Katholisches Medienhandbuch

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27 Luhmann, Niklas: Religion als Kommunikation. In: Tyrell, Hartmann / Krech, Volkhard / Knoblauch, Hubert (Hgg.): Religion als Kommunikation. Würzburg 1998, S. 135–145.

28 Tyrell, Hartmann: Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt. In: Ders.: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie. Wiesbaden 2008, S. 263.

29 Vgl. Tyrell: (Anm. 3).

30 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion. In: Honer, Anne u. a. (Hgg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 209.

31 Vgl. Reichertz, Jo: RTL-Bibelclips. Christliche Verkündigung als Werbespot. In: Anne Honer u. a. (Hgg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 244.

32 Hoffmann, Paul: Die „Transzendenz“ Gottes in der Verkündigung Jesu. In: Josef Bruhin u. a. (Hgg.): Misere und Rettung. Beiträge zu Theologie, Politik und Kultur. Luzern 2007, S. 125–134.

33 Hoffmann, Paul / Heil, Christoph (Hgg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch. Darmstadt 2002, S. 24.

34 März, Claus Peter: Der Brief als missionarisches und kirchenleitendes Medium bei Paulus. In: Malik, ­Jamal / Rüpke, Jörg / Wobbe, Theresa (Hgg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual. Münster 2007, S. 115.

35 März: (Anm. 9), S. 105.

36 Wiefel, Wolfgang: Erwägungen zur soziologischen Hermeneutik urchristlicher Gottesdienstformen. In: Kairos 14/1972, S. 36–51.

37 Tyrell, Hartmann: (Anm. 3), S. 299.

38 Ebd., S. 301ff.

39 Ebd., S. 308.

40 Ebd., S. 310.

41 Hohm, Hans-Jürgen: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Eine Einführung in soziologische Sys­temtheorie. Weinheim/München 22006, S. 74.

42 Ebd., S. 74.

43 Ebd.

44 Ebd., S. 75.

45 Ebd.

46 Ebd., S. 78.

47 Vgl. Keppler, Angela: Medienreligion ist keine Religion. Fünf Thesen zu den Grenzen einer erhellenden Analogie. In: Günter Thomas (Hg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens? Wiesbaden 2000, S. 197.

48 Nüchtern, Michael: Die (un)heimliche Sehnsucht nach Religiösem. Stuttgart 1998, S. 55.

49 Nassehi, Armin: Erstaunliche religiöse Kompetenz. In: Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2007, S. 120.

50 Reichertz, Jo: (Anm. 6), S. 245.

51 Vgl. Rüpke, Jörg: Religion medial. In: Malik, Jamal / Rüpke, Jörg / Wobbe, Theresa (Hgg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual. Münster 2007, S. 27.

52 Vgl. Ayaß, Ruth: Religion als Unterhaltung. Der Pfarrer als Fernsehheld. In: Religion und Kultur (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33) 1993, S. 350–367.

53 Vgl. Schelsky, Helmut: Gedanken zur Rolle der Publizistik in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. München 1979, S. 306.

54 Vgl. Kranemann, Benedikt: Gottesdienstübertragung: Kirchliche Liturgie in medialer Öffentlichkeit. In: Malik, Jamal / Rüpke, Jörg / Wobbe, Theresa (Hgg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual. Münster 2007, S. 181–190.

55 Nassehi, Armin: (Anm. 24), S. 120.

56 Ebd., S. 125.

57 Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt 2007, S. 84f.

58 Ebd., S. 92.

3. Öffentlichkeit und Kirche

Matthias Wörther, Leiter der Fachstelle „medien und kommunikation“

im Erzbistum München und Freising

„Darum müssen Katholiken sich völlig dessen bewusst sein, dass sie wirklich die Freiheit der Meinungsäußerung besitzen“ – dieser Satz aus der 1971 erschienenen Pastoralkonstitution „Communio et progressio“ (Artikel 116) bezieht sich auf die Notwendigkeit einer öffentlichen Meinung innerhalb und außerhalb der Kirche. Mit der Freiheit der Meinungsäußerung und mit den beiden Öffentlichkeiten, der inneren wie der äußeren, in denen sie gegeben sein soll, hat die Kirche jedoch zweifellos weiterhin Probleme.

Ihre institutionellen Schwierigkeiten mit der Öffentlichkeit gehen auf die hierarchische Verfassung und das Selbstverständnis einer Einrichtung zurück, die sich auf göttliche Offenbarung beruft. Sie will mit von daher begründeter Autorität sprechen und die im Auftrag Gottes zu verkündende Wahrheit weder einer öffentlichen Diskussion noch demokratischen Meinungsbildungsprozessen überantworten und darf es auch nicht. Ihre grundlegende Orientierung auf das „Wort“ und die damit oft verbundene (und mit dem alttestamentlichen Bilderverbot untermauerte) latente Bildfeindlichkeit erschwert zusätzlich das ange­messene Agieren in der Mediengesellschaft.

Die Probleme mit der äußeren Öffentlichkeit haben historische, institutionelle und aktuelle Ursachen. Seit der Entstehung der bürgerlich-säkularen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert sieht sich die Kirche mit einer kritischen Instanz konfrontiert, die sich ihrem Einfluss entzieht. Bis heute schwankt sie deshalb zwischen offensiver Beteiligung am Meinungsstreit und einem vorwürflichen Ressentiment, sie werde im medialen Raum gezielt angefeindet, diffamiert und unsachlich dargestellt.

Ihre institutionellen Schwierigkeiten mit der Öffentlichkeit gehen auf die hierarchische Verfassung und das Selbstverständnis einer Einrichtung zurück, die sich auf göttliche Offenbarung beruft. Sie will mit von daher begründeter Autorität sprechen und die im Auftrag Gottes zu verkündende Wahrheit weder einer öffentlichen Diskussion noch demokratischen Meinungsbildungsprozessen überantworten und darf es auch nicht. Ihre grundlegende Orientierung auf das „Wort“ und die damit oft verbundene (und mit dem alttestamentlichen Bilderverbot untermauerte) latente Bildfeindlichkeit erschwert zusätzlich das angemessene Agieren in der Mediengesellschaft.

Aktuell wird das problematische Verhältnis der Kirche zur medialen Öffentlichkeit besonders deutlich am Kontrast zwischen Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. War Ersterer Liebling der Medien und ein begnadeter Selbstdarsteller und Event-Regisseur, der sich der medialen und massenmedialen Mittel für die Zwecke der Kirche gezielt bediente, glaubt Benedikt XVI. die Kirche und ihre Botschaft von der Öffentlichkeit nicht nur missverstanden, sondern in vielfacher Hinsicht angegriffen, in unfairer Weise kritisiert und immer wieder verleumdet. Stellt sich bei Johannes Paul II. die Frage, ob seine gekonnte PR-Arbeit der Öffentlichkeit in Bezug auf seine tatsächlichen Positionen nicht Sand in die Augen streute, wird bei Benedikt XVI. derselbe Effekt, nämlich ein schiefes Bild der Kirche, durch mangelhafte Kommunikationskompetenz und einen naiven Medienbegriff erzeugt. Eine Öffentlichkeit, die die Kirche von farbenfrohen und fernsehtauglichen Liturgie-Großspektakeln her beurteilt, wird ihr deshalb ebenso wenig gerecht werden wie diejenigen, die ihr Verhältnis zum Islam an einer aus dem Kontext gelösten Regensburger Äußerung des gegenwärtigen Papstes festmachen.

Die zunehmenden Probleme der Kirche mit ihrer inneren Öffentlichkeit sind nicht von denen mit der äußeren Öffentlichkeit zu trennen. Wer als gläubiger Zeitgenosse seine Freiheit der Meinungsäußerung in der äußeren Öffentlichkeit uneingeschränkt wahrnimmt, trägt dieses Selbstverständnis in die innere Öffentlichkeit der Kirche hinein. Wie nicht nur der Missbrauchsskandal zeigt, herrscht dort allerdings verbreitet noch die Auffassung, man könne und dürfe die interne Öffentlichkeit von der äußeren abschotten. Ebenso glaubt man, den Glauben in der Gegenwart dadurch sichern zu können, dass man die Konfrontation mit den Entwicklungen der Moderne verhindert oder als unnötig qualifiziert. Viele Gläubige retten sich aus dieser widersprüchlichen Situation entweder durch Flucht in die eine oder die andere Richtung (Säkularismus oder Fundamentalismus), durch Selbstspaltung (bewusst oder unbewusst) oder durch eine ironische Loyalität, die nur das ernst nimmt, was sie selbst für relevant hält.

 

Es ist offensichtlich, dass die angesprochenen Probleme mit beiden Öffentlichkeiten durch reine PR-Arbeit, so gekonnt sie auch sein mag, allenfalls zu kaschieren, nicht aber zu beheben sind. Nimmt man in der Kirche die im ersten Petrusbrief geforderte prinzipielle Bereitschaft des christlichen Glaubens zur öffentlichen Auseinandersetzung mit anderen Positionen ernst („Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“, 1 Petrus 3,15), dann kann die Lösung nur in der Ausarbeitung einer Theologie liegen, die sich der Aufklärung, den Positionen der Postmoderne, den Ansätzen der Naturwissenschaften und den Konsequenzen der digitalen Revolution tatsächlich gestellt hat. Ihre Aufgabe ist es, die christliche Botschaft für die unterschiedlichen Horizonte gegenwärtigen Lebens so umzusetzen und zu formulieren, dass sie dort jeweils auch verstanden werden können. Der Petrusbrief verlangt keine Öffentlichkeit, die der Glaubensbotschaft gegenüber besondere Nachsicht oder ein besonderes Wohlwollen walten lässt. Im Gegenteil: Er ist sich seiner Sache sicher und sucht im Vertrauen auf die eigenen Argumente die Konfrontation, ebenso wie Paulus auf dem Areopag in Athen den Einwänden der Bürger Athens nicht ausgewichen ist.

Deshalb ist die professionelle Nutzung vorhandener und neu sich entwickelnder Kommunikationsformen wie dem Internet und seinen Möglichkeiten eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung, um das Öffentlichkeitsdilemma der Kirche zu lösen. Selbst wenn alle Forderungen des „Pastoralplans für soziale Kommunikation“ im Anhang der Pastoralinstruktion Aetatis Novae (1992) tatsächlich bereits umgesetzt wären, bliebe die Frage offen, ob der christliche Glaube auf dem Markt der weltanschaulichen Möglichkeiten dann bereits als eine argumentative und lebenspraktische Alternative erscheint, die die Menschen der Gegenwart zu ihm bekehren kann.

4. Von der Religion in den Medien zur Medienreligion

Klaus Müller, Direktor des Seminars für Philosophische Grundfragen der Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Noch komplexer als die anderen Buchreligionen Judentum und Islam ist das Christentum eine Religion der Medien: Die seit Abraham ergehende Selbstmitteilung Gottes, gebrochen im Prisma der alttestamentlichen Gattungen, wird Fleisch – was für ein Medium! Ein Mensch, geboren zwischen Tieren, gestorben an einem Schandpfahl, wird zur lebendigen Metapher des unbegreiflichen Gottes. Dieser Mensch selbst übersetzt (!) sein Wesentliches ins Medium eines heiligen Zeichens (die Eucharistie), seine Gefolgeleute und noch Spätere falten diese Medialisierung weiter aus (in den Sakramenten und Sakramentalien). Zugleich kommt es zu einer neuerlichen Übersetzung des fleischgewordenen Wortes ins Gesprochene und Geschriebene – das Neue Testament. Und dieses wiederum zielt zusammen mit den materiellen Zeichen(handlungen) auf nichts anderes, als dass Hörende und Feiernde das Gehörte und Gefeierte rezipieren und ins Medium erstpersönlichen Lebens übersetzen. Das Christentum – eine einzige Medienkette.

Natürlich haben die christlichen Verkünder seit je auch die medialen Kanäle menschlicher Kommunikation genutzt: Von den Briefen des Apostels Paulus (den ältesten Medienspuren des Christentums) über die unendlich reiche Bilderwelt der Mosaiken, Fresken, Plastiken bis hin zu Druckerzeugnissen, Radio Vaticana, den Zeitungen und Magazinen und heute natürlich den zahllosen Netzauftritten von Gemeinden, Bistümern, Verbänden bis hin zu den offiziellen Sites des Vatikan.

Das alles ist eigentlich gar nicht groß der Rede wert. Ein anderes dafür umso mehr: die Tatsache nämlich, dass das Phänomen der Neuen Medien als solches oft eine ganz eigenartige religiöse Aura mit sich führt. Zwischen beiden Seiten kann es zu brisanten Interferenzen kommen, auch zu Spannungen bis hin zur Unverträglichkeit: dass sozusagen die Eigenbotschaft, die das Medium ja immer auch schon allein kraft seiner eigenen Struktur und seines Rhythmus sendet, den transportierten Inhalt regelrecht dementiert.

Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben. Aber kaum ein anderes Feld der Technokultur ist davon intensiver geprägt als dasjenige, das die heute wirtschaftlich tonangebenden Weltgegenden durchherrscht und ihr Emblem – ihr Totem – im Computer gefunden hat: die postindustrielle Informationstechnik in Gestalt der Telematik, also dem Zusammenschluss herkömmlicher elektronischer Kommunikationstechniken mit den Neuen Medien. Religiöse Semantik, meist aus dem jüdisch-christlichen Traditionsstrom geschöpft, und der Rekurs auf einschlägige philosophisch-theologische Theoriestücke bestimmen in einem Maß die Selbstbeschreibung und Selbsttheoretisierung der Cyberwelt, dass es in einer Öffentlichkeit, die wie die derzeitige westeuropäische in Richtung eines religiösen Analphabetentums unterwegs ist, unschwer zu Verwechslungen zwischen technisch Projektiertem und religiöser Rhetorik kommt.59 Und es sind genau dies – die Entdifferenzierung von Technik und Theologie samt den zwangsläufigen Folgen – die Koordinaten, an denen entlang sich die religiöse Semantik und Theo­riebildung der Cyberwelt entwickelt.

Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben.

Das lässt sich gut an der Weise verfolgen, wie dazu biblische Motive aufgegriffen und geweitet, dann aber auch sozusagen revisionär in Gegengeschichten transformiert werden, die ausdrücklich dem biblischen Sinngehalt widersprechen. Prinzipiell lässt sich sagen, dass die kulturelle Selbstbeschreibung der Computerwelten das Gesamtrepertoire der jüdisch-christlichen Erzählung von Heilsgeschichte in Anspruch nimmt, angefangen vom Schöpfungsgedanken der Genesis bis zur Apokalypse, also dem letzten, so visionären Buch der Bibel, das in einer Geschichtstheologie aufgipfelt, die beansprucht, den letzten Sinn und das Ziel von allem offenzulegen. Genau diese eschatologisch-apokalyptische Ambition ist der gesamten Cybertheorie als strukturelles Grundmuster eingeschrieben: Sie ist ein einziges glühendes Versprechen der bevorstehenden Heraufkunft eines Reiches des Geistes und nimmt folgerichtig auch intensiv Bezug auf den, der wie kein anderer in der geschichtsphilosophisch-theologischen Tradition für diese Denkfigur steht: der mittelalterliche Abt Joachim von Fiore (1145–1202).60 Für ihn war nach dem Reich des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) mit dem Auftreten des benediktinischen Mönchtums ein „drittes Zeitalter“ angebrochen, das Reich des Geistes, das alte Regeln und Grenzen hinter sich lässt, durch nichts aufzuhalten ist und eine ins Hier und Heute gezogene Erlösung gewährt. Viele maßgebliche Programmschriften über die Chancen der informationstechnischen Kulturrevolution beziehen sich auf dieses Denkmuster.61 Unter welchen komplexen Voraussetzungen das geschieht, kann besonders gut an der cyberianischen Neufassung des Eröffnungsgedankens der biblischen Tradition zur Geltung gebracht werden: am theologischen Theorem der Schöpfung.

Der Schöpfungsgedanke – so poetisch er auf den ersten Seiten der Bibel und in einigen Psalmen begegnen mag62 – ist ja systematisch gesehen ein relativ spätes Krisenprodukt, nämlich die Reaktion auf die Katastrophe des babylonischen Exils. Israel hatte Land und Zukunft verspielt und kann an seinem Gottvertrauen in der Fremde nur noch dadurch festhalten, dass es diesen Gott souveräner als alles andere denkt, als einen, der auch noch die mächtigen Gegner in seinen Händen hält und zu seinem Werkzeug macht. Das ist dann gewährleistet, wenn er über schlichtweg alles gebietet, vom Sandkorn bis zu den Gestirnen hinauf.

Der Schöpfungsgedanke entwächst einer „offensive[n] Über-bietungstheologie“63 – und das ist insofern von höchster Brisanz, als schon innerbiblisch und dann erst recht in der theologischen Tradition dem Menschen eine Mitbeteiligung an Gottes Schöpfungshandeln zugeschrieben wird. Besonders markant geschieht dies etwa durch Nikolaus von Kues (1401–1464), wenn er den im Mittelalter Gott allein vorbehaltenen Titel „creator“ in der Zusammenstellung von „creator artium“ (Schöpfer der Künste) auch dem Menschen zuschreibt oder die Seele „notionalium creatrix“ (Schöpferin der Gedankendinge) nennt und schließlich vom Menschen als einem „secundus Deus“ sprechen kann, um seine schöpferische Berufung zum Ausdruck zu bringen.64 Und Pico della Mirandola (1463–1494) – eine Generation später – sieht die Würde des Menschen gerade darin begründet, dass Gott ihn nicht wie alles andere fertig schafft, sondern unterbestimmt ins Dasein setzt, damit er selbst sich in Freiheit zu seiner Vollgestalt – sei es nach unten, sei es nach oben – fortbestimme.65

Dieser Titel – mittellateinischer Provenienz – ist seit Anbeginn selbst theologisch und liturgisch hoch aufgeladen: Es gibt Zeugnisse, nach denen in der Epoche der Gegenreformation im Streit um die Verehrung von Gnadenbildern die Präsenz Christi im eucharistischen Brot als „realiter“, die Gegenwart etwa der Gottesmutter in einem Gnadenbild als „in virtute“ bezeichnet wurde. Heute bezeichnet er dabei so etwas wie eine „quasi göttliche Macht, die Welt zu konstruieren“, die sich aus der dezidiert angestrebten Entdifferenzierung von Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion speist.

Jedenfalls ist der Gedanke, dass an der erfahrenen Welt noch etwas zu machen, ja zu verbessern sei, theologisch nichts Fremdes. Dafür steht innerbiblisch bereits ja drastisch die Sintflutgeschichte. Und im 2., 3. nachchristlichen Jahrhundert meldet der Gedanke sich radikal und gebieterisch, die frühe kirchliche Überlieferung bedrängend, in den Bewegungen der Gnosis, für deren Mehrheit das Schöpfungswerk solcher Pfusch ist, dass man es einem anderen Gott als dem des Evangeliums anlasten müsse, und Letzterem komme die Aufgabe zu, da grundlegend nachzubessern.66 Eben dies aber ist ein Motiv, das sozusagen eins zu eins in die Cyberphilosophy eingeht.67 Einschlägige Konzeptionen übersetzen diese komplexe Schöpfungsmotivik zumeist sehr direkt in Optionen, die sie durch die Dimension der Virtualität eröffnet sehen.

Dieser Titel – mittellateinischer Provenienz68 – ist seit Anbeginn selbst theologisch und liturgisch hoch aufgeladen: Es gibt Zeugnisse, nach denen in der Epoche der Gegenreformation im Streit um die Verehrung von Gnadenbildern die Präsenz Christi im eucharistischen Brot als „realiter“, die Gegenwart etwa der Gottesmutter in einem Gnadenbild als „in virtute“ bezeichnet wurde.69 Heute bezeichnet er dabei so etwas wie eine „quasi göttliche Macht, die Welt zu konstruieren“70, die sich aus der dezidiert angestrebten Entdifferenzierung von Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion speist.71 Diese Denkfigur, in durch nichts begrenzter Freiheit zu wissen, zu tun und zu sein, was immer sich der Geist vorstellen kann, hat dabei nicht nur ein Vorausbild in dem mittelalterlichen Theologumenon, dass Gott dadurch etwas erschaffe, dass er es erkenne. Weit dahinter zurück beziehen sich einschlägige Cyber-Autoren und -Kritiker höchst komplex auf diejenige biblische Erzähltradition, mit der die sogenannte Urgeschichte im Buch Genesis endet und die bereits innerbiblisch und dann in der theologischen Tradition exzessiv mit dem medialen Spitzenereignis des Neuen Testaments verknüpft ist. Es geht um den Weg von Babel nach Pfingsten.

Die Erzählung des Turmbaus von Babel bildet das so furiose wie desaströse Finale der ersten zwölf Kapitel der Bibel, die allem anderen, was noch kommt, vorgeschaltet sind: Anhebend mit der Erzählung vom Sündenfall in Genesis 3 kommt eine regelrechte Lawine des Unheils und des Bösen in Gang, von Kains Brudermord und den Gewaltexzessen in den nachfolgenden Generationen, die auch das Ritardando der Sintflut nicht aus der Welt zu schaffen vermag, bis hin zu jenem Entschluss der Menschheit, sich durch die Errichtung eines himmelragenden Bauwerks einen Namen – und also sich selbst zu etwas – zu machen. In der biblischen Tradition veranlasst die menschliche Selbstermächtigung zu gottgleichem Ineinsfall von Ersinnen und Ausführen den Schöpfer, die Sprache der Menschen zu verwirren (vgl. Genesis 11,7–9). Das cybertheoretische Selbstverständnis geht im Windschatten einer viel längeren okzidentalen Traumtradition vollkommener Kommunikation in die genau entgegengesetzte Richtung: Der babylonischen „Infokalypse“72 im Sinn einer Explosion von Sprachen und Informationssystemen in eine reziproke Unbegreifbarkeit soll – wenigstens der Intention nach – mit dem Gegenprojekt widerstanden werden, durch die Verknüpfung aller mit allen und die Verbreitung eines für alle verständlichen Codes, der mehr mit Icons als mit Wörtern arbeitet, alle Kommunikationsbarrieren aufzuheben und so linguistisch gesehen in einen präbabylonischen, also adamitischen Status zurückzufinden.

 

Nicht wenigen Cybertheoretikern ist dabei klar, dass sie auch mit einer solchen Revision Babels nochmals ein jüdisch-christliches Grundmotiv aufnehmen. Schon Theologen in der Frühzeit der Kirche hatten vom Buch Genesis einen kühnen Bogen in die neutestamentliche Apostelgeschichte geschlagen und das dort erzählte Pfingstereignis als Anti-Typos – d. h. als Aufhebung und Heilung – des Kommunikationsdesasters von Babel gelesen. Genau diese Hoffnung, dass die ganze Menschheit einmal durch die elektronischen Medien verbunden werde und damit soziale Brüche und Spezialwissen (das immer auch Herrschaftswissen ist) verschwänden und letztendlich eine Himmlische Stadt, ein neues Jerusalem heraufziehe, hat schon der gern als Medienpapst titulierte Marshall McLuhan formuliert.73

„Der Glaube an ein solches Pfingstfest der Vereinigung der Menschheit durch das Wegfallen aller Trennungen, in der Romantik noch von einer neuen Religion oder Mythologie, danach als Folge der gesellschaftlichen Revolution und der Auflösung des Eigentums an Produktionsmitteln erwartet, stellt sich für die Cyberkultur, kämpft man nur gegen etwaige staatliche oder kommerzielle Beeinflussungen, durch die Technik des anarchistischen, dezentralen Netzes von selbst her.“74

Allerdings ist mit dieser politischen Dimension die telematisch fundierte Technotheologie noch nicht ausgeschöpft. Sie hat nämlich so etwas wie eine kosmotheologisch-naturphilosophische Kehrseite höchster Brisanz. Die wird am direktesten darin greifbar, dass die Symbolik des Neuen Jerusalems – das ist ja eine Orts-Kategorie – zugleich als erstrangige Bedeutungsquelle für das wohl zentralste, in jedem Fall populärste Bild der Telematik fungiert: den Cyberspace. Ohne die explosive Mythologie75 dieses Konzepts an dieser Stelle auch nur im Elementaren ausloten zu können, soll nachfolgend lediglich der wohl frappierendste Zug von Technospiritualität am Cyberspace-Konzept beleuchtet werden, der die gesuchte naturphilosophische Dimension der Telematik grundlegt.

Eine bündige Definition von „Cyberspace“, die konsensfähig wäre, gibt es nicht mehr (wenn es sie je gegeben hat). Jedoch kann man sagen, dass zur Cyberspace-Idee auch Profilzüge gehören, die aus einer Verknüpfung von Theologie und Evolutionstheorie hervorgehen. Dafür steht wie kein anderer der katholische Theologe und Paläontologe Teilhard de Chardin (1881–1955), der – kirchenamtlich argwöhnisch beäugt – gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner naturwissenschaftlich-philosophisch-theologischen Hypothese von der Noosphäre, einer immer intensiver werdenden, den Globus umspannenden Vernetzung menschlicher Intelligenz, Furore machte und zu einer Art Kultautor der Cyberszene avancierte – in diese übrigens eingeführt von dem bereits erwähnten Marshall McLuhan.76 Diese Zusammenführung von Natur-, Bewusstseins- und Technikgeschichte setzt weder philosophiehistorisch noch naturwissenschaftlich im luftleeren Raum an.77 Zum einen steht für Teilhard Blaise Pascal (1623–1662) mit der Idee eines medial (nämlich durch das Buch) getragenen Fortschritts der universalen Menschheit Pate. Und Ähnliches gilt für Auguste Comte (1798–1857) mit seiner Idee von der ganzen Menschheit als eines auf seine empirischen Gesetzmäßigkeiten hin analysierbaren realen Organismus. Auf naturwissenschaftlicher Seite konzipiert Teilhard einen Evolutionsgedanken, der einen Übergang zwischen Natur und Technik einbegreift, sofern die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen ein biologisches Ereignis sei, das „[…] von nun an jedes Individuum (aktiv und passiv) auf allen Meeren und Kontinenten gleichzeitig gegenwärtig […]“78 sein lasse. Sofern das einen Prozess zunehmender Vergeistigung darstelle, führe er zu einer Purifikation des Geistes und erlaube über den instrumentellen Einsatz des Computers (an den Teilhard selbst wohl bereits dachte) eine Evolutionsplanung und -steuerung in Absicht einer „Auto-Cerebralisation der Menschheit“.79

Mit diesem Selbstverständnis der Cyberphilosophy geht eine geradezu naturwüchsige Form von Religionskritik, namentlich einer solchen des Christentums, einher, sofern diesem im Blick auf seine Solidarität gerade mit den Schwachen vorgeworfen wird, den technisch-kulturellen Fortschritt zu behindern. Dem entgegen gehe es vielmehr darum, die fehleranfällige „wetware“ (Feuchtausstattung/„Wassersack“) der menschlichen Leiblichkeit so weit wie irgend möglich auszuschalten und den zum ­Signum des 20. Jahrhunderts gewordenen „Sturz der Materie“ – so im berühmten „Cyber-Manifesto“ – konsequent fortzusetzen.

Genau in den damit von Teilhard eröffneten Raum einer Überschreitbarkeit des Biologischen schießen im Gang der Cyberphilosophy ganze Bündel von Theoremen und Programmen ein, die darauf abzielen, den Menschen und seine intellektuellen Kapazitäten von biologischen Hemmschuhen zu befreien und damit neben dem politischen Reich der Freiheit auch die Befreiung von der Physis verheißen.80 Das sind all die Projekte, die an einer postbiologischen Menschheit laborieren, häufig wie mehr oder weniger gute Science Fiction auftreten – und sich trotzdem auf oft verblüffende Weise als Hintergrundannahmen wissenschaftlicher Projekte, politischer Initiativen und/oder philosophischer Optionen wiederfinden.81 Avancierte medizin- und nanotechnische Projekte am Mensch-Maschinen-Schnittpunkt verflechten sich dabei mit philosophischen Hintergrundannahmen, die sich gern an Friedrich Nietzsche inspirieren. In seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ steht ein Satz, der dafür als Motto dienen könnte:

„Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?“82

Mit diesem Selbstverständnis der Cyberphilosophy geht eine geradezu naturwüchsige Form von Religionskritik, namentlich einer solchen des Christentums, einher, sofern diesem im Blick auf seine Solidarität gerade mit den Schwachen vorgeworfen wird, den technisch-kulturellen Fortschritt zu behindern. Dem entgegen gehe es vielmehr darum, die fehleranfällige „wetware“ (Feuchtausstattung/„Wassersack“) der menschlichen Leiblichkeit so weit wie irgend möglich auszuschalten und den zum Signum des 20. Jahrhunderts gewordenen „Sturz der Materie“ – so im berühmten „Cyber-Manifesto“83 – konsequent fortzusetzen. Die darin implizierte Revision des Christlichen bringt der Netzwelt-Vordenker John Perry Barlow auf den bündigen Nenner einer medialen Revision des Christentums:

„Heute wird das Fleisch so gewissermaßen Wort.“84

Wenn dem so ist, dann steht die Theologie an dieser Stelle vor der Aufgabe fälliger Grenzziehungen. Denn sie hat ein inkarnatorisches Zentrum, das auch im Raum der nach-jesuanischen Christus-Verkündigung durch die Materialität der Sakramente gegenwärtig bleibt. Vielleicht darf man sagen: Der heiße Kern der christlichen Gottesoffenbarung ist das Fleisch – und eben hier verläuft die Konfliktlinie zwischen christlicher Botschaft und dem quasireligiösen Anspruch der neuen Medienwelt. Das wache Bewusstsein für deren Eigenbotschaft und ihre eigene religiöse Aura gehört darum unverzichtbar zu einem kompetenten Umgang mit ihr.

Literatur

Müller, Klaus: Wechsel und Verkettung. Medienphilosophische Grenzziehungen in Sachen Liturgie. In: Winter, Stephan (Hg.): „Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,1). Liturgiewissenschaft und Philosophie im Dialog. Regensburg 2006. S. 264–280.

Ders.: Glauben – Fragen – Denken. Bd. 2: Weisen der Weltbeziehung. Münster 2008. Teil A, Kap. 4. S. 211–259.

59 Vgl. Jochum, Uwe: Kritik der neuen Medien. Ein eschatologischer Essay. München 2003, S. 48.

60 Vgl. Davis, Erik: Techgnosis. Myth, Magic + Mysticism in the Age of Information. New York 1998, S. 256–258. – Stahl, William A.: God and the Chip. Religion and the Culture of technology. Waterloo 1999, S. 3. ed 2001. (Editions SR; 24), S. 43–48.

61 Vgl. etwa Masusa, Yoneji: The Information Society. Washington 1980. – Feigenbaum, Edward / McCorduck, Pamela: The Fifth Generation. Reading, Mass. 1983. – Drexler, K. Erik: Engines of Creation. Garden City 1986. – Moravec, Hans: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg 1990. – Negroponte, Nicholas: Being digital. New York 1995. – Ogden, Frank: Navigating in Cyberspace. A Guide to the Next Millennium. Toronto 1995. – Kurzweil, Raymond: Homo s@piens. Köln 32000.

62 Vgl. Genesis 1,1 – 2,25. – Psalm 8, S. 148.

63 Sloterdijk, Peter / Jüngel, Eberhard: Disput über die Schöpfung. In: Jahrbuch 2001. Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst. München 2001, S. 23–37. Hier S. 28.

64 Vgl. dazu Velthoven, Theo van: Gottesschau und menschliche Kreativität. Studien zur Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues. Leiden 1977, S. 98–99.