Es geht um das Messingimperium und die Kristallbaronien, um die Naats, die Akonen und Báalol und viele andere. Atlan hat eine Enkelin, Jasmyne da Ariga, deren Lebensgeschichte interessante Unregelmäßigkeiten aufweist und die kräftig mitmischt.

 

Spätestens an dieser Stelle wird dem geneigten Leser dieser Kolumne klar, dass wir mit diesem Handlungsabschnitt tief im Insiderwissen rund um das Arkonidenvolk angekommen sind. Die seit jeher für Feudaldenken und Intrigen berüchtigten Arkoniden haben Fraktionen, die sich nun an der Bleisphäre rund um ihr ehemaliges Heimatsystem versammeln, und es gibt Interessenkonflikte.

Natürlich ist Uwe Anton durch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit den weißhaarigen Rotaugen ganz besonders für einen Roman dieser Art geeignet, und natürlich gibt es keinen Autor der Serie, der so hingebungsvoll Panoramen aufbaut wie er. Ebenso selbstverständlich sind die wunderschöne Sprache und die anschauliche Bilderzeichnung des Doppelromans. Es passiert auch ungeheuer viel – eigentlich.

Was der Autorin dieser Kolumne nicht gefiel, war die Unkonturiertheit der Hauptpersonen, deren Interessen und Persönlichkeiten den Handlungsfortschritt hätten zusammenbinden sollen. Nun kamen Dancer und Schlafner über einen Gastroman in den Zyklus, in dem wir ihre Lebensgeschichte kennenlernten und ihre Parakräfte, von denen ihre aktuellen Namen stammen. Inzwischen hat sich das Geschwisterpaar auf die Seite Perry Rhodans geschlagen, aber nicht so wirklich entwickelt. Sie bräuchten einen Konflikt oder ein Temperament, das ihnen echtes Leben einhaucht. Angelegt sind sie als ein bisschen böser und gewaltbereiter als die Guten. Das bleibt allerdings ganz arg zahm. Witzig sind sie auch nicht. Und die Arkoniden sind zu sehr in ihre jeweiligen Interessengruppen eingebunden, um Charisma zu entfalten. Deshalb durchläuft man mit ihnen die ganze Bandbreite des Arkon-Panoramas, ohne ergriffen zu werden.

Immerhin wurde die Natur der Bleisphäre durch die statische Handlungsführung sinnlich fassbar gemacht. Je weiter der Aufbruch ins Innere der Bleisphäre voranschreitet, desto flüssiger wird die Schreibweise auch wieder.


Arndt Ellmer: Inmitten der Lichtfülle (PR 3076)

Die Bände 3075 und 3076 überschneiden sich ein Stück weit, und haben auch dieselben Hauptfiguren. Am Ende des Vorgängerbandes taucht das Sternenrad auf, und nun werden wir Augenzeugen seiner spektakulären Ankunft. Und es kracht auch so richtig, als das Riesending an der Bleisphäre auftaucht. Arndt Ellmer lässt erst einmal den Raum erbeben, Hyperstürme toben … und dann kommt das Ereignis. Der Gigant trifft ein, mit dem der cairanische Friedensbund zu siegen hofft.

Das besonders Erstaunliche daran: Inmitten der Lichtfülle. Im Zentrum der cairanischen Macht – terranische Mutanten versuchen zu infiltrieren ist der Erstling des Autors seit fünf Jahren. Ellmer war schwer erkrankt, so dass man sich nicht gewundert hätte, wenn dieser erste Roman nach der langen Pause ein wenig schwächer geworden wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Trotz der weiterhin nur mäßig lebhaften Hauptpersonen entfaltet sich ein spannender und kurzweiliger Roman, weil um Dancer und Schlafner herum alles in Bewegung ist.

Das Sternenrad der Cairaner, das sich nahe der Bleisphäre manifestiert hat und das schon beim Raptus Terra, dem Verschwinden von Erde und Mond zu Zyklusbeginn, eine Rolle spielte, hat einen Durchmesser von 41,66 Lichttagen. Es enthält ein System aus zwei Sonnen mit insgesamt fünf Planeten, das ein 50 Meter durchmessendes Weißes Loch umkreist. Das wird von einer transparenten Sphäre umgeben, aus dem seine Materie- und Energieströme austreten und einen weißen Schirm bilden, der das ganze System umgibt und an ein sich drehendes Rad erinnert. Daher der Name.

Auf der Hauptwelt des Sternenrads, Ecaitan, leben verschiedene Milchstraßenvölker im Rahmen eines Forschungsprojekts: Sie sollen nach Abzug der Cairaner den Frieden bewahren. Die cairanische Kosmopsychologin und Agentin des Panarchivs Dupa Emuladsu hat einen Sohn, und in diesem Szenario aus Völkergemisch und Mutter-Sohn-Geschichte kann sich Arndt Ellmer voll entfalten. Es gibt witzige Dialoge und spannende Alltagsgegenstände des Perryversums.

Verena Themsen führt in Unter dem Weißen Schirm. Die Cairanerin fürchtet um ihren Sohn – und muss die Terraner jagen (PR 3077) die Geschichte der kleinen Familie weiter und ergänzt viele weitere Informationen rund um das ungewöhnliche Artefakt der Cairaner. Die friedliebende und wohl schon verblichene Superintelligenz HATH’HATHANG kommt ins Spiel, und es entsteht eine Verbindung zwischen der Erschaffung des Sternenrads, seiner jetzigen Verwendung und der Flucht der Cairaner vor der Kandidatin Phaatom. Sehr interessant auch die Enzephalotronik als Steuerzentrum des Weltenrads. Von ihr werden wir in PR 3083 deutlich mehr erfahren. Themsen, ebenfalls als Arkon-Spezialistin bekannt, verwendet viel Energie auf die Personenzeichnung. Das Geschwisterpaar gewinnt nun doch Konturen, und ein kleiner Junge macht nicht das, was Eltern sich unter Karriere vorstellen.


Im Dyoversum (PR 3078 – 3081)

Wir erinnern uns: Auf der Suche nach der echten Erde samt Mond, die Perry Rhodan nach dem an Bord der RAS TSCHUBAI erlebten Zeitsprung von knapp 500 Jahren zu Zyklusbeginn nicht mehr im vollständig abgeriegelten Solsystem vorfand, kamen unsere Helden in ein Paralleluniversum, ein sogenanntes Dyoversum, das als Zwilling zu unserem entstand und mit ihm in einer engen Wechselbeziehung steht.

Die Abenteuer im Dyoversum sind als Vierteiler in den Mythos-Zyklus eingebettet. Da dort der überlichtschnellen Raumfahrt große Hindernisse entgegenstehen, ist das Dyoversum räumlich begrenzt: Es sind nur die Topsider in erreichbarer Nähe, aggressiv wie eh und je, wenn auch matriarchalisch, und Erde samt Mond sind ziemlich einsam. Das verschafft ihnen Zeit für sich selbst.

Weil die entführte Erde in den vergangenen Jahrhunderten ihre eigene Entwicklung durchlief, trifft Rhodans Plan, Terra zurückzuholen, keinesfalls auf ungeteilte Begeisterung. Mit dem aktuellen »Quartett«, wie die Vierteiler in Absetzung zu den traditionellen und zuletzt heftig kritisierten »Viererblöcken« getauft wurden, liegt der dritte Teil vor, ein vierter ist für die Bände 3090 bis 3093 geplant. All diese Quartette werden von exakt zwei Autoren geschrieben, die sich dabei besonders gründlich aufeinander einstellen können, was für mehr Geschlossenheit sorgen soll.

Wobei das erste Quartett dann von Exposéautor Christian Montillon allein verfasst wurde. In Solsystem (PR 3050) Luna (PR 3051) Terra (PR 3052) und Mars (PR 3053) erzählte er von Rhodans Ankunft in der anderen Hälfte des Dyoversums, wo er den alten Weggefährten Homer G. Adams trifft, das zu einer hochgradig eigenaktiven KI entwickelte Mondgehirn NATHAN, das sich eine Menge Kinder geschaffen hat, und die veränderte Gesellschaftsstruktur der Erde. Die innige Nichtbeziehung des Finanzgenies Homer G. Adams mit einer Sterblichen schafft es, ohne Klebrigkeit auszukommen.

Das zweite Quartett verfasste Montillon gemeinsam mit Susan Schwartz. Die Romane »Zeut« (PR 3062), »Ceres« (PR 3063), »Ferrol« (PR 3064) und »Beteigeuze« (PR 3065) führen uns durch das Solsystem des Dyoversum, in dem vernichtete Planeten wie Pluto und Zeut noch existieren, das also eine interessante Topologie aufweist. Wir treffen auf Cairaner. Die Goldhäutigen sind überall, und sie verstecken sich. Der Konflikt mit den Topsidern wird gelöst.

Nun liegt das dritte Quartett vor, und der Raum der Handlung dehnt sich aus – das muss so sein, wenn Perry Rhodan dabei ist. Unsere Helden erkunden die fremde Hälfte des Dyoversums. Pluto (PR 3078) beginnt bereits am Rand des Sonnensystems an einem Planeten, der als Gestänge weiterexistiert. Ausgangspunkt der Handlung ist die sogenannte Tastung, die während der Zeit der Erde im Zwillingsuniversum zweimal auftrat, und zwar in Abständen von 177 Jahren. Falls ein regelmäßiger Rhythmus vorliegt, steht die nächste Tastung an. Dieses Berührtwerden, das jeder einzelne ganz persönlich empfindet, kennen wir als Kontaktnahme einer Superintelligenz. Doch welcher? Im Dyoversum gibt es keine Superintelligenzen. Rhodan macht sich auf den Weg, und nach einigen Erlebnissen findet er ein unbekanntes Volk.

Yenren (PR 3079) spielt auf einer bis dato unbekannten Wüstenwelt, deren Zivilisation Susan Schwartz sehr liebevoll gestaltet hat. Die Yenranko sind grazile Reptiloide mit silbrigen Schuppen, an deren Größe und Glanz man ihr Alter ablesen kann. Die großen, linsenförmigen Augen sitzen in einem vorn verlängerten, recht menschlichen Gesicht mit flachen Zügen. Eine durchsichtige Wischhaut verhindert, dass Sand in die Augen gelangt. Häute zwischen den Fingern befähigen sie, sich zum Schutz vor Sandstürmen schnell in der Erde einzugraben. Die Hornhaut an Arm- und Kniegelenken hilft ihnen, in den niedrigen Gängen ihrer Wohnhöhlen voranzukommen. Sie verstehen sich gut mit den Terranern, und sie kennen die Tastung ebenfalls.