140 Tage — Balkan-Tiger & Brusketa

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Victor war geschockt. Ich habe diese Szene noch genau vor Augen: Zuerst sah er mich ungläubig an, sagte kein Wort. Dann wandte er sich ab und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. Wie gerne hätte ich mich damals einfach in seine Arme geworfen und geweint, aber ich traute mich nicht. Ich fühlte mich schuldig. Als er sich mir, nach einer gefühlten Ewigkeit, mit ernster Miene endlich wieder zuwandte, war seine Reaktion ganz pragmatisch: Ana, ich liebe dich sehr, aber wir sind mitten im Studium und können uns jetzt kein Kind leisten. Geh zum Frauenarzt und lass noch einen Test machen — vielleicht ist das Ergebnis ja falsch. Und wenn nicht, dann finden wir eine andere Lösung. 'Eine andere Lösung' ... und die wäre? Ich weiß bis heute nicht, ob er sich bewusst war, wie sehr mich seine Worte verletzt hatten. Wie Pfeilspitzen mitten in die Brust. Es tat sehr weh.

Meine Eltern waren außer sich. Ich hatte nichts anderes erwartet. Für sie kam meine Schwangerschaft einer Katastrophe gleich. In ihren Augen hatte ich mein Leben verpfuscht. Meine ältere Schwester Katarina studierte Medizin und fragte mich in ihrer arroganten Art, wie man so blöd sein könne, aus einer Arztfamilie zu kommen und nichts über Verhütungsmittel zu wissen. Das Weihnachtsfest war im Eimer. An Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag war es besonders schlimm. Alle mieden das Thema und heuchelten, als sei alles in bester Ordnung, und doch lag die Anspannung in der Luft. Ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag bröckelte die Fassade und meine Mutter lief immer öfter weinend durchs Haus und fragte sich im Selbstgespräch, was sie nur falsch gemacht hätte, womit sie das verdient hätte. Mein Vater sprach kaum ein Wort mit mir. Bis Neujahr wollte ich eine Entscheidung getroffen haben. Die meiste Zeit verbrachte ich alleine in meinem Zimmer und dachte nach. Victor war über Weihnachten mit seiner Familie nach Argentinien zu seinen Großeltern gereist und wir hatten bis auf einen kurzen Anruf keinen Kontakt. Meine beste Freundin Klara war ebenfalls mit ihrer Familie in den Skiurlaub gereist. Nur mein kleiner Bruder Marko kam ab und zu in mein Zimmer und tröstete mich, indem er mir Witze erzählte und versuchte, mich zum Lachen zu bringen. Alles in mir sträubte sich gegen eine Abtreibung. Warum sollte ich das Kind des Mannes, den ich über alles liebte, nicht behalten? Weil ich erst 21 Jahre alt war? Weil ich mein Studium noch nicht abgeschlossen hatte? Es gab doch Studentinnen, die schon Kinder hatten — wenn sie es schaffen, warum sollte ich es nicht schaffen? Wir lebten doch nicht im Mittelalter! Ich musste diese Entscheidung alleine fällen, was mir sehr schwer fiel. Würde ich ihn verlieren, wenn ich mich für das Kind entschied? Davor hatte ich die größte Angst. Ich liebte Victor so sehr, dass ich mir ein Leben ohne ihn kaum vorstellen konnte. Am zweiten Januar 1993 teilte ich meinen Eltern mit, dass ich das Baby behalten wollte. Schweren Herzens akzeptierten sie meine Entscheidung, bestanden jedoch auf geordnete Verhältnisse. Ein uneheliches Enkelkind kam für sie nicht infrage. Und das Studium durfte ich auch nicht abbrechen, denn schließlich kam ich aus einer Akademikerfamilie und hatte diese Tradition fortzusetzen, vor allem unter den fantastischen Bedingungen, die sie uns boten, die nicht vergleichbar waren mit den ihren — bla, bla, bla ... Sie bestanden auf ein Gespräch mit Victor. In scharfem Ton teilte mein Vater ihm unmissverständlich mit, dass meine Eltern von ihm erwarten, seine Verpflichtung mir und dem Baby gegenüber ernst zu nehmen. Sie setzten ihm die Pistole auf die Brust mich zu heiraten, und zwar möglichst schnell, damit die Tatsache, dass er mich vor der Ehe geschwängert habe, nicht sofort publik würde. Im Gegenzug erklärten sie sich bereit, uns in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Ich fühlte mich, als würde es sich um eine Verhandlung zur Zwangsehe handeln und versank vor Scham im Erdboden. Ich versuchte zu widersprechen, aber es war erfolglos ... Victor war schon 27 Jahre alt und ich war verwundert, dass er ruhig blieb. Er willigte ein, mich zu heiraten. Es war zwar kein romantischer Heiratsantrag, aber dennoch jubelte ich innerlich. Das hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt. Mein Victor liebte mich, er wollte mich heiraten! Nach diesem Gespräch nahm Victor mich zum ersten Mal, seit ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählt hatte, in die Arme und sagte, es würde hart werden, aber wir würden es schon schaffen. Ich war so glücklich, denn ich ahnte damals noch nicht, wie hart es tatsächlich werden würde ... Es stand noch das Gespräch mit Victors Eltern an. Victors Vater ist Argentinier, lebte jedoch wie meine Eltern, schon seit vielen Jahren in München, wo er eine deutsche Frau geheiratet hatte. Victors Eltern waren immer sehr freundlich zu mir gewesen, aber von meiner ungeplanten Schwangerschaft waren sie gar nicht begeistert. Ich spürte, dass sie mir die Schuld an der Situation gaben. Ihr Sohn sollte mal ein angesehener Anwalt werden und weder Frau noch Kind sollten ihn daran hindern. Im April haben wir dann in kleinem Rahmen standesamtlich geheiratet. Die große kirchliche Hochzeit wollten wir ein Jahr später, nach Victors erstem Staatsexamen, nachholen. Doch dazu ist es nicht gekommen ...

Was soll's, das ist alles Vergangenheit, ich lebe im Hier und Jetzt! Und 'jetzt' heißt, dass ich, auch wenn es falsch sein mag, immer an Darkos Kuss denken muss ...

SMS 01:06 , Ana schreibt

Ich kann nach deinem dicken Gutenacht-Kuss nicht einschlafen.

SMS 01:10, Darko schreibt

Ich habe schlaflose Nächte, seit ich dich in Dubrovnik wieder gesehen habe.

Er schläft auch noch nicht. Hat er etwa auf meine Nachricht gewartet? Er hat schlaflose Nächte, meinetwegen ... es ist alles so unglaublich! Was passiert da gerade mit uns? Oder interpretiere ich zu viel hinein?

Freitag, 08. Juni

SMS 13:58, Ana schreibt

Darko! Was machst du eigentlich mit mir? In Gedanken an dich bin ich eingeschlafen und in Gedanken an dich bin ich aufgewacht ...

Ana, du bist doch wohl nicht mehr zu retten! Wie konntest du so die Beherrschung verlieren und so eine SMS schreiben und auch noch absenden? Was ist nur los mit mir? Ich bin völlig durchgeknallt! Ich kann mich kaum noch auf meine Arbeit konzentrieren. Wie kann ich mich in meinem Alter noch so kindisch aufführen. Was muss Darko jetzt von mir denken?

Mail 17:53, Darko schreibt

Liebe Ana,

wie schön, dass du Zeit gefunden hast mir zu schreiben. Ich bin gerade von der Arbeit im Weinberg nach Hause gekommen. Morgen beginnt hier eine kleine Weinmesse, auf der ich meine Weine vorstellen werde. Das ist eine willkommene Abwechslung, denn bei mir ist eigentlich fast jeder Tag gleich — die gleiche Arbeit, die gleichen Menschen. Das Wetter ist nach wie vor sehr schön. Für Sonntag ist etwas Regen angesagt, aber ich hoffe, dass es sonnig bleibt, dann kommen vielleicht mehr Besucher auf die Messe.

Ich lese in deiner Mail, dass du auf der Arbeit sehr viel Stress hast. Kann es sein, dass du dir zu viel vorgenommen hast? Das ist doch kein Leben! Aber du bist ein schlaues Mädchen und wirst diesem Wahnsinn früher oder später ein Ende setzen. Sieh mal zu, dass du in den 24 Stunden, die ein Tag dir bietet, auch etwas Zeit für dich findest. Weißt du, wie man bei uns am Meer sagt? 'Das Glück liegt nicht im Geld allein.' Kommst du denn jemals zur Ruhe?

Ana, ich denke oft an dich. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, seit wir uns in Dubrovnik begegnet sind. Ich habe das Gefühl, dass wir seelenverwandt sind. Was sagst du dazu? Um ehrlich zu sein, ich denke ständig an dich und an die kurzen Momente, die wir gemeinsam verbracht haben. Unsere Begegnung war ein Volltreffer. Wie sagt man so schön? Da war ich wohl zur rechten Zeit am rechten Ort.

Ciao, dein Darko.

SMS 22:35, Darko schreibt

Ich hab dir eine Mail geschickt.

SMS 23:09, Ana schreibt

Ich weiß. Ich bin heute Abend auf einer Geburtstagsparty. Wenn ich nach Hause komme, werde ich sie in Ruhe lesen und dir etwas Schönes zurückschreiben.

Ich bin atemlos beim Lesen dieser Mail. Niemals hätte ich Darko zugetraut, dass er so schöne Briefe schreibt. Ich lese sie immer und immer wieder: Wir sind seelenverwandt ... ich denke ständig an die Momente, die wir gemeinsam verbracht haben ... unsere Begegnung war ein Volltreffer — ja, das war sie wohl wirklich! Am liebsten würde ich diese Mail ausdrucken und an die Wand hängen, um sie immer wieder und wieder zu lesen. Es ist halb vier Uhr morgens, aber ich muss ihm einfach sofort antworten. Bin ich so beflügelt oder liebestrunken? Benutzt man diesen Ausdruck überhaupt noch? 'Seine Email macht mich liebestrunken' — klingt ja irgendwie paradox, oder? Technik und Romantik, geht das überhaupt? Ist ja auch egal ...

Mail 04:15, Ana schreibt

Lieber Darko,

was ich dazu sage? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Unsere Begegnung ist ja irgendwie vom Himmel gefallen, vielleicht weil wir offen durchs Leben gehen, vielleicht weil wir trotz vieler Probleme so viel miteinander gelacht haben — ich weiß es nicht ... Eine Erklärung habe ich auch nicht. Aber am allerschönsten finde ich, dass wir uns platonisch näher kommen, über das geschriebene Wort. Du verwirrst mich. Die Gefühle, die du in mir weckst, machen mir etwas Angst, machen mich aber auch glücklich. Ich finde es so romantisch. In diesen Dingen werde ich scheinbar bis in alle Ewigkeit ein 'Mädchen' bleiben. Aber jede Frau hat ja bekanntlich mehrere Facetten, das brauche ich dir erfahrenem Mann wohl nicht zu sagen.

 

Was meine Arbeit angeht ... was soll ich dazu sagen? Soweit ich zurückdenken kann, bin ich immer in Aktion gewesen. Ich kenne es gar nicht anders. Okay, ich gebe zu, dass ich mir ein paar hohe Ziele gesteckt habe, die ich unbedingt erreichen möchte. Andererseits empfinde ich es nicht immer so schlimm, wie es dir als Außenstehendem vorkommen mag, denn ich liebe meinen Beruf sehr und habe Spaß — das hat nicht nur mit Geld zu tun, sondern eher mit dem Wunsch die Gelegenheiten, die das Leben mir bietet zu nutzen, mich zu verwirklichen und mich frei und unabhängig zu fühlen. Aber keine Sorge, ich lasse es mir zwischendurch auch richtig gut gehen — bin in allem extrem :-) Leidenschaftliche Kroatin eben!

Ich sehe gerade, dass es schon nach 4:00 Uhr ist. Ich muss jetzt ins Bett und werde wohl auch diese Nacht mit Gedanken an dich einschlafen, mein lieber Darko.

Ich habe wieder drauflos geschrieben, ohne nachzudenken ... ob das wohl so gut ist? Was ist denn nun besser — authentisch und ehrlich oder weiblich-strategisch und mysteriös? Worauf stehen Männer mehr? Wir kennen uns doch kaum und ich plaudere einfach so drauf los. Vielleicht sollte ich mich etwas geheimnisvoller geben ...

Samstag, 09. Juni

SMS 20:54, Darko schreibt

Einer leidenschaftlichen Kroatin kann ich ja sagen, dass sie ein sehr schönes Dekolleté hat. ;-)

SMS 21:34, Ana schreibt

Darkooooo! Du denkst ja immer noch daran. Am Meer bist du doch rund um die Uhr umzingelt von halb nackten Frauen!

SMS 21:38, Darko schreibt

Deins ist aber besonders schön.

SMS 21:40, Ana schreibt

Was ist denn an meinem so besonders schön?

SMS 21:41, Darko schreibt

Siehst du, jetzt wirst du doch neugierig.

SMS 21:42, Ana schreibt

Los, ich will es jetzt wissen

SMS 21:44, Darko schreibt

Es erinnert mich an eine knusprige Brusketa.

SMS 21:48

An eine Brusketa? Du meinst Bruschetta, das italienische geröstete Brot mit Tomaten? Wie kommst du denn auf diese Idee?

SMS 21:50

Knusprig, saftig, süß, lecker. :-) Deine Brüste sind genau wie deine Seele, sie passen zu dir.

SMS 21:55

Was haben meine Brüste mit meiner Seele zu tun?

SMS 22:05

Für mich gehören sie zusammen.

SMS 22:10

Hast du etwas getrunken? Oh Gott, ich glaube du bist völlig durchgeknallt! Welch Fantasie! Ciao Darko, träum schön, ich muss jetzt weiterarbeiten.

Ich bin überfordert! Was will dieser Typ nun? Ich schreibe von Gefühlen und Romantik und er über meine Brüste ... So viel Aufhebens, weil er gerne Sex mit mir hätte? Meine Brüste sind wie meine Seele? Was weiß er schon über meine Seele! Meine Brüste scheint er sich dafür aber genau angesehen zu haben. Brusketa ... hahaha, typisch — die Kroaten schreiben alles nach Phonetik, so wie es gesprochen wird. Ich habe zuerst gar nicht verstanden, was er meinte, ich konnte die italienische Bruschetta in der kroatischen Brusketa nicht wiedererkennen ... und schon gar nicht in Verbindung mit meinen Brüsten. Eine Fantasie hat dieser Mann ...

SMS 01:11, Darko schreibt

Gute Nacht meine große Liebe

Er nennt MICH seine 'große Liebe'! Das ist wunderschön. Sei nicht so naiv Ana, die Südländer neigen zu Übertreibungen! Das ist mir egal, wozu jetzt jedes Wort analysieren? Es hört sich schön an, es macht mir gute Laune und ich fühle mich toll! Und Darko ist weit weg, somit kann mir gar nichts passieren ...

Sonntag, 10. Juni

SMS 11:07, Ana schreibt

Irgendwie erschleichst du dir in kleinen Schritten einen Platz in meinem Herzen ...

Bist du süß zu mir, bin ich noch viel süßer zu dir ... auch eine gute Strategie! Ich finde mich mutig — mal sehen, wie er darauf reagiert ...

Acht Stunden später und er hat auf so eine tolle SMS noch immer nicht geantwortet. Das kann ich einfach nicht glauben! Ich könnte das Handy direkt an die Wand klatschen! Da bin ich mal über meinen eigenen Schatten gesprungen, war einmal so richtig mutig, und dann ...

SMS 23:33, Darko schreibt

Ich habe gestern Abend nichts getrunken, Ana. Ich bekomme dich einfach nicht mehr aus meinem Kopf.

Zwölf Stunden später antwortet er mir! Ich werde nicht antworten. Ich schalte das Handy sicherheitshalber jetzt aus! Mich lässt man nicht so lange auf eine Antwort warten. Obwohl ... allein für diesen einen Satz hat sich das Warten schon gelohnt.

Montag, 11. Juni

Schreibe ich ihm nun, oder lass ich es? Ich hadere schon den ganzen Tag mit mir, kann an überhaupt nichts anderes mehr denken! Ich schreibe jetzt! Bestimmt kann ich mich danach besser auf die Arbeit konzentrieren. Wie war noch mal seine letzte SMS? Ach ja: 'Ich bekomme dich einfach nicht mehr aus meinem Kopf ... '

SMS 17:33, Ana schreibt

Mich oder die Brusketa?

Dümmer und plumper ging's wohl nicht! Warum denkst du nicht zuerst, bevor du schreibst? Warum hackst du einfach solch einen Müll in dein Smartphone? Diesen Namen dürfte dieses Gerät eigentlich nur tragen, wenn es smart genug wäre, eine Funktion zu bieten, die einen Alarm auslöst, wenn man Blödsinn schreibt. So wie es die Stimme gibt, die sagt: "Sagen Sie einen Befehl", müsste es eine Stimme geben, die sagt: "Diese Nachricht können Sie nicht versenden."

SMS 17:40, Darko schreibt

Was für eine Frage! Das gehört für mich natürlich zusammen. DU BIST meine Brusketina. Was soll's, so ist es nun einmal.

Ist ja gut. Ich weiß, dass die Frage blöd war ... habe ich mir sogar selber schon eingestanden! Ich betrachte mich als emanzipierte Frau, aber irgendetwas kann mit mir nicht stimmen, wenn ich 'du bist meine Brusketina' sooooo süß finde! Vielleicht sollte ich mal meinen Hormonspiegel prüfen lassen ...

SMS 17:45

Es ist doch ein Unterschied, ob dir eine Frau gefällt oder ihre Brüste.

SMS 17:52

Ich sagte, das gehört für mich zusammen. Mir gefällt alles an dir. Deine Brüste, dein Lachen einfach alles.

Es ist um mich geschehen. Wann habe ich das letzte Mal so schöne Komplimente gehört? Ich glaube, ich habe mich verliebt, was ziemlich schlimm wäre ...

Kapitel 3

Dienstag, 12. Juni

Stress total! Und keine Nachricht von Darko ... Komm schon, schreib mir etwas Schönes, versüß mir den Tag ... lass dich doch nicht so bitten!

23:59 Uhr — ich muss diese Geschichte beenden. Ich habe keine Nerven dafür. Den ganzen Tag schaue ich mit flehendem Blick auf dieses dämliche Handy und wünsche mir nichts mehr, als dass dieser Idiot sich meldet.

Mittwoch, 13. Juni

Um 08:46 Uhr erreicht mich die Email, die wie eine Bombe einschlägt. 'Hiermit nehmen wir Ihr Angebot gerne an ... ' Ich habe den Auftrag bekommen! Meine Agentur ist gerettet! Ich bin die glücklichste Frau auf Erden! Dubrovnik scheint gerade mein Schicksal zu bestimmen. Zuerst Darko und jetzt der Auftrag. Ich werde sechs Wochen in Dubrovnik arbeiten ... Ich muss sofort meine Mitarbeiter informieren. Aber zuerst schreibe ich Darko — nein, zuerst meinem Mann ...

SMS 09:09, Ana schreibt

Guten Morgen, Darko,

ich habe soeben sensationelle Neuigkeiten bekommen! Sobald ich kann, werde ich dir alles schreiben. Du kannst es dir nicht vorstellen ...

Mail 10:53, Ana schreibt

Guten Morgen, Darko,

also jetzt kommen meine Neuigkeiten und ich hoffe du sitzt. Ich bin ganz aufgeregt. Natürlich sitzt du, am Computer sitzt man. Erinnerst du dich, als ich dir in Dubrovnik von einem großen Projekt, das eventuell ansteht, erzählt habe?

Ich hatte mich mit meiner Event Agentur für die Organisation von hochrangigen Management-Seminaren im Ausland beworben. Als Veranstaltungsort habe ich Dubrovnik vorgeschlagen. Das war, bevor ich an Pfingsten gekommen bin. Stell dir vor, sie haben mir heute den Auftrag erteilt! Da ich etwas abergläubisch bin, habe ich vorher niemandem davon erzählt. Ich werde vom 3.11. bis 16.12. in Dubrovnik sein. Das sind sechs Wochen! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue. Was sagst du dazu?

Ana

Ich habe Victor nichts von meiner Teilnahme an der Ausschreibung erzählt. Warum eigentlich nicht? Klar habe ich ihm gesagt, dass ich meinen Kunden verloren habe, und dass es Probleme in der Agentur gibt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass er sich viele Gedanken darüber macht, denn aus seiner Sicht handelt es sich nicht um existenzielle Probleme. Wir sprechen zwar immer mal über unsere Jobs, aber keiner von uns kennt Details aus dem Berufsleben des anderen. Die wenige Zeit, die wir gemeinsam verbringen, versuchen wir zu genießen, in dem wir schön essen gehen, Einladungen annehmen und uns über die Kinder austauschen. Außerdem wollte ich ihn nicht unnötig belasten ... Nein, Ana, du lügst dich selbst an. Du bist feige! Du hast Angst, dass er nicht so reagiert, wie du es gerne hättest. Wann immer ich etwas verändern wollte, hatte ich bei Victor das Gefühl mich rechtfertigen zu müssen. Er hatte eine eigene Vorstellung davon, wie unser Leben aussehen sollte. Aber seine Vorstellung deckte sich nicht immer mit meiner und das führte häufig zu hitzigen Diskussionen, die zu keinem Kompromiss führten, denn am Ende setzte einer von uns seinen Kopf durch. Würde er mich noch mal heiraten, wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten? War er glücklich mit mir? Wer weiß, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn ich damals nicht schwanger geworden wäre? Wären wir heute noch zusammen? Was für schreckliche Gedanken! Schluss damit! Victor kommt heute Abend aus London zurück und ich werde mit ihm essen gehen und ihm von meinem großen Erfolg erzählen. Ein wenig Angst habe ich schon ihm zu sagen, dass ich ganze sechs Wochen in Dubrovnik verbringen werde ... wenn ich nur an seine Reaktion vor vielen Jahren denke ... meine Entscheidung wieder arbeiten zu gehen, löste eine gewaltige Ehekrise aus ... eine von vielen ...

Ich hatte den Kontakt zu Rainer und Silke, den Inhabern der Eventagentur, in der ich als Studentin gejobbt habe, nie abgebrochen. Sie waren die Gründer von 'Action Point' und führten die Firma mit 14 festen Mitarbeitern und mehreren Aushilfen wie einen Familienbetrieb. Mittags saßen wir zusammen in der großen Küche oder im Sommer auf unserer Terrasse, aßen zu Mittag und besprachen Projekte oder plauderten über unser Privatleben. Rainer und Silke waren kaum jünger als meine Eltern, aber Silke wirkte so jung und lebhaft, dass der Altersunterschied zwischen ihr und vielen jungen Mitarbeitern kaum auffiel. Sie war eine großartige Networkerin, kannte Gott und die Welt und bekam für alle bedeutenden Veranstaltungen VIP-Einladungen, obwohl 'Action Point' eine relativ kleine Agentur war. Silke war ein Profi in ihrem Job und zog immer tolle Kunden und Projekte an Land, blieb jedoch im Umgang mit uns immer bodenständig. Dafür schätzten wir sie sehr. Jeden Erfolg feierte sie mit uns. Rainer war so etwas wie die graue Eminenz. Er war für die Finanzen verantwortlich, war aber sehr großzügig zu uns. Die beiden haben die stürmische Entwicklung meines Leben, mit den zwei aufeinanderfolgenden Schwangerschaften und der überstürzten Heirat, hautnah miterlebt. Silke, die selbst keine Kinder hatte, machte mir immer Mut. Sie hatte auf den perfekten Zeitpunkt gewartet, um Mutter zu werden, aber so seien die Jahre vergangen und sie hatte den passenden Moment wohl verpasst. Immer wieder sagte sie mir, dass es für meine Kinder bestimmt toll sei, eine junge Mutter zu haben und wie sehr sie mich für meine positive Ausstrahlung bewunderte. Auch hochschwanger durfte ich bei 'Action Point' weiterarbeiten und ich war ihnen dafür sehr dankbar. Es gab immer viel zu tun, sodass Rainer und Silke meine Arbeitszeiten sehr flexibel handhabten. Sobald meine Mutter auf meine Kinder aufpassen konnte, bin ich stundenweise in der Agentur eingesprungen. Manchmal durfte ich die Kinder sogar mitbringen und Silke hat sich mit ihnen beschäftigt, während ich arbeitete. Die Agentur wurde zu einer Art zweiten Familie und Rainer und Silke zu meinen engen Vertrauten. Es war ein tolles Gefühl, für ein paar Stunden aus der Routine des Mutter-Ehefrau-Hausfrau-Daseins auszubrechen. Besonders gut fühlte es sich an, wenn ich am Monatsanfang mein selbst verdientes Geld von meinem Konto abheben konnte. Es waren kleine Beträge, aber es waren meine und ich war stolz darauf. So konnte ich zumindest meinen Friseurbesuch, mein Parfum oder meinen Nagellack von meinem eigenen Geld bezahlen.

 

Als Isabella und Luca im Kindergarten waren, boten mir Rainer und Silke eine Dreiviertel-Stelle als Projektleiterin an. Ich konnte mein Glück nicht fassen und fiel Silke um den Hals. Ich war so begeistert, dass ich am liebsten sofort zugesagt hätte. Das Problem war, dass meine Kinder im öffentlichen Kindergarten keinen Mittagessenplatz bekommen hatten, da ich nicht voll berufstätig war — aber das hatte sich ja nun geändert. Meine Zeit war gekommen und es wäre ja gelacht, wenn es an zwei Mittagessenplätzen für die Kinder scheitern sollte — dachte ich. Sofort rief ich im Kindergarten an, um zwei Plätze für Isabella und Luca zu reservieren. Meine Kollegin Rita, eine alleinerziehende Mutter, die mir gegenübersaß, lachte mich für diesen Anruf noch Monate später aus. Ich hätte geklungen, als wollte ich ein Hotelzimmer buchen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, zwei Mittagessenplätze im Kindergarten zu buchen. Sie hatte den Antrag für den Ganztageskindergartenplatz für ihren Sohn kurz nach seiner Geburt gestellt. Die ernüchternde Antwort des Kindergartens auf meine 'Buchung' war, dass die Wartezeit für zwei Mittagessenplätze sich auf mindestens ein Jahr belief. Ich war verzweifelt und den Tränen nahe. Silke tröstete mich und kam auf die Idee, es mit einem privaten Ganztageskindergarten zu versuchen, sie wäre bereit einen Teil der Kosten zu übernehmen. Victor wollte ich nicht belasten und erzählte ihm vorerst nichts von meinen Plänen. Ich hatte großes Glück — eine Familie mit zwei Kindern zog gerade um und zwei Plätze in einem privaten Kindergarten wurden kurzfristig frei. Die Kindergartenplätze waren zwar um ein Vielfaches teurer, als im öffentlichen Kindergarten, und ein Großteil meines Gehalts würde dafür draufgehen, aber das war mir egal. Ich wollte diese Stelle unbedingt! Als ich binnen zwei Wochen die Kinder im alten Kindergarten abgemeldet, im neuen angemeldet und meinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, wollte ich das alles mit Victor feiern. Ich rief ihn in der Kanzlei an und bat ihn abends mit mir essen zu gehen. Ich war ganz aufgeregt und konnte es kaum abwarten Victor alles zu erzählen, was ich auf die Beine gestellt hatte. Ich wünschte mir, dass er stolz auf mich wäre. Seine Reaktion glich jedoch einem Faustschlag in die Magengrube: Er fühlte sich hintergangen. Es seien auch seine Kinder und er habe ein Wörtchen mitzureden. Ich hätte mich damals für die Kinder entschieden, warum ich mich jetzt nicht um sie kümmern wollte ... was, wenn die Kinder krank werden ... wenn sie sich im neuen Kindergarten nicht wohlfühlen ... das Mittagessen ihnen nicht bekommt ... sie ihre Mutter vermissen ... Kinder brauchen geordnete Verhältnisse ... Ich spürte, wie ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, stand auf und ging auf die Toilette. Was erwartete er von mir? Immer wieder hörte ich zwischen den Zeilen Vorwürfe, dass ich mich damals für die Kinder entschieden hätte. Die ersten Jahre waren wirklich nicht einfach, aber wir haben doch das Beste daraus gemacht. Das Schlimmste hatten wir doch hinter uns, warum sollte ich jetzt nicht arbeiten? Das war doch meine Chance! Für ihn änderte sich doch nichts! Ich trocknete meine Tränen und ging zurück an den Tisch. Victor änderte nun seine Taktik: "Schau mal Ana, ich verdiene genug, warum willst du dich diesem Stress aussetzen? Es ist nicht so, dass ich dich nicht unterstützen möchte, aber du siehst doch selbst, dass ich rund um die Uhr arbeite, das tue ich doch alles für uns. Schau mal, wie sich unser Leben verändert hat, was wir uns jetzt alles leisten können ... Du kannst ja ein paar Stunden arbeiten — wenn es dir so viel Spaß macht — wenn deine Mutter dir die Kinder abnimmt, aber eine Verpflichtung mit einem festen Arbeitsvertrag, zwei Kindern und dem Haushalt ... das wird dir bestimmt alles zu viel ... Ich brauche einen freien Kopf im Job, den habe ich nur, wenn zu Hause alles klar läuft ... " Er hatte mir eine klare Rolle zugeteilt und diese Rolle passte mir gar nicht. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und dabei blieb es, ob es ihm passte oder nicht!

Ich bin gespannt, wie das heutige Gespräch laufen wird. Victor parkt seinen Wagen immer am Flughafen, sodass ich ihn nicht abholen muss. Ich habe für 20:30 Uhr einen Tisch in einem neuen In-Lokal reserviert und wir werden uns dort treffen. Ich nehme ein Taxi, um von dort mit Victor gemeinsam nach Hause fahren zu können. Während ich auf Victor warte, bestelle ich mir schon mal ein Glas Champagner. Zehn Minuten später kommt er. Ich schaue ihn an: Er sieht müde aus. Dennoch hat er eine unglaubliche Präsenz. Er lächelt, als er mich ansieht und ich spüre, dass ich ihn liebe. Im gleichen Moment wird mir bewusst, wie sehr meine berufliche Krise auch an unserer Beziehung genagt hatte. Ich empfinde eine lange vermisste Leichtigkeit. Eine Last ist von meinen Schultern gefallen, seit ich die gute Nachricht erhalten habe. Ich küsse Victor auf den Mund und muss wohl über das ganze Gesicht strahlen. "Gibt es etwas zu feiern?", fragt er mich. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte, unterbreche nur, um mit ihm das Essen auszuwählen und die Bestellung aufzugeben. Am Ende hole ich tief Luft und sage ihm, dass dieser Auftrag auch bedeutet, dass ich sechs Wochen in Dubrovnik das Projekt leiten werde. Victor nimmt meine Hand, lächelt und sagt: "Du Sturkopf, du hast doch längst alles entschieden, wie immer. Du informierst mich doch nur darüber." Seine Worte treffen mich. Er hat recht, ich stellte ihn vor vollendete Tatsachen. — Und das nicht zum ersten Mal. "Ana, ich freue mich für dich und ich bin auch stolz auf dich. Komm, lass uns anstoßen, meine Kämpferin." Ich bin so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Wie viele Jahre habe ich mir etwas Anerkennung von Victor gewünscht? Nach zwanzig Jahren sagt er mir endlich, dass er stolz auf mich ist. Ob er etwas von Darko ahnt? Habe ich mich verändert? Ich bin verunsichert. "Ist das wirklich in Ordnung für dich, wenn ich dich so lange alleine lasse?", frage ich ihn. "Ana, du bist es, die fast immer alleine ist, weil ich nicht da bin. Aber zumindest zwei Wochenenden solltest du schon nach Hause fliegen, das ist doch wohl drin, oder?" — "Klar, ist das drin!" Wir trinken eine gute Flasche Rotwein zum Essen und machen uns auf den Heimweg.

23.59 Uhr: Darko hat sich nicht gemeldet. 'Bockt ihn alles gar nicht', wie mein Sohn sagen würde. Aber es interessiert mich auch gar nicht mehr. Ich hatte endlich mal einen wundervollen Abend mit Victor und mir war klar geworden, wohin ich gehöre. Basta mit dieser Spielerei mit Darko! Dennoch muss ich vorsichtig sein, denn schließlich werde ich sechs Wochen in Dubrovnik verbringen — da kann man sich nicht so gut aus dem Weg gehen ...

Donnerstag, 14. Juni

Mail 15:48, Darko schreibt

Gratuliere! Ich freu mich sehr. Aber ich habe dich nicht so richtig verstanden. Was genau machst du in Dubrovnik ? Auf jeden Fall hört es sich nach einem großen Karriereschritt an, oder? Was mach ich dann mit einer so berühmten und erfolgreichen Frau? Für mich wirst du immer die Ana sein, die ich kenne, meine Brusketina.