Miló

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

6

Ende Februar und Anfang März erhellen Lichtschlangen die Nächte im Valtournenche. Das Tagebuch spricht deutlich: Am 27. Februar sprengen die Rebellen mit Sägen, Dynamit, Sprengkapseln und Zündschnüren einen Mast in die Luft, der den Strom nach Turin leitet, wo die Arbeiter zu streiken begonnen haben: eine Hochspannungsleitung von 270 000 Volt. Ein trockener Knall, ein weißes Licht und dann ein rotes Licht, auf das eine zweite Explosion folgt. Nach der Aktion bleibt keine Zeit zum Feiern. Eilig laufen sie zur Baustelle Volpe und machen sich an die Arbeit: Da gibt es so viel zu holen, was sie schultern und wegtragen müssen … Nun drohen die Deutschen und die Faschisten der Republik von Salò, die Wehrdienstverweigerer zu erschießen.

Doch einige Tage später nehmen die Saboteure einen Gittermast des Kraftwerks von Breil aufs Korn: In der Nacht unterbricht das Kreischen von Sägen an Stahl die Stille des Waldes. Nachdem die Sprengstoffkästen und die Lunten platziert sind, begibt sich die Gruppe auf eine ­Anhöhe, um das Schauspiel zu genießen: plötzliche Helle, Explosion, rote Schlange am Himmel. Und am ersten Frühlingstag gehen die Rebellen, manche mit dem Hut der Alpini auf dem Kopf, zum Kraftwerk von Castiglion Dora, setzen den Wächter fest und sprengen die Leitungsrohre.

Weitere Vögelchen fliegen aus dem Nest davon. Bis der April kommt, la fleur d’avril ne tient que par un fil. April ist ein besonderer Monat. Im April hat Miló die Schweiz verlassen, im April hat er geheiratet, im April beginnt der Kuckuck zu rufen: «Kuckuck, mein Kuckuck, wie viele Tage gibst du mir noch zu leben?»

Ende vergangenen Monats hat es in La Suelvaz einen Ausbruch gegeben. Eines Nachts haben sich Celestino, Vittorio, Gino und Bich, der Säufer, ein Maschinengewehr, zwei Breda, drei Kisten Munition und sieben Musketen gekrallt und sind auf und davon. Angeblich hat es was mit Chanoux und der Unabhängigkeit des Aostatals zu tun: Im Valtournenche soll eine neue Autonomistengruppe entstehen. Miló und die anderen haben sie in den Wäldern verfolgt, oberhalb von Misérègne, dem Reich des Elends. Giovanni hat fünf Magazine geleert, indem er im Wald breitgestreute Garben abfeuerte, und die Flüchtigen haben die Waffen zurückgelassen, auch Celestino, der als Oberfeldwebel den Russlandfeldzug mitgemacht hat und das Kriegshandwerk gewöhnt ist. Ob sie bestraft werden? Der Ältestenrat der Bande hat sich für die Todesstrafe entschieden, sie soll am Ostersonntag vollzogen werden. Wird es gelingen, die Sache zu klären?

Anfang April ist eine schlimme Nachricht eingetroffen; Carlo, das heißt Jean Chabloz, der Genosse aus der ersten heimlichen Versammlung, ist festgenommen worden, sie haben seinen Ring mit Hammer und Sichel gefunden: ihm einen Eisenring um den Kopf geschraubt, Benzin in die Arme gespritzt, ihn ausgepeitscht, mit Bajonetten, Fäusten und Fußtritten massakriert …

In der Nacht vom Samstag 22. April

geht Miló auf Kontrollgang mit Mario,

dem Jungen, der erst fünfzehn Jahre alt ist:

Vor Tagesanbruch erreichen sie das Kraftwerk von

Covalou

im Valtournenche, hinter dem Grat von Champlong,

tauchen die Masten der Druckleitung auf,

die Feinde, die fallen sollen

im ersten Licht der Morgenröte,

man muss die Gegend erkunden,

in Kürze sitzen die Bauern

mit dem Schemel am Hintern im Stall beim Melken

wie vor hundert Jahren, immer das gleiche Leben.

Miló umklammert den Fotoapparat in der Tasche,

in Kürze geht die Sonne auf, in La Suelvaz die Genossen

träumen von einer Frau,

der Wachposten friert in seinem Häuschen,

der ganze schwarze Wind des weiten Tals,

das Rauschen des Sturzbachs,

hier muss man warten auf das Licht,

das sonntägliche Morgenrot, die neue Sonne,

wann wird es möglich sein, in einer Gesellschaft

zu leben, in der alle gleich und alle verschieden sind

so wie die Blätter der Eiche?

Die Schönheit zu genießen

wie der Sperber, der am Himmel die Flügel ausbreitet?

Bald setzen die Frauen zur Messe den Schleier auf

die Kühe haben am Brunnen getrunken

in der Küche kocht man peilà

heute Abend geht’s nach Septumian zum Treffen mit dem Kommando

Pierino ist abgehauen,

seit drei Tagen saß er bei Solari und trank,

da, es wird hell, Miló knipst die Masten,

die in die Luft fliegen sollen,

seine Männer werden kommen mit dem Sprengstoff

man braucht Disziplin,

Brot und Käse.

Mario ist im Gras eingenickt

er ist doch erst fünfzehn

jetzt steigen sie zur Staatsstraße hinunter, Vorsicht,

hier fährt das Auto der Faschistenrepublik durch,

jetzt können wir gehen, sagt Miló, sie sind vorbei,

ja, sie sind vorbei

er umklammert den Fotoapparat in der Tasche

im Talgrund überqueren sie die Straße

hinter der Abzweigung nach Pontey,

doch da, auf der Staatsstraße, vier Lastwagen

kehren von der Razzia zurück

die Gewehrläufe noch heiß

verfluchter Mist

Miló und Mario rennen auf die Häuser von Breil zu

sie rennen, rennen

dann jeder auf eigene Faust

dort ist die Bahnunterführung

weg von den Häusern

Vergeltungsmaßnahmen der Schwarzhemden,

sie brennen nieder, foltern, nehmen Geiseln

bloß weg von den Häusern von Breil!

Miló umklammert die Handgranate in dem Säckchen

das Leinensäckchen hat seine Ida ihm genäht

die Frau, die er mehr liebt als alle anderen Frauen

dort vorn ist die Brücke über die Dora

da ist sie, die Brücke

Miló zieht die Granate heraus

dreht sich zu den Faschisten um und schreit

doch die Garbe trifft ihn ins Gesicht, mitten ins Gesicht

so lassen sie ihn liegen, neben der Dora

das Gesicht voller Blut

nehmen ihm Schuhe, Uhr und Ring ab

ja, auch den Ring, den Ida ihm geschenkt hat

lauf wenigstens du, Mario, lauf, wirf dich ins Heu

die Heugabel des Soldaten kann dich nicht finden

doch jetzt schießen sie erneut

die Musketiere aus den Alpen schießen

schießen auf ein kleines Mädchen

aus einem Haus kommt noch ein Junge

hat die Schüsse gehört, will nachsehen, was los ist

und die Garbe trifft ihn voll:

es ist Vittorio, einer aus dem Valtournenche

ein Partisan von neunzehn Jahren

er war heimgekommen, um die Weiden zu

bewässern.

Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

Heute ist Sonntag, ein Sonntag im April, und in allen Dörfern läuten früh die Glocken zur Messe, die Frauen legen den schwarzen Schleier an, die Heilige Maria vom Schnee verlässt ihre Nische, um dich anzusehen, setzt das Kind, das sie im Arm trägt, auf den Boden und lässt es aus den ersten Blumen eine Girlande winden, sie tritt zu dir und wischt dir das Blut vom Gesicht, und mit ihr kommen nun die Madonnen aus den Nachbardörfern, Notre-Dame des sept douleurs, Notre-Dame de Pitié, Notre-Dame de l’Epine und Notre-Dame de la Guérison mit dem Wundermantel, bald wird hier das Weidenröschen zwischen den Trümmern blühen.

Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

Mario konnte sich retten, tsamba de bouque, das Hinkebein, wollte ihn mit der Heugabel aufspießen, doch er hat sich tief im Heu verkrochen, wie eine Eidechse ist er in den Schober gehuscht und wartet nun auf dich, um nach La Suelvaz zu laufen, wo die Bande dich braucht, damit die Männer losgehen und die Masten in die Luft sprengen können.

Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

Da ist Ida allein, mit der Kleinen auf dem Arm, die noch einmal deine Stimme hören will, und dann machst du für sie den Kuckuck nach, der nun zu rufen beginnt, um dich zu wecken: Ist Sterben wirklich, als erwachte man aus einem tiefen Schlaf? Jeden Tag fliegt eines fort und ein anderes kommt, lass uns nicht allein dem Lied der Dora lauschen.

Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

Jetzt kommt der Pilot Bassanesi mit seinem Eindecker und rettet dich, er nimmt dich mit; er ist in der Schweiz losgeflogen und hat deine Mutter Joséphine-Amérique dabei, die die steinernen Löwen der Place Orientale verlassen hat, um zurückzukehren nach Fénis, wo sie ein junges Mädchen war, sie hat dich schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, verstecke dich nicht, steh aus dem Staub auf, Miló, zieh dich um, empfange sie im Sonntagsstaat.

Miló, steh auf, schlaf nicht ein.

Zeige dein Gesicht noch einmal den Arbeitern von Cogne, die mit glühenden Stahlschlangen aus dem ganzen Tal herkommen, um zu beweisen, dass der Kampf für die Unabhängigkeit nicht nur eine Region betrifft, sondern jeden Einzelnen, so wie du dachtest: Die Unabhängigkeit gilt für jeden von uns, in unserem Leben, wenn es die Ketten abwirft.

Epilog

Parma, 3. März 2009

Ich fahre nach Oltretorrente, um Ida Summer zu besuchen, Milós Witwe. Ich überquere den Ponte di Mezzo. Auf der Wiese am Flussdamm sind noch weiße Schnee­flecken, und am Brückengeländer lehnt ein alter Mann und beobachtet ein Nutria, eine Biberratte, die langsam aus dem grünen Wasser kommt, um an Land zu klettern. Plump, das wilde Nutria. Eine fette Ratte. Sie aalt sich im milden Märzlicht, das die Fahrräder auf dem Asphalt quietschen lässt und Umarmungen begünstigt; doch die Frau, der ich auf der Brücke begegne, möchte alle Nutrias nur umbringen. Auf der anderen Seite der Brücke das Denkmal eines Mannes, der seinen aufgebäumten Körper den Beleidigungen der Geschichte darbietet.

 

In dieser Straße ist der Dichter Renzo Pezzani geboren – hier ist die Gedenktafel –, in einer der Wohnungen über den Kebab-Läden, einem Geschäft, das wertvolles Porzellan verramscht. Ida lebt hier in diesem volkstümlichen, am Samstag stillen Viertel versteckt in einem Altersheim. Niemand kennt ihre Geschichte. Die Pförtnerin schaut in der Liste der Heimbewohner nach, findet aber den Nachnamen Lexert nicht. Die Witwe lebt versteckt.

Doch sie ist da, kommt mir im Trainingsanzug entge­gen. Darüber eine zu weite Jacke, dieses Jahr ist der Winter auch in Parma lang. Sie schlief gerade in ihrem Zimmer, entschuldigt sie sich. Leicht wie eine Mücke schwebt sie durch die Gänge. Ich überreiche ihr den Strauß roter Tulpen, und wir setzen uns in einen Aufenthaltsraum, der sich nach und nach belebt: Neben uns stößt eine unförmige Frau stotternd ein paar Schreie aus, eine kleine Mongoloide ist still, eine lange Dünne kann sich nicht auf den Beinen halten. Ich frage nach einer Schere, um die Schleife an den Tulpen aufzuschneiden. Doch eine der verlassenen Seelen sagt zu mir: Hier darf man keine Schere haben. Wie? Sind wir im Gefängnis? Ich knote die Schleife auf, eine Frau nimmt sie als kostbares Dekorationsmaterial an sich. Dann stelle ich die Blumen in einen Wasserkrug. Vasen gibt es hier nicht, niemand bringt den alten Frauen, die in der Märzsonne vor sich hin summen, Blumen mit. In der Sonne von Renzo Pezzani.

Ida erzählt. Die Frau, die mit der kleinen Mongoloiden am Nebentisch sitzt, sieht mich an und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie sagen: Die ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Die kleine Rache der Verlassenen.

Ida glaubt, ihre Eltern lebten noch. Sie leben in Lido Traversato. Auch ihre Tochter lebt noch und wird niemals sterben. Sie ist bloß Witwe, so wie sie selbst auch. Ida weiß nicht, dass Miló in Parma begraben ist, wenige hundert Meter von ihr entfernt, zusammen mit anderen Partisanen. Sie glaubt ihn noch in Fénis.

Idas Eltern stammten aus den Abruzzen, aus einer Krämerfamilie. Aber ihr Vater tat nichts, er spielte Karten. Sie, Ida, hat bis zur vierten Klasse die Schule besucht; für die fünfte musste man drei Kilometer den Berg hinauf laufen, da hat sie aufgegeben.

Dann ist sie nach Aosta gegangen, um frei zu sein. Auf der Treppe zur Entbindungsstation, wo sie als Krankenschwester arbeitete, begegnete sie eines Tages Miló. Mit diesem Schnauzbart und diesem Blick hatte er schon mehr als eine Frau beeindruckt. Als sie ihn aber auf dem Gerüst sah, verliebte sie sich in ihn, weil er ein freier junger Mann war.

Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihr das Paradies geschenkt, ihr Miló. «Mein Käsebröckchen» nannte er sie. Im Gebirge übte sie mit der Muskete und zielte am besten von allen. Mit der Pistole in der Tasche überbrachte sie Botschaften. Zu Fuß, im Zug, im Bus, sie mischte sich un­ter Faschisten und Deutsche.

Und als die Leiche ihres Mannes exhumiert wurde, sah Ida, dass er gut erhalten war. Er hatte noch seine schönen Hände, weil man ihn tief in der Erde begraben hatte, dort bei Fénis. Sie hat ihm nur die Strümpfe gewechselt. Nun trägt er neue Strümpfe. Keine Ratte wird ihn zernagen können, denn er liegt tief unter dem Weidenröschen, das die Blume des Feuers ist.

Augustfeuer

Giustina ist aus ihrem kleinen Blumenbeet herausgeschlüpft, hat das Friedhofstor geöffnet und macht sich auf den Weg. Sie will einen Blick auf die Orte ihrer Jugend werfen, fühlt eine Art Wehmut, vielleicht wegen des Stiefmütterchens, das sie neben dem Grabstein gepflückt hat. Sie will die Augustfeuer sehen. Am Ufer der Lys hört sie die Stimmen der Leute, die an Tischen unter den bunten Glühlampen sitzen. Sie hört die Schüsse, die sie an andere Schüsse erinnern. Sie sieht das Feuer am Flussufer, die Funken, die zum Himmel stieben. Auf der Bank neben der Kirche sitzend, erinnert sie sich.

Hoch loderten die Flammen in jener Nacht, in der sich ihr Leben änderte.

Dort oben unter der großen, von der kalten Luft des Monte Crabun genährten Buche, in den Höhlen aus erzgrauem Gestein, in den Sennhütten, wo nicht einmal die Maulesel hinaufkommen, dort waren die Rebellen angekommen, auch die, die sich erst im Juni, zur Kirschenzeit, entschieden hatten, der Bande beizutreten. Und heute Abend kehren sie zurück, kommen Giustina besuchen. An den Füßen tragen sie Schuhe aus Lumpen, die Jungen aus Perloz. Sie kratzen sich wegen der Wanzen, wegen der Krätze, kochen Seife aus den Gerippen oder den Eingeweiden von Tieren, rauchen Kartoffelschalen und Chry­san­the­men­­blätter: Am Samstag aber tanzen sie in den Heuschobern mit den Mädchen, die warme Augen haben. Es gibt dort oben ein Orchester mit Ziehharmonika, Klarinette, Saxophon und Schlagzeug und einen Ballon mit Wein. Und während sie in Paris den Kindern in diesen Kriegszeiten Goldfische zu essen geben, fehlt es oben in Perloz nie an Suppe und Polenta.

Heute Abend treten sie in ihren geflickten Kleidern wieder aus den steinernen Riesen über der Lys hervor, die Jungen der Bande. Manche tragen eine Militärjacke, die noch vom 8. September stammt, und rauchen eine Ziga­rette aus dürrem Gras. Bei ihnen ist auch Enrichetta, die mit drei Kilo Brot aus Pont-Saint-Martin zurückkehrte: Sie wurde verhaftet und aufs Kommando gebracht, wo man sie verhörte, um die Namen der Rebellen zu erfahren; Augusto ist da, den sie ärger als die heilige Martha gefoltert, dann an den Füßen auf einen Misthaufen am Bahnhof geschleift und dort liegengelassen haben, denn die Schwarzhemden können grausamer sein als die Nazis; auch Rosier ist da, der seine Ziehharmonika nie aufgegeben hat und mit Giustina tanzte, bevor er mit ihr in den Heuschober ging; die Frau ist da, die einen Brief an Mussolini geschrieben hatte, adressiert an «Beniti Mussolino» (vielleicht dachte sie dabei an den Banditen Musolino), worauf ihr Mann die Stelle in der Fabrik Ilssa Viola erhielt, an der stand: Hier wird gearbeitet und nicht gesprochen, nimm die Lohntüte und schweig. Da ist auch der Junge, der, bevor er starb, mit seinem eigenen Blut auf das Leinensäckchen geschrieben hat: Ich opfere mein Leben. es lebe Christus König. Und die vier Freiwilligen der Fallschirmspringer-Division Folgore, denen die Partisanen auf dem Kirchplatz den Prozess gemacht und sie dann gezwun­gen haben, sich ihre eigene Grube zu schaufeln. Giustina, auferstanden, schaut. Sie erinnert sich an jenen Faschisten, der immer, wenn er ihr begegnete, sagte:

«So ein guter Brandgeruch …!»

Denn 1944 brannte Perloz, Marine brannte, Chamioux brannte, wie heute Abend die Augustfeuer brennen.

Die Feuer loderten in jener Nacht Ende Juni vor sechzig Jahren auf dem Berggrat. Die Nazifaschisten stehen auf der Wiese neben dem Turm und bewundern die leuchtenden Brände: Eben haben sie zwei junge Burschen ge­tö­tet, die auf der großen Straße einen Lastwagen mit Lebensmitteln entluden. Und jetzt überqueren sie den Fluss, le­gen mit dem Flammenwerfer Feuer an die Häuser von Chamioux, nehmen drei Geiseln mit, gehen hinauf bis Marine, wo sie Häuser, Schule und Kapelle anzünden, dann kehren sie nach Perloz zurück, während alle in die Wälder flüchten und in Felsspalten und Fuchsbauten Schutz suchen, stellen auf dem Dorfplatz einen Mann an die Wand und tun so, als würden sie ihn erschießen:

«Wir bringen dich um, hier und jetzt bringen wir dich um!»

Sie verprügeln Adriano und zünden noch zwanzig Häuser an. Frauen und Männer bilden mit Eimern eine Kette, versuchen, die Flammen zu löschen: Dann beobachten sie unten an der alten Brücke entsetzt den grauenvollen Brand. Doch heute Abend fühlt Giustina keinen Schmerz mehr. Reglos starrt sie auf die Augustfeuer.

Das erste Gefecht begann an einem Samstag im März: Die Frauen gehen mit Butter, Käse und Hühnern zum Markt nach Ponte hinunter, und die Faschisten fangen an, die Sachen zu beschlagnahmen; daraufhin greifen Ernesto und die anderen zum Gewehr statt zur Einkaufstasche. Die Carabinieri schnappen einen, der seine Jacke über die Schulter gehängt hat, doch er entwischt, und sie stehen mit der Jacke in der Hand da. Ernesto, an den Beinen verletzt und die Schuhe voller Blut, schleppt sich mit Hilfe einer Frau bis über Perloz hinauf, während seine Genossen wie verrückt schießen, um glauben zu machen, dass sie viele seien, um den Faschisten Angst einzujagen. Am nächsten Tag nehmen die Jungen von Perloz ein paar Flaschen Wein und flüchten sich in die höher gelegenen Ortsteile.

Das erste Haus, das zur Vergeltung angezündet wurde, war das von Rosier. So hieß er, weil der Standesbeamte den Namen so geschrieben hatte: Das g von Roger war zu si geworden. Mit fünfzehn Jahren hatte er auf dem Feld zu arbeiten begonnen. Mit zwanzig stand er bei den Wehrpflichtigen auf der Piazza in Perloz, und alle sagten:

«Wir ziehen nicht mehr in den Krieg.»

Für den Duce waren sie Deserteure, Banditen, Bolschewisten. Es hatte eine Bekanntmachung gegeben: Wer desertiert, wird zum Tode verurteilt, wer mit Waffen in der Hand überrascht wird, wird sofort erschossen. Doch Rosier war nur ein Bergler. Er und seine Genossen fühlten sich nicht als Söhne des Vaterlands mit großem V. Sein Vater war in Paris gewesen, zuerst Auto-laveur und dann Taxifahrer; und schon sein Großvater war ausgewandert und hatte die Zulassung als cocher erworben. Alle gingen damals zum Arbeiten nach Frankreich. Levallois-Perret un­weit von Paris war voller Leute von hier. Die Pariser Taxifahrer stammten aus Perloz oder Marine. Wenn die flics Bußgelder verhängten, fragten sie:

«Wie, kommt ihr alle aus Marine? Ja ist Marine denn eine große Stadt?»

Womöglich dachten sie an eine Stadt am Meer! Und einmal hatte einer geantwortet:

«Das will ich meinen! Ein Pferd schafft es in sieben Tagen nicht, sie ganz zu umrunden!»

Es waren die Jahre, in denen im Hauptort der Spruch prangte: Wir marschieren, wie der Duce will, wo schon die Römer gingen. Die Jahre, in denen die Schullehrerin in der Klasse sagte:

«Die Unseren rücken vor», während sie die Fähnchen auf der Landkarte versetzte; sie ließ die Kinder auch Briefe schreiben «an einen Soldaten, der keine Post bekommt». Mit den Adlerjungen und den Schwalben Italiens zeigte die Lehrerin Geduld, während sie Giustina hart auf die Finger schlug; und dann machte die Kleine in die Hose und war auf ihre Klassenkameradinnen neidisch, die an Dreikönig gefütterte Holzpantinen und bunte Pullover bekamen. So sind die Lehrerinnen: Sie sagen, der Duce ist von Gott gesandt. Und Rosier hatte in Ponte auch die Parade der Bersaglieri gesehen, die Vinceremo sangen, wir werden siegen, und sich dann abschlachten ließen, um Helden zu werden.

Aber auf der Piazza von Perloz sagten Rosier und die anderen, auch die aus der Kirschenzeit, alle:

«Wir bleiben hier, nach Deutschland gehen wir nicht.»

Da Rosier kein Zuhause mehr hatte, schlief er von nun an auf Lagern aus Buchenblättern voller Flöhe und wählte als Decknamen den seiner Ziege: Binda. Seine neue Wohnung waren die Schluchten, die Berghütten ganz oben, wo nicht einmal der Maulesel hinkam. Dorthin hatte sich Bono Badery geflüchtet, nachdem er mit einem Lastwagen mit Musketen, Handgranaten, Munition, drei Maschinengewehren und zwei Motorrädern ins Tal gekommen war. Er hatte die Waffen in die Seilbahn geladen, um sie hinaufzubringen; es war Bono gewesen, der im Aostatal den maquis eröffnet hatte: Als am 8. Dezember 1943 die Carabinieri aus der Ebene heraufsteigen, um die Wehrdienstverweigerer aus Marine zu suchen, feuert er mit seinem Maschinengewehr eine Salve von Schüssen in die Luft, und die Carabi­nieri laufen Hals über Kopf davon.

Rosiers Heimat waren also die Ziegen, die Alpen, die Steinhaufen, die Kastaniensuppe, die Polenta, die Ziehharmonika, um mit der Liebsten im Heuschober zu tanzen, das Läuten der Glocke, die Gefahr ankündigte: Bis es den Faschisten gelang, den Klöppel der größten Glocke zu erbeuten, dort in der Wallfahrtskirche der Madonna della Guardia.

Diese wundertätige Madonna hatte im Ersten Weltkrieg die drei Brüder im Schützengraben gerettet, die eine Marienmedaille auf dem Hemd trugen, dem kleinen Mädchen Gnade erwiesen, das vom Balkon gefallen war, dem Mann, den eine Lawine erfasst hatte, dem Arbeiter, der ei­nen Stromschlag abbekommen hatte. Und nun versteckte sie unter ihrem blauen Mantel die Rebellen: Denn auch der Pfarrer war auf ihrer Seite. Als man ihn aufs Kommando brachte, sah er im Vorraum seine leichenblassen Gemeindemitglieder stehen, und der diensthabende Faschist, der einen Spaten in der Hand hielt, sagte zu ihm:

 

«Damit werden sich deine Partisanen die Grube graben.»

Rosier war zum Patrioten geworden. Sein Vaterland war jetzt die Bande Cappellin, benannt nach einem Jungen, den die Faschisten mit Fußtritten und Gewehrkolben massakriert hatten, als er von einem Abwurf von Hilfsgütern der Alliierten zurückkehrte: Seine entstellte Leiche hatten sie auf eine Plane gelegt und ihn heimlich zur Beer­digung hinuntergetragen. Und die Plane mit dem ganzen Gehirn drauf hatten sie Giustina zum Waschen gegeben, die das bis heute nicht vergessen kann.

Keine Politik, in der Bande. Ihre Politik war, ihre Haut zu retten. Frei zu sein, sich zu bekreuzigen, bevor sie die Straße überquerten, und sich nicht umbringen zu lassen. In der Bande von Perloz gibt es nicht, so wie oben im Tal, falsche Partisanen, die von außerhalb kommen, Diebe, die Vieh stehlen, Räuber. Hier kennen sich alle und helfen sich gegenseitig, hacken Holz. Als die Faschisten die Bäckerei von Chamioux niederbrennen, bauen die Partisanen sie wieder auf. Mit Masten aus Kastanienstämmen und Te­legrafenleitungen versorgen die Männer vom Ta­glia­men­to die entlegenen Ortsteile mit elektrischem Strom. Und manchmal machen sie sich über die Nazis lustig. Giu­stina erinnert sich an die Bergbäuerin, die, als die Deutschen kamen, um zu plündern, während sie gerade Ziegenkäse machte, sagte:

«Wartet, nehmt auch noch die hier …»

Sie hob ihren Rock und setzte sich mit nacktem Hintern auf die hölzernen Formen. Als die Deutschen sahen, wie in Perloz der Käse gemacht wird, ließen sie alles fallen und zogen ab.

Die Frauen strickten Pullover aus Schafwolle und nähten Hemden aus Fallschirmplanen, sie wuschen den in den Berghütten versteckten Männern die Wäsche, warnten sie, wenn die Faschisten kamen, und arbeiteten als Stafette, sie trugen Holzschuhe mit genagelten Sohlen, die auf den Steinen Funken schlugen, sie ernteten Kartoffeln, säten Roggen, transportierten Dung, gingen mit fünfzig Kilo Kastanien auf der Schulter zum Markt hinunter, während die Frau des Podestà ein Dienstmädchen mit Häubchen und schwarzer Satinschürze hatte. Einige Mädchen gingen zum Arbeiten in das Walzwerk von Ilssa Viola hinunter; und auf dem Maultierpfad fühlten sie am Kontrollposten jedes Mal ihr Blut stocken bei dem Ruf: «Halt! Wer da?!»

Die Frauen waren auf Seiten der Rebellen. Giustina war auf Seiten der Rebellen. Als Kind hatte sie mit ihren Brüdern auf einer Matratze aus Dung geschlafen, der mit einer Schicht Blätter bedeckt war. Sie erkannte jeden Hund an seinem Gebell und wusste, wenn nachts die Faschisten vorrückten: «Sie sind in Marine.» – «Sie sind am Crest.» Das Bellen der Hunde verriet sie.

Hier, zwei Schritte von den Feuern entfernt, die heute Abend am Flussbett der Lys auflodern, war der Wilde Westen. Damals geschahen Dinge, wie die Ziegenhirten sie noch nie gesehen hatten: Eines Tages Ende Januar 1944 sah man mit Gewehren und Maschinengewehren bewaffnete junge Leute, die Bandiera Rossa singend durch Lillianes zogen. Es geschahen Wunder. Nehmen wir Beniamino, zum Beispiel: Als er die Schüsse der Russen hört, ist sein Rheuma plötzlich geheilt, und er springt vom Mäuerchen herunter und dann in den Fluss, um seine Spuren zu verwischen.

Von einem deutschen Unteroffizier angeführt, waren die Russen bis Lillianes gekommen: Sie waren nervös, denn die Brigade kontrollierte mittlerweile das ganze Tal. Die Männer vom Tagliamento – Deo, Bandiera, Rospo, Spiccalocchio und noch ein paar – saßen in ihrem Stützpunkt beim Kartenspiel, manche gekleidet wie der Prinz von Wales, weil einer aus Biella den Stoff für ihre Jacken und Hosen geliefert hatte. An den Füßen Schuhe aus Autoreifen. Als sie den Trupp in der Nähe des Friedhofs sehen, gekommen, um zu plündern und zu brandschatzen, befiehlt Deo, der Anführer:

«Haut ab! Es hat keinen Zweck, das Feuer zu erwidern.»

Daraufhin verschwinden sie in die Berge Richtung Ma­­rine. Doch Bandiera wird gefangengenommen:

«Du Bandit! Heute Abend in Ponte San Martino erschießen!»

Zuerst bringen sie ihn nach Fontainemore, wo sie ihn beschimpfen und verprügeln. Sie wollen ihn auf der Stelle erschießen, doch der Feldwebel der Alpini ist dagegen: Wenn sie Bandiera umbringen, werden seine Genossen rea­gieren. Also binden sie ihn mit einem Eisendraht an das Kuhgeschirr und los, runter zur Brücke. Doch an einer Kurve vor dem Dorf angekommen, hat der Eisendraht seine Arbeit getan, und Bandiera wird von der Kuh gerettet, die ihm geholfen hat, den Strick durchzuscheuern. So kann er sich vor der Nase der Russen, die so sturzbetrunken sind, dass sie kein Gewehr mehr halten können, in die Weinberge absetzen.

Das wahre Wunder geschieht jedoch vor dem Dorf. Dort patrouilliert Nerone zu Füßen der Bella Italia, als plötzlich eine Kugel seinen Kopf durchschlägt: Wie ein Ei, das zerbricht. Die Kugel dringt an der Schläfe ein und tritt im Nacken an der Schulter wieder aus: Nerone fällt um, steht auf, rollt von der Mauer herunter, versteckt sich in einem Kanal, steht erneut auf, um einen Apfel zu pflücken, kann aber den Kiefer nicht bewegen; er schleppt sich bis zur Lys, durchquert sie, trinkt, übergibt sich, sie flößen ihm Ziegenmilch ein, binden ihn an eine Leiter, die als Bahre dient, und tragen ihn nach Ruine hinauf. Sie wachen die ganze Nacht bei ihm. Dann geht’s noch weiter hinauf bis Mont Rot. Nachts ruft das Käuzchen: Doch Nerone stirbt nicht.

Gegen Ende August 1944 heulten in Ponte eines Tages um die Vesperzeit die Sirenen: Dicker Qualm verdunkelte die Sonne, und alles wurde schwarz. Da sah Rosier oben im Gebirge Fotos durch die Luft fliegen wie orientierungslose Vögel. Die amerikanischen Bomben hatten auch das Haus des Dorffotografen getroffen, und dabei waren die Bilder von den Rebellen – verewigt mit Maschinengewehr und Ziehharmonika, als sie ein Fest gefeiert hatten – hoch hinauf gewirbelt worden.

Und heute Abend beginnt diese Ziehharmonika neben den Augustfeuern die alten Lieder zu spielen, die Giustina an ihre Jugend erinnern. Und nun, schau, nun landen die Fotos auf den Rhododendronsträuchern, während in der Ebene auf den Straßen alle durcheinanderschreien und die Bomben in Ponte mehr als hundert Tote verursachen: Die Mutter des Fotografen findet man in einem Graben auf der anderen Seite des Flusses wieder, doch wo mag das Kind hingekommen sein? Die zwei kleinen Geschwister, die auf der Piazza vor dem Denkmal Murmeln spielen, fliegen in die Luft, genau wie Maria Anna am Waschtrog, der Barbier, der gerade einem Kunden die Haare schneidet, Mario an der Kaffeetheke und Domenico am Kartentisch mit seinen Freunden, die dreizehnjährige Ines auf dem Weg zum Brotholen, der Direktor der Sparkasse mit der Schachtel seiner Schuhe in der Hand, die frisch besohlt werden sollen, und von der Frau aus Carema, die zum Feigenverkaufen gekommen ist, findet man nur noch die Kräze. Und alle anderen: von den Bomben zerfetzt. Den Bomben, die man schwankend und in der Sonne glänzend über den Häusern von Ponte hatte fallen sehen. Es interessierte die amerikanischen Piloten nicht, wo diese silbernen Geschosse landeten, die den Passanten auf der Straße die Kleider herunterreißen und sie mit Erde bewerfen; die dem Tod Entronnenen irren nackt und schwarz wie Kaminfeger mit blutenden Füßen auf den Glassplittern durch die Straßen, und am nächsten Morgen denkt man, die Sonne könne nicht mehr aufgehen über Ponte, während sich das Pfarrhaus von Perloz mit weinenden Menschen füllt und man den Schreiner aus der Via Roma singen hört, der vor Schmerz wahnsinnig geworden ist und einen wirklich schönen Sarg für sein Töchterchen zimmert, das zerschmettert wurde, als es gerade mit dem Cousin zum Bonbonkaufen ging: Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein …

Auch heute Abend fliegen sie, die Fotos der Rebellen, werden von den Funken der am Flussbett lodernden Feuer hinaufgewirbelt, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, wie in einem Walzer, mit den jungen Gesichtern von Vadalà ­Ridolini Saetta Canonico Piccolo Stukas Grappa Carnera Siberia Tabacco Nerone Capèl Tom Garibaldi Pirata Galletta Badoglio Nebbiolo Primola Binda Bandiera Tremendo und allen anderen, die im Rauch verblassen: bis das Foto der kompletten Brigade mit angelegtem Gewehr ­Giustina direkt in den Schoß flattert, während sie die Augustfeuer am Ufer der Lys betrachtet.

You have finished the free preview. Would you like to read more?