Glashauseffekt

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Es ist 06:15 Uhr, der Wecker klingelt. Erica gibt Dingo einen Kuss und schleppt sich nach unten ins Badezimmer. Kämmen, duschen, föhnen, kämmen. Sie blickt in den Spiegel und bändigt ihre langen, dunklen Haare, die in starkem Kontrast zu ihrer eigentlich blassen Haut stehen. Als sie sich mit zwölf zum ersten Mal die Lippen rot geschminkt hatte, war ihr unabhängig voneinander in der Familie und in der Schule der Spitzname »Schneewittchen« verliehen worden. Statt ihrer Lippen ist heute ihr ganzes Gesicht rot und spannt höllisch. Ihre verfluchte Sorglosigkeit gestern!

Als sie in die Küche kommt, sitzt ihr Papa auf seinem Platz an der Eckbank, lächelt sie kurz aus einem unrasierten Gesicht an und wischt dann weiter in seiner Zeitung herum. Senile Bettflucht, denkt Erica, während sie sich ein paar Brote für den Prozesstag schmiert. No country for old men.

Er macht eine Bemerkung über das schöne Wetter.

Erica hasst Small Talk in der Früh. Sie ist 23, ihr Vater fünfzig Jahre älter als sie. Sie addiert bewusst nicht. Ihre Mutter ist noch ein wenig jünger. Nachdem die Stadt ihre Deutschkurse weggekürzt hat, bezieht auch sie nur noch Grundeinkommen. Ericas Vater bekommt Rente, der Unterschied ist aber eher symbolischer Natur. Sie packt schnell die Brote ein, verabschiedet sich und zieht die Wohnungstür hinter sich zu.

Immerhin ist es draußen schon hell. Im Dunkeln wirkt der Stadtteil Kothbrunngraben bedrohlich, bei Licht nur schäbig. Hier wohnen Deutsche und andere EU-Bürger, die auf dem Abstellgleis gelandet oder geboren sind, außerdem Klimaflüchtlinge, die es weit gebracht haben. In der fränkischen Hinterwaldmetropole ist der Kothbrunngraben die Bronx. Wie alle größeren Nicht-Küstenstädte in Mitteleuropa leidet auch Nürnberg unter üblen Wachstumsschmerzen, die sich in den neuen Stadtteilen am deutlichsten zeigen. Als eines der allerletzten Stadtviertel haben sie hier erst vor wenigen Jahren einen Cool-Down-Point für hitzegeschwächte Senioren bekommen, und schon jetzt sind die Wände dort total verschmiert, die Bänke immer klebrig und verdreckt. Dafür ist Nürnberg inzwischen auf dem besten Weg, zur Millionenstadt zu werden.

An einem Kiosk kauft Erica einen Krapfen, dessen Füllung sich als absolut eklig herausstellt, und steigt an der Station Heroldsberger Weg in die U-Bahn, die den Flughafen paradoxerweise oberirdisch umrundet. Erst an der Station Ziegelstein geht es nach unten. Aus dem Fenster sieht sie die rechtwinkligen Reihen der Klimaflüchtlingsunterkünfte, die erst vor wenigen Jahren errichtet worden sind, damit Bayern den deutschlandweiten Schlüssel einhält, damit Deutschland den europaweiten Schlüssel einhält. Damit der Westen zumindest ein bisschen mit sich ins Reine kommen kann. »Verursacherprinzip«. Bei der ersten Wahl nach Errichtung der Smart-City – wie die offizielle Bezeichnung lautet – hat der angrenzende Stadtteil Buchenbühl trotzdem erstmals mehrheitlich Parteien des Abschotter-Lagers gewählt. Kleinbürger mit Dackeln und Gartenzwergen, denkt Erica, während die Bahn in die Erde abtaucht.

Wie witzig das Wort »Klimaflüchtling« doch ist. Oder eher seine Verwendung. Wenn man es in Daressalam nicht mehr aushält, ist man natürlich einer. Wenn man es aber in Amsterdam, Kopenhagen oder Hamburg nicht mehr aushält, weil es einem die Mietwohnung unter dem Hintern weggeschwemmt hat, dann ist man einfach ein Mensch, der sich verändern möchte und der in Nürnberg allen Wohnraum aufkauft.

In diese Gedanken vertieft, steigt Erica an der U-Bahn-Station des Forum Francorum aus, die unter dem futuristischen Gebäudekomplex liegt. Mit dem Lift kann man direkt vom U-Bahn-Gleis zum Foyer hochfahren, und dann steht man schon vor der provisorischen Sicherheitsschleuse am Eingang des Al-Gore-Saals, dem mit Abstand größten Raum des Forums. Erica zeigt ihren Presseausweis vor, passiert die Detektoren und erklimmt dann die erst halb gefüllte Pressetribüne. Heute Abend muss sie endlich anfangen, eine erste Version ihres Auftaktartikels als Prozessbeobachterin zu schreiben. Ihr schnaubender Kollege mit dem OCD ist bereits an seinem Platz, die gerührte PfG-Anhängerin noch nicht.

»Guten Morgen!«, sagt Erica, während sie sich setzt. Inzwischen sind sie immerhin zum Austausch elementarer Höflichkeitsformeln übergegangen.

»Moin, moin.«

Ihr Nachbar blickt nicht einmal auf, sondern schiebt seine Intellektuellenbrille zurecht und liest augenscheinlich seinen eigenen Artikel noch einmal Korrektur. So ein blasierter Kerl – wenn sie nur selbst schon so weit wäre! Sie versucht sich durch unauffälliges Schielen in ein wenig Betriebsspionage. Unter dem Vorwand, die Sitzposition zu verändern, verschiebt der Kollege den Bildschirm des digitalen Sekretärs. Erica kann nichts mehr erkennen und kocht innerlich. Für wen hält sich der Typ denn?

Um kurz vor halb neun nimmt TT seinen Platz auf der nur noch locker besetzten Ehrentribüne ein, Eilers geht zur Anklagebank und zieht seinen Notizblock hervor (noch analog! aus Papier!), und Gloria Perec schreitet ihrem Assistentenstab voran. Heute ist ihr erster großer Auftritt. Wie immer ist sie tadellos gekleidet und auch ihre strenge Hochsteckfrisur sitzt perfekt. Erica fällt auf, dass sich dort schon ein paar dünne graue Strähnen unter das ansonsten satte Braun gemischt haben.

Sehr abgehetzt erscheint Ericas zweite Prozessnachbarin auf der Pressetribüne und lässt sich auf ihren Sitz fallen. Sie grüßt wieder freundlich in ihre Richtung und sogar Ericas Nachbar zur Rechten blickt kurz hoch. Als Journalistenkollegen kannten sich die beiden bereits vor dem Prozess, das hat Erica inzwischen herausgefunden.

Um kurz nach halb neun erscheint das Richterteam, das nach dem ersten Tag von der Presse mit Hohn und Spott überschüttet wurde. Kriebl eröffnet die Sitzung und übergibt das Wort bald an die »Staatsanwältin«, zur Vorstellung der großen Schadensbilanz. Perec erhebt sich, fährt ihr

Mikro nach oben und strahlt auch nach hinten eine solche Souveränität aus, dass Erica nicht anders kann, als beeindruckt zu sein. Perecs klare, kühle Stimme dringt aus den Lautsprechern:

»Hohes Gericht, sehr geehrte Verteidigung, sehr geehrte Damen und Herren. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen nicht hier in Nürnbergs Al-Gore-Saal – oder zu Hause vor den Screens –, sondern auf einem hohen Berg in den schönen bayerischen Alpen. Sie blicken um sich und sehen – Geröll. Skipisten ohne Schnee. Abgerutschte Hänge. Vereinzelt noch nicht abgebaute Skilifte. Mühsame und teure Aufforstungsversuche.

Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind mit einem magischen Adlerblick gesegnet, der es Ihnen ermöglicht, von diesem Gipfel aus bis an Deutschlands Küsten zu sehen. Die Situation in Bremen, Bremerhaven, Kiel, Rostock … Was der Anstieg des Meeresspiegels um einen knappen Meter doch ausmachen kann! Der erhöhte Grundwasserspiegel. Dazu die Sturmfluten. Der Starkregen. Wasser von unten, von vorne, von oben. Sie blicken nach Hamburg. Die schöne Hafencity, mein Gott.

Und jetzt denken Sie an das ganze Deutschland dazwischen, das Ihr Blick überspannt: Trockenheit hier, sintflutartiger Regen dort. Schadstoffe im Grundwasser. Übersäuerung der Böden. Verlorene Artenvielfalt. Massives Insektensterben. Mindestens ebenso massives Waldsterben durch den Borkenkäfer, der die höheren Temperaturen liebt. Sogenannte Ewigkeitsschäden fossiler Energie-

gewinnung. Hangrutschen, tagebauinduzierte Seismizität, sümpfungsbedingte Bodenabsenkung. Und das sind nur die vergleichsweise geringen Schäden in Deutschland. Der unglaubliche Bevölkerungsdruck aus europäischen Küstenregionen und der restlichen Welt. Die unvorstellbare, nie da gewesene Not in Afrika und das Elend in weiten Teilen Asiens. Der Mangel an Wasser und Ackerfläche, dazu die Verteilungskämpfe oder besser gesagt die Verteilungskriege. Zu allen Problemen in Deutschland und Europa kommt die desolate moralische Lage des Westens vor der Weltgemeinschaft! Die kostspieligen und dennoch unzureichenden Wiedergutmachungsprojekte in den noch stärker betroffenen Ländern. Die Kosten und Probleme für Deutschland durch den massiven Migrationsdruck aus aller Welt. Und dann erst die individuellen Schicksale! Stark erhöhte Tumorgefahr bei den Erwachsenen, Fehlbildungen bei Neugeborenen …«

Perec trinkt einen Schluck Wasser und Erica denkt an TT und seine Tochter. Im Saal hat sich eine bedrückte Stimmung breitgemacht.

»Diese Probleme waren natürlich auch zu Beginn des neuen Jahrtausends bereits bekannt. Zahllose sogenannte Green Deals wurden auf allen Regierungsebenen vereinbart, insbesondere in den 10er- und 20er-Jahren. Diese Deals wurden dann jedoch entweder nach wenigen Jahren schnell wieder aufgeweicht oder ihre Ziele nach vielen Jahren überraschend deutlich verfehlt. Der Abschluss solcher Deals ging immer mit einer gewaltigen medialen Inszenierung einher, ihr faktisches Scheitern dagegen wurde möglichst diskret eingeleitet, durchgeführt und schließlich zu den Akten gelegt. Eine perfekt geölte PR-Maschine, die einem ganzen Land, ja sogar einem ganzen Kontinent plötzlich einen grünen Anstrich verpassen sollte.

Der Umwelt war das alles freilich ganz egal. Im Jahr 2031 begann die Lebenserwartung in Deutschland erstmals wieder langfristig abzusinken. Eine sekundäre Folge der Umweltkrise und ein seit dem Dreißigjährigen Krieg einmaliger Vorgang. Der Zweite Weltkrieg führte dagegen nur zu einer kleinen Delle in den Kurven. Die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards ist sogar schon seit den späten 2020er-Jahren erstmals wieder rückläufig gewesen.

Sie haben es erlebt oder wissen es aus dem Geschichtsunterricht: Erst zu diesem Zeitpunkt, vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, ereignete sich die sogenannte Zweite Deutsche Wende. Statt Umweltschutz lautete das offizielle Ziel nun auch Umweltheilung; statt Klimaneutralität strebte man erstmals eine deutlich negative CO2-Bilanz an. Statt neue Schäden bloß zu vermeiden, wollte man jetzt auch alte Schäden wiedergutmachen. Vor allem aber, und das ist der entscheidende Punkt, meinte man diese Ziele plötzlich ernst. Man war bereit, tatsächlich etwas zu investieren. Mittelfristige wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen. Sich einzuschränken.

 

Doch trotz all unserer immensen Anstrengungen nach der Zweiten Wende, trotz aller Bemühungen und Entbehrungen, trotz aller Innovationen und Investitionen – ist es uns noch immer nicht gelungen, die eben genannten Trends wieder umzukehren. Die allgemeine Lebenserwartung und der durchschnittliche Lebensstandard sinken weiterhin jedes Jahr. Auch alle anderen relevanten Kennzahlen zivilisatorischer Entwicklung sind rückläufig. Die Folgen der Umweltkrise belasten unser Land mit jedem Jahr stärker, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und wie lange noch?! Wir wissen es nicht.«

Es folgt eine weitere Kunstpause. Erica hat eine Gänsehaut wider Willen, ihr Atem geht schnell. Sie späht nach rechts. Im Bildschirm ihres Kollegen stehen nur Stichpunkte, der oberste lautet: Perec: Ganz billige Rhetorik. Der Kol-

lege spürt Ericas Blick und schnaubt demonstrativ.

»Ab einem gewissen Ausmaß an menschlichem Leid stellt sich die Verantwortungs- und Schuldfrage ganz automatisch. Niemand kann bezweifeln, dass dieses Maß an Leid in unserer Gesellschaft schon längst erreicht ist. Welche Schuld aber trifft uns, die wir ganz überwiegend damit beschäftigt sind, alte Versäumnisse auszubügeln? Keine! Welche Schuld trifft eine Zeit, die nichts vom Anthropozän wusste, nichts davon wissen konnte, der die Ressourcen dieser Erde unendlich erscheinen mussten? Keine! Aber welche Schuld trifft eine Zeit, in der alle relevanten Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen und in der Umweltschutz trotzdem nur gespielt wurde, anstatt ihn substanziell zu betreiben? Ja: diese Zeit, diese Epoche, diese Generation trägt Schuld!«

Der ganze Saal ist in großer innerer Bewegung, weniger ein Geräuschpegel als eine elektrische Ladung verbreitet sich und erfasst jeden. Erica schielt nach links. Beim Anblick der weißen Fäuste ihrer Nachbarin fallen ihr ein paar Zeilen ihres Lieblingsoldies ein: Oh and as I watched her on the stage / My hands were clenched in fists of rage. Eilers dagegen sitzt reglos vorne, direkt gegenüber von Perec.

»Zwar wäre Deutschland natürlich nicht in der Lage gewesen, das Ruder alleine herumzureißen, ebenso wenig, wie ein Einzelner das gekonnt hätte. Doch befreit das in keiner Weise von der Schuld, die Individuen oder Nationen auf sich geladen haben, als sie wider besseres Wissen untätig geblieben sind, weil die anderen auch untätig waren. Die Individuen untereinander – und mehr noch die Nationen untereinander – haben versucht, sich durch ihre Untätigkeit gegenseitig moralisch Deckung zu gegeben. Es erscheint im Nachhinein als ausgeklügeltes System: ›Tut ihr nichts, auf dass auch wir nichts tun müssen.‹

Als wäre es so undenkbar gewesen, einmal ernsthaft in Vorleistung zu gehen und ein positives Beispiel abzugeben, gerade für Deutschland. Zur Abwechslung mal ein Jahrhundert mit einem moralischen Polster beginnen! Stattdessen wurde Umweltschutz auch hierzulande nur gespielt, nur vorgegaukelt. Ein Wahlvolk wurde permanent betrogen, das permanent betrogen werden wollte. Auch hier ein Zweckbündnis: ›Gebt uns ein gutes Gewissen, aber wagt es nicht, uns dafür auch nur einen einzigen Arbeitsplatz zu nehmen.‹ In summa: Auf drei Ebenen wurde in den Jahren von 2000 bis 2030 Schuld auf sich geladen, an der wir heute schwer zu tragen haben, materiell und moralisch. Diese Ebenen betreffen erstens das einzelne Individuum, zweitens die Führungselite und drittens die Gesellschaft als Ganzes. Bevor jedoch Ursprung, Art und vor allem Ausmaß dieser Schuld im Einzelfall festgestellt werden können, ist es nötig, den Blick noch einmal auf das Heute zu richten, um eine genaue Übersicht über die Höhe des Schadens zu gewinnen.«

Der Saal sinkt kollektiv in die Stuhllehnen zurück, das Feuerwerk ist vorerst beendet, die Schule beginnt. Perec bemüht Tabellen, Grafiken, Schaubilder. Und Berechnungen: Kosten für Rückbau, Kosten für Entsiegelung, für Renaturierung. Kosten für die Sozialkasse. Steuerausfälle. Schon bald will niemand mehr so recht folgen, die Reihen im Oberrang beginnen sich zu lichten. Ericas Gesicht brennt, vermutlich löst sich schon Haut ab. Der Kollege rechter Hand sucht ihren Blick. Sie ignoriert ihn ein paar Sekunden, dann wird es unangenehm und sie sieht zu ihm.

»Ich bin übrigens Tom. Sehr erfreut.«

Er streckt flüsternd die Hand aus und blickt sie geradewegs an. Von diesem radikalen Umschwung ist sie etwas perplex.

»Äh, Erica.«

»Na, was hältst du von dem allem so?« Er nickt mit dem Kopf nach unten.

»Ich weiß jedenfalls sehr genau, was du von dem allem so hältst.«

Erica deutet in Richtung seines Bildschirms, doch ihr Nebenmann lächelt nur spöttisch. »Das war keine Antwort.«

»Doch – nur eben nicht auf deine Frage.«

Er sieht sie lange und etwas herausfordernd an.

»Bekomme ich noch eine?«

Erica seufzt unwillkürlich. »Ich weiß nur, dass ich heute Abend einen Artikel über das alles schreiben muss und einfach keinen Ansatz finde.«

»Neu in der Branche?«

Erica macht eine vage Geste. Sie ist Reporterin bei einem kleinen Online-Lokalblatt und in erster Linie für den Prozess akkreditiert worden, um die Statistik aufzuhübschen. Jung, weiblich, regional. Erica weiß das und will sich die Chance trotzdem nicht entgehen lassen.

»Was würdest du denn schreiben, also an meiner Stelle?«

»Reportage? Oder Kommentar?«

»Bin ich von der Redaktion her nicht so genau festgelegt.«

Er grinst breit. »Jeder fängt bei den Regionalen an, kein Problem. Schreib doch, dass du hier in eurem schönen neuen Forum und insbesondere hier in Al-Gore die Menschenwürde der in Abwesenheit Angeklagten gesucht, aber beim besten Willen nicht gefunden hast!«

Er ist nicht unbedingt hübsch, hat ein schmales, scharf konturiertes Gesicht und wäre dennoch irgendwie attraktiv, wenn man einmal von seiner unsympathischen Art absehen würde. Ihr Blick fällt erneut auf seinen Bildschirm. Dort steht mittlerweile nach dem ersten Spiegelstrich: Perec: Allerbilligste Rhetorik!!

Erica zuckt unbestimmt die Schultern und blickt wieder nach vorne. Echte Hilfe scheint sie hier keine zu bekommen. Später, in der U-Bahn Richtung Heimat, lässt sie die spärlichen Tunnellichter an sich vorbeiziehen und cremt ihr Gesicht ein. In ihrem Kopf mischen sich Wortfetzen verschiedener Personen. Sie muss aus diesem Wirrwarr etwas destillieren, das für Aufsehen sorgt, das positiv hervorsticht. Immer wieder gehen ihr einzelne Passagen von Perecs Anklagerede durch den Kopf. Sie spürt einen rasch anschwellenden Widerwillen, gleich wieder ihre Eltern zu sehen, der nichts mit ihrem üblichen Frust zu tun hat, mangels Alternativen noch immer zu Hause wohnen zu müssen.

Auf dem Heimweg durch die Mietskasernen ist es schon fast ganz dunkel, Erica steckt die rechte Hand in die Jackentasche, in der sich das KO-Spray befindet. Seit sie denken kann, wollen ihre Eltern ihr mickriges Reihenhaus durch eine Wohnung in einem besseren Viertel ersetzen, aber angesichts des völlig überhitzten Wohnungsmarkts müssen sie mittlerweile froh sein, wenn sie sich den Kothbrunngraben noch leisten können.

Zu Hause gibt es Abendessen, Dingo sitzt mit am Tisch. Mit Ende zwanzig lässt auch er sich eigentlich ungern durchfüttern, aber was will man machen. Ihr Dachgeschoss verfügt nicht einmal über einen eigenen Herd. Die Stimmung am Tisch ist angespannt und es wird wenig gesprochen. Alle denken an Perecs Rede, die überall live übertragen und gestreamt worden ist, aber niemand möchte das Thema zur Sprache bringen. Erica rechnet nun doch im Kopf herum: Ihr Vater zum Beispiel ist Jahrgang 1976, das heißt, 2000 war er 24 und 2030 dann 54. Bestes, zurechnungsfähiges Alter. Widerwillig stochert Erica in ihrem verkochten Gemüse herum.

Nach dem Essen verziehen sich Erica und Dingo rasch nach oben und werfen sich aufs Bett. Sex ist aber kein Thema, sogar Dingo hat das von sich aus gemerkt. Er streichelt ihr ein wenig durchs Haar.

»Du denkst an deinen Artikel, hm?«

Erica verdreht als Antwort nur die Augen. »Und wo hast du dich heute während des Lärms so rumgetrieben?«

»Bisschen an der Uni gewesen, bei Faris vorbeigeschaut.«

»Im Hörsaal oder im Campuspark?«

»Eher im Campuspark.«

Jeden Werktag zwischen 10 und 12 Uhr sowie zwischen 14 und 16 Uhr darf der Nürnberger Flughafen noch angeflogen werden, wenn auch nur von internationalen Zielen aus, die mehr als 400 Kilometer entfernt liegen. In dieser Zeit ist es im Stadtteil Kothbrunngraben nur schwer auszuhalten, doch Erica ist eigentlich ganz froh drum: Dann fahren die Leute ein bisschen in die Stadt, kommen mal raus. Allen voran Dingo. Seine Streicheleinheiten werden intensiver, offenbar kommt er doch in Fahrt. Erica gibt ihm einen Kuss, rappelt sich hoch und setzt sich in der Hoffnung auf eine Eingebung an den Schreibtisch. Trotz des ohnehin schon langen Tages. Dingo sieht ihr eine Weile vom Bett aus zu, dann steht er auf, geht nach unten und kommt kurze Zeit später mit einem Becher Mate zurück, den er vor Erica stellt, bevor er sich wieder aufs Bett wirft. Das ist nett!

Um kurz vor acht reißt Dingo sie dann aus ihrer immer umfassenderen Ideenlosigkeit, weil er sich mühsam aus den Kissen wälzt. Er geht nach unten, wo Ericas Vater bestimmt schon vor dem Bildschirm sitzt, denn gleich beginnt das lang herbeigesehnte Spitzenspiel zwischen den RB Munich Cowboys, dem Rekordmeister der German Football League, und seinem ständigen Rivalen, den Prussian Panthers Dortmund. Außerhalb Südbayerns hält natürlich jeder zu den Panthers. Normalerweise hätte auch Erica gerne zugesehen, aber so ist sie immerhin froh, in ihrer Untätigkeit und Ideenlosigkeit nicht auch noch beobachtet zu werden.


Philly ist gekommen. Ist herabgestiegen aus dem hippen Leipzig in das provinzielle Nürnberg, in dem gerade der große Kampf Gut gegen Böse tobt. Nicht um teilzuhaben am Gemetzel – sondern wegen Oma Doros Neunzigstem.

Philly sitzt im Wohnzimmer, oder liegt dort eher, und hat die tadellos rasierten Beine über die nächste Stuhllehne geworfen. Don’t-care-Attitüde, sehr gewagter Ausschnitt, wild gefärbter Sidecut. Alles wie immer.

»Hey there, sweet Erica, how’s it going in the binary world?«

»Fine, fine.«

Sie schäkern ein wenig, Philly erzählt vom aufregenden Leben in Deutschlands In-Stadt. Erica hört mit halbem Ohr zu, dann erzählt sie vom Auftakt des unter internationaler Beobachtung stehenden Prozesses. Philly hört mit halbem Ohr zu und streicht sich durch den sehr gepflegten und akkurat getrimmten Bart. Dingo kommt ins Wohnzimmer, sagt Hallo, die beiden drücken sich, bussibussi.

Ihre Eltern, Tanja und Klaus, sind in der Küche und brühen koffeinierten Getreidekaffee auf. Die Stimmung ist angespannt, weil Philly sich weigert, Deutsch zu sprechen. Die deutsche Sprache sei, mehr noch als die englische, purer Gender-Faschismus. Die Folge ist ein bilinguales Kaffeekränzchen: »Want some more cake, Philly? Oder vielleicht du, Dingo?«

Durchaus mit Größe und Würde, wie Erica findet, nehmen ihre Eltern die wilden Erzählungen aus Leipzig zur Kenntnis, überwinden sich des Öfteren sogar zu einer höflichen Nachfrage. Philly berichtet ausufernd von dem erzkonservativen Nachwuchspolitiker einer Abschotter-Partei, mit dem Philly sich auf einer Party offenbar übel in die Wolle gekriegt hat. Klaus gluckst, er hat »Arsch-conservative« statt »arch-conservative« verstanden. Erica hat das Gefühl, dass Philly innerlich schon die Tage bis zur Abreise zählt.

Weil die Wohnzimmercouch einen Ruf als Wirbelsäulenkiller hat, wird Philly die nächsten Nächte oben schlafen, so wie früher. Das Lager ist schnell hergerichtet, und so sitzen Philly, Erica und Dingo auf dem Bett und der aufblasbaren Matratze und gönnen sich einen Begrüßungsjoint. Für den Abend haben sich ein paar von Phillys Freunden aus Nürnberger Zeiten angekündigt, da ist es schön, vorher ein wenig ausspannen zu können.

Dingo denkt wieder laut über passiven Widerstand gegen den Prozess nach, und Philly fragt hellhörig, wie das konkret aussehen könnte, bekommt aber keine Antwort. Stattdessen erkundigt sich Dingo, wie man eigentlich in Leipzig die ganze Sache sieht.

 

»In L., everybody agrees on the verdict Tod durch den Strang for all the accused persons as well as for the whole PfG.«

Philly lehnt sich zurück und nimmt genüsslich einen weiteren Zug, während Dingo fragt, ob man dieses Urteil dann nicht gleich über alle in irgendeiner Form am Prozess Beteiligten verhängen sollte. Philly zeigt ein erfreutes Gut-mitgedacht-Gesicht, sieht zu Erica hinüber und nickt eifrig.

Dann steht Philly auf und zieht sich – we’re all grown-ups, aren’t we – für die Party um. Die Tasche mit den Klamotten liegt im hinteren Winkel des Zimmers und so bekommt man vom Bett aus eher die Rückansicht. Erica blickt verstohlen zu Dingo, der verstohlen zu Philly blickt. Sie kann es ihm kaum verdenken.

Zwei Stunden später ist die Party in vollem Gange und hat alles, was eine gute Party braucht: motivierte Gäste, reichlich Alkohol und wenig Platz. Musik ist da schon zweitrangig, die zwei kleinen Boxen am Fußboden kämpfen aber wacker gegen den allgemeinen Lärmpegel an. Erica unterhält sich länger mit zwei von Phillys alten Freunden über chinesische Popmusik, und durch dieses Gesprächsthema angeregt, trinken sie zu dritt Maotai-Shots. Auch Philly ist bester Laune, aufgedreht, und flirtet alles an, was einen Puls hat. Besonders Dingo scheint an diesem Abend viel Puls zu haben.

Die meisten der Partygäste waren früher häufig, aber in den letzten Jahren kaum mehr im Dachgeschoss. Ein sentimentales Gefühl heizt daher die Partystimmung auf merkwürdige Weise an. Wo es früher so heiß herging, muss es heute mindestens genauso verrückt werden. Philly gibt Tabletten herum, die die Partygäste »Molocos« nennen. Dingo greift zu, Erica lehnt ab. Sie versucht, Dingo ein wenig aus dem Dunstkreis des heißblütigen Geschwisters zu bekommen, doch Philly durchschaut sie wie immer sofort und macht sich über ihre kleinbürgerlichen Sorgen lustig. Erica fragt, ob Philly nicht in Zukunft etwas weniger Testosteronpräparate einnehmen möchte, vielleicht so ungefähr gar keine mehr?

Weil sie zunehmend genervt und allmählich müde wird, nimmt Erica zwei Molocos. Um sich selbst zu beweisen, dass sie es nicht tut, um irgendjemandem etwas zu beweisen, nimmt sie sie heimlich. Tatsächlich ist die Wirkung zunächst sehr angenehm. Die gedämpfte Musik spürt sie jetzt eher, als sie zu hören, während sie barfuß auf Phillys Gästematratze tanzt. Irgendwann fragt Dingo spöttisch, ob es ihr gut gehe. Statt einer Antwort zieht sie ihn fest zu sich und küsst ihn ziemlich aggressiv. Sie spürt, dass er hart wird, spielt mit der Hand über die Stelle und flüstert: »Wait till they’re gone, baby!«

Dann sieht sie eine unbestimmbare Zeitspanne lang alles merkwürdig verzerrt. Dann bekommt alles einen starken Grünstich. Dann wird ihr übel. Dann wird sie unfassbar müde. Obwohl noch mehrere Gäste anwesend sind, legt sie sich einfach ins Bett und ist sofort weg.

Sie wacht auf, weil jemand aus dem Zimmer schleicht. Sie hat keinen Kater, aber einen eigentümlichen Geschmack im Mund. Es ist heiß und stickig, sie möchte dringend etwas trinken. Erst nach diesen Gedanken bemerkt sie, dass sie alleine im Bett liegt. Sie richtet sich halb auf und sieht, wie Dingo und Philly zu zweit auf der Ein-Mann-Gästematratze schlafen. Philly ist fast komplett zugedeckt, nur die Zehen lugen hervor. Dingo dagegen hat kaum Decke und schläft in Boxershorts, sein fitter, dunkler Oberkörper ist nackt.

Mit einem panikartigen Gefühl des Ertrinkens steigt Erica über einen alten Freund von Philly, der mit dem Gesicht nach unten bei der Tür liegt, und geht schnell treppab ins Badezimmer. Sie versucht sich zu beruhigen, doch es gelingt nicht.

Sie ist gar nicht sicher, wie Philly mittlerweile untenrum bestückt ist.