Handbuch Ius Publicum Europaeum

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II. Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union

1. Die Auseinandersetzungen um die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Mitgliedschaft

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Das Gesetzgebungsverfahren im Zuge des Beitritts war durch eine weitgehende Unkenntnis bezüglich der vollen Implikationen der Mitgliedschaft in der EWG gekennzeichnet.[15] Die britischen Gerichte benötigten denn auch beinahe zwanzig Jahre, um die volle Bedeutung dieser Mitgliedschaft zu erkennen und anzuerkennen, dass die Souveränität in Angelegenheiten, die innerhalb der Kompetenz der Gemeinschaft[16] liegen, übertragen worden ist. Es dauerte sodann weitere zehn Jahre, um eine anspruchsvolle, wenn auch traditionelle Interpretation der verfassungsrechtlichen Implikationen der Mitgliedschaft zu entwickeln.[17] Im Verfahren zur Ratifikation des Beitrittsvertrags wurden dem Parlament unvollständige Angaben zum Verhältnis zwischen dem Recht der Europäischen Gemeinschaften und dem nationalen Recht vorgelegt. Es gab zwar Versuche, den Erhalt der Parlamentssouveränität in den Gesetzesentwurf einzufügen, letztlich wurde dies aber durch die Versicherung abgewehrt, dass die Souveränität des Parlaments durch den Beitritt nicht angetastet würde.[18] Dies zeigt, dass es eine große Unsicherheit in Bezug auf die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die britische Verfassungstradition gab.[19] In den 1960er Jahren bestand abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen wenig wissenschaftliches Interesse an der EWG. Nach einem berühmten Diktum von Professor de Smith war der Beitritt Großbritanniens angesichts der nunmehr doppelten Souveränität („dual sovereignty“) von britischem Parlament und Europäischen Gemeinschaften eine „rechtliche Schizophrenie“[20].

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Drei Jahre nach dem Beitritt, 1976, erklärte der berühmte Lord Denning, einer der höchsten Richter im Vereinigten Königreich, dass im Fall eines vom Parlament bewusst herbeigeführten Konflikts zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht letzterem Vorrang zukommen solle.[21] In dem betreffenden Urteil legte er zugleich den Grundstein für die Interpretation von Gesetzen und Verordnungen im Einklang mit primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht. Lord Dennings Interpretationsmethode setzt bei der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift an und versucht sodann, die nationale Vorschrift in deren Licht auszulegen. Bemerkenswert ist diese Methode vor allem deshalb, weil sie dem traditionellen Ansatz englischer Gerichte zuwiderläuft, wonach zunächst die Bedeutung des britischen Gesetzes interpretiert wird. Lord Dennings Ansatz spiegelte sich später in Sir John Laws’ Ausführungen im Fall Thoburn wider.[22] Laws stellte dort fest, dass der European Communities Act 1972 ein so genanntes constitutional statute (verfassungsrechtliches Gesetz) sei und sich dem implied repeal (stillschweigender Widerruf) entziehen könne.

2. Nationale Interessen im Kontext der Ratifikationsdebatte

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Wirtschaftlich gesehen bestand Anfang der 1950er Jahre wenig Interesse in Großbritannien an einer Mitgliedschaft in der EGKS, da es der Hauptproduzent von Kohle und Stahl in Europa war.[23] Auch die zögerliche Haltung Großbritanniens bezüglich der Begriffe und Konzepte von Supranationalität und Europäischer Union erklärt sich daraus, dass es sich für Großbritannien um eine Frage von weit reichenden Konsequenzen handelte, die vor der Eingehung von Verpflichtungen wohl überlegt sein musste.[24] Sein Weg von einer Weltmacht mit einer starken verfassungsrechtlichen Tradition im 19. Jahrhundert zu einer (gleichberechtigten) Partnerschaft innerhalb der EU im ausgehenden 20. Jahrhundert verlief naturgemäß nicht ohne Brüche.

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Widerstand kam zudem von dem „Board of Trade“ (früheres Handelsministerium bis 1970, Vorgänger des heutigen Department of Trade and Industry), das der Ansicht war, dass eine Mitgliedschaft in EWG, EAG und EGKS für die britische Industrie schädlich sein würde bzw. dass sie die Wirtschaftsbeziehungen zum Commonwealth gefährden könnte. Die Verbindungen mit dem Commonwealth waren sehr stark; noch 1948 gingen 40% aller Exporte dorthin.[25] Ende der 1950er Jahre hatte sich die Konjunkturlage verschlechtert, und es wurde deutlich, dass dies teilweise mit der Konzentration auf den Handel mit dem Commonwealth und dem Ausschluss von Westeuropa im Zusammenhang stand.[26]

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Als 1960 Diskussionen um die politische Einheit Europas und die Koordinierung von Verteidigungs- und Außenpolitik in den Mittelpunkt rückten, erkannte Großbritannien, dass eine Mitgliedschaft für ein stabiles Westeuropa eine Notwendigkeit wurde.[27] Der erste Beitrittsantrag scheiterte freilich an dem französischen Veto durch Präsident de Gaulle 1963. Dieser argumentierte, „England sei insular, maritim, durch seinen Handel, seine Märkte, seine Versorger an sehr verschiedene, weit entfernte Länder gebunden […]. Wie könne man England, so wie es lebt, wie es produziert und wie es handelt in einen Gemeinsamen Markt integrieren?“[28]. De Gaulle betonte auch die für eine Kooperation innerhalb Europas hinderliche Verbindung Großbritanniens zu den Vereinigten Staaten. Erst als er sein Amt niederlegen musste, wurden im Jahre 1969 wieder Beitrittsverhandlungen aufgenommen und zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Beide Mitgliedschaftsanträge waren jedoch von pragmatischen Erwägungen geprägt, nicht von der Begeisterung für die europäische Idee; das starke britische Identitätsbewusstsein sollte keinesfalls aufgegeben werden.[29]

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Von Anfang seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft an war Großbritannien ein „schwieriger Partner“[30]. Das hat sich bis heute nicht geändert. Obwohl die britische Regierung unter Tony Blair für europäische Fragen offener erscheint als vorangegangene Regierungen, zeigte etwa die Haushaltsdebatte des Jahres 2005, dass sich daran mittelfristig nichts ändern wird. Dieser historisch tief verankerte Befund ist dem Festhalten an der Tradition des Verfassungsrechtlers Albert Venn Dicey zugeschrieben worden, dessen Auffassung von der unteilbaren Souveränität in der britischen verfassungsrechtlichen und politischen Psyche tief verankert sei.[31] Anders als in Deutschland oder Italien war der Begriff der nationalen Souveränität in Großbritannien auch nach dem Zweiten Weltkrieg unangetastet geblieben, so dass die Akzeptanz jeglicher Form von Supranationalität hier besonders schwer fällt.

3. Dogmatische Grundlagen der Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU

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Die Doktrin der Parlamentssouveränität besagt, dass kein Parlament ein zukünftiges Parlament binden kann. Die Ratifikation des Beitrittsvertrags veranschaulicht jedoch, warum die Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts in Großbritannien nicht zu den Schwierigkeiten geführt hat, die der Conseil d’État oder das deutsche Bundesverfassungsgericht zu bewältigen hatten.

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Die wichtigste Vorschrift ist Abschnitt 2 Abs. 1 des European Communities Act 1972. Dieser lautet: „All such rights, powers, liabilities, obligations and restrictions from time to time created or arising by or under the Treaties, and all such remedies and procedures from time to time provided for by or under the Treaties, as in accordance with the Treaties are without further enactment to be given legal effect […].“

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Gemäß Abschnitt 2 Abs. 2 können zukünftige rechtliche Verpflichtungen durch Regierungsverordnung oder Verordnung umgesetzt werden. Abschnitt 2 Abs. 3 des Gesetzes beinhaltet Begrenzungen. Abschnitt 2 Abs. 4 enthält eine Interpretationsregel, wonach „jedes bestehende oder zukünftige Gesetz […] gemäß den vorangegangenen Vorschriften dieses Abschnittes auszulegen ist“. Weiterhin ist bestimmt, dass nach Abschnitt 2 Abs. 2 erlassene Regelungen Gesetzeskraft haben können. Damit kann die Regierung Gesetze ändern oder aufheben, was ihr eine Befugnis verleiht, die bezeichnenderweise als „Heinrich VIII.“-Kompetenz bekannt geworden ist. Der absolutistische Heinrich VIII. hatte die Kompetenz, königliche Verfügungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. In Absatz 3 ist die Präzedenzwirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes festgelegt und werden die Gerichte des Vereinigten Königreiches dazu verpflichtet, Institute wie Souveränität und unmittelbare Wirksamkeit im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH auszulegen. Die Gerichte behandeln somit Gemeinschaftsrecht – anders als ausländisches Recht – als Rechts- und nicht als Tatsachenfrage.

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Die Implikationen von Abschnitt 2 Abs. 1 haben es in sich: Grundsätzlich müssen alle unmittelbar wirksamen oder anwendbaren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auch vor den nationalen Gerichten unmittelbar wirksam oder anwendbar sein, und die Gerichte müssen dies anerkennen. Deshalb könnte man annehmen, dass die Richter im Vereinigten Königreich insoweit der überkommenen britischen Doktrin folgen, wonach die Richter den Anweisungen des Parlaments unterworfen sind.[32] Denn das Parlament hat angeordnet, dass Gemeinschaftsrecht gemäß den Bedingungen zu akzeptieren ist, nach denen es von den Gemeinschaftsorganen gesetzt oder interpretiert wird. Der Hauptbezugspunkt für den britischen Richter ist dabei der European Communities Act 1972 und nicht etwa der Vertrag. Dies ist wichtig, denn es bedeutet, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts durch ein einfaches Parlamentsgesetz und nicht aufgrund einer verfassungsrechtlichen Bestimmung erreicht wird.

 

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Da es in Großbritannien keine geschriebene Verfassung gibt, gibt es auch keine ausdrücklichen Schranken für die Akzeptanz und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. Lord Denning fasste zusammen, dass ein Parlamentsgesetz das Gemeinschaftsrecht zu einem Teil unseres Rechts werden ließ, und obwohl es britisches Recht nicht ersetze, verdränge es jeden Teil, der nicht mit ihm vereinbar sei.[33] Dies geschieht durch ein einfaches und kurzes Parlamentsgesetz, welches die Anhänge des European Communities Act 1972 ergänzt. Wenn möglich, werden EG-Richtlinien durch nationale Verordnungen umgesetzt, was in der Mehrzahl der Fälle geschieht. Manchmal ist allerdings ein Gesetz notwendig, wie im Fall des Data Protection Act 1998. Der European Communities Act 1972 selbst enthält Beschränkungen in Bezug auf die Anwendung von untergesetzlichem Recht. Generell werden wichtige Veränderungen durch Gesetz vorgenommen. Politische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind eine andere Frage und wurden der Regierung von John Major beinahe zum Verhängnis.[34]

4. Konfliktlinien

a) Souveränität

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Abschnitt 2 Abs. 1 des European Communities Act 1972 ist eine singuläre Vorschrift im Recht des Vereinigten Königreiches.[35] Das liegt daran, dass dieser Abschnitt den generellen Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Vereinigten Königreich anerkennt und nicht auf die für das Völkerrecht geltenden Regeln oder auf die Delegierung von Gesetzgebungsbefugnissen des Parlaments abstellt.[36] Das Konzept der Implementierung konnte die ständige Einflussnahme des Gemeinschaftsrechts als ein sich entwickelndes Phänomen, als einen lebendigen Vorgang erklären. Im Übrigen ist fraglich, ob die Delegation von Souveränität überhaupt möglich ist, weil die souveräne Macht des Parlaments weiter besteht. Abschnitt 2 Abs. 1 jedoch sichert die Verbindlichkeit von unmittelbar anwendbarem oder wirksamem Gemeinschaftsrecht im Vereinigten Königreich. Zunächst war umstritten, ob Gemeinschaftsrecht, wie Lord Denning es beschrieben hatte, Teil des Rechts des Vereinigten Königreiches wurde. Denn der Solicitor General (Vertreter des Attorney General) hatte 1972, im Gesetzgebungsverfahren zu der EC Communities Bill, ausgeführt, dass Gemeinschaftsrecht nicht Teil des Rechts des Vereinigten Königreiches wurde. Diese Aussage dürfte heute jedoch überholt sein.[37]

b) Demokratie

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Neben der Souveränität ist die insoweit ablehnende Haltung der britischen Regierung in Bezug auf die Beteiligung des Parlaments am europäischen Rechtsetzungsprozess eine wichtige verfassungsrechtliche Thematik. Sie macht den spezifischen Blickwinkel aus, unter dem die Frage des demokratischen Defizits der EU in Großbritannien diskutiert wird. Eines der strittigsten Themen für die britische Regierung, welches sich aus der Mitgliedschaft in der EU ergeben hat, ist dabei der Zuwachs an Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können. Hand in Hand hiermit geht der Verlust des „nationalen Vetos“. Im Vereinigten Königreich überwiegt heute gleichwohl die Meinung, dass in einer erweiterten Union die qualifizierte Mehrheit zwecks Verfahrensvereinfachung zu begrüßen ist.[38] Die britische Regierung besteht jedoch weiterhin darauf, dass die Einstimmigkeit für Vertragsänderungen beibehalten wird. Sie hält weiterhin an dem Erfordernis der Einstimmigkeit in Bereichen fest, die besonders wichtige nationale Interessen betreffen, wie Steuern, Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wichtige Bereiche des Strafprozesses und die Eigenmittel. Schließlich ist auch im VVE für die GASP die Einstimmigkeit beibehalten worden (Art. I-40 VVE).[39] Diese in der Regierungskonferenz getroffenen Regelungen haben verfassungsrechtliche Konflikte über eine zu starke Integration jedenfalls aus britischer Sicht vermieden.

c) Reaktion der Gerichte

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Die Gerichte haben für den Fall eines Konfliktes zwischen nationalem und unmittelbar wirksamem Gemeinschaftsrecht entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht vorrangig ist. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist damit heute allgemein anerkannt. Darüber hinaus haben die Gerichte mittlerweile entschieden, dass es eine Interpretation von nationalen Vorschriften nach Maßgabe nicht unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts gibt. Wie bereits angedeutet, führte die traditionelle Auffassung von der Doktrin der Parlamentssouveränität zu Spannungen zwischen dem Recht des Vereinigten Königreiches und dem Gemeinschaftsrecht.[40] Besondere Schwierigkeiten bereitete dabei Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972, in dem es heißt: „[Z]usätzlich zu den in diesem Teil des European Communities Act 1972 genannten Gesetzen ist jedes bereits wirksame oder zukünftige Gesetz im Einklange mit den diesem Abschnitt vorhergehenden Vorschriften auszulegen.“ Die Gerichte haben diesen Abschnitt als Auslegungsregel angewandt. In Macarthys Ltd v. Smith[41] etwa führte Lord Denning aus, dass für den Fall, dass eine dem Gemeinschaftsrecht widersprechende Vorschrift des englischen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts ausgelegt werden könne, die Gerichte diese Auslegung vornehmen sollten. Die Besonderheit an dieser Entscheidung war, dass Lord Denning die Bindung an den European Communities Act 1972 betonte und gleichzeitig einen grundsätzlichen Aspekt der Parlamentssouveränität, die Doktrin des implied repeal, modifizierte. In Garland v. British Rail Engineering Ltd[42] legte das House of Lords die Frage der Interpretation von Art. 119 EWGV sogar dem EuGH vor. Obwohl Lord Diplock in Garland die von Lord Denning angewandte Methode der europarechtskonformen Interpretation weiterentwickelte, ließ er die Frage offen, ob die Gerichte im Falle einer gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschrift des nationalen Rechts letzterer den Vorrang einräumen sollen.[43] Bis zu einer Antwort der britischen Gerichte sollten noch einige Jahre vergehen.

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Weitere Schwierigkeiten traten auf, nachdem der EuGH in der Rs. von Colson[44] entschied, dass nationale Gerichte auch nicht unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Die Klägerin im Fall Duke v. GEC Reliance Ltd[45] war der Ansicht, dass der Sex Discrimination Act 1975 mit der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 unvereinbar sei. Lord Templemans Ausführungen verdeutlichen die Problematik, wenn er ausführte, dass das Parlament bei der Verabschiedung des Sex Discrimination Act 1975 nicht beabsichtigt hatte, die Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976 zu berücksichtigen. Seiner Meinung nach berechtige Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972 die Gerichte nicht dazu, die Bedeutung eines britischen Gesetzes aufgrund einer Richtlinie, die keine unmittelbare Wirkung zwischen Individuen habe, umzuschreiben.[46] In Webb v. EMO[47] ging es ebenfalls um einen Konflikt zwischen Vorschriften des Sex Discrimination Act 1975 und der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207. Lord Keith führte diesmal aus, dass das britische Gesetz im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht auszulegen sei.

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Die Akzeptanz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wurde von Lord Bridge im Fall Factortame[48] erklärt. Die Antragsteller waren nach britischem Recht registrierte Unternehmen. Die Direktoren und die meisten der Aktionäre besaßen dagegen die spanische Staatsbürgerschaft. Die Unternehmen waren gemäß dem Merchant Shipping Act 1894 als britische Unternehmen registriert. Als das Gesetz im Jahre 1988 geändert wurde, scheiterte die weitere Registrierung der meisten dieser Unternehmen an den Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- und Wohnsitzanforderungen an das leitende Personal. Sie erhoben Klage und trugen vor, dass Teile des Merchant Shipping Act 1988 mit den Art. 43, 48 und 294 EG unvereinbar seien. Eine Frage betraf zunächst die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz in Gestalt der Aussetzung der Anwendung von nationalem Recht während der Anhängigkeit des Falls beim EuGH. In R v. Secretary of State for Transport ex p Factortame No 1[49] waren die Law Lords wegen des Prinzips der Parlamentssouveränität nicht bereit, eine solche Anordnung zu treffen.[50] Als der Fall nach dem Vorlageverfahren gemäß Art. 234 EG vom EuGH zurückverwiesen wurde,[51] entschied das House of Lords, dass es keine Wahl habe und das Parlamentsgesetz, das angeblich gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, nicht anwenden könne.[52] Nachdem der Europäische Gerichtshof in einem weiteren Verfahren einen Gemeinschaftsrechtsverstoß festgestellt hatte,[53] wurden die Vorschriften des Gesetzes vom House of Lords für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt[54]. Dies war das erste Mal, dass ein Gesetz von den Gerichten wegen seiner Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nicht angewendet wurde, was wohl die wichtigste Modifikation der Verfassung seit dem Case Law des 17. Jahrhunderts darstellt. Denn die Souveränität des Parlaments wurde damit ernsthaft beschnitten.[55] Im Fall Equal Opportunities Commission v. Secretary of State for Employment[56] diente Factortame sodann als Präzedenzfall, und das House of Lords entschied ohne Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, dass Teile des Employment Protection (Consolidation) Act 1978 gemeinschaftsrechtswidrig waren.

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Die Auswirkungen der Factortame-Entscheidung auf die Doktrin der Parlamentssouveränität sind ausführlich diskutiert worden.[57] Die Entscheidung verdeutlicht darüber hinaus, dass die traditionelle Doktrin des implied repeal (stillschweigender Widerruf) im europarechtlichen Zusammenhang keine Anwendung mehr findet. Sollte das Parlament dennoch beabsichtigen, von einer europarechtlichen Verpflichtung abzuweichen, so muss dies durch eine explizite Regelung geschehen. Wie die Reaktion der Gerichte auf eine dermaßen ausdrückliche Abweichung von europarechtlichen Vorgaben aussehen würde, ist allerdings ungewiss und hängt letztlich von der verfassungsrechtlichen Verortung der Kompetenz-Kompetenz ab.[58]

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Lord Bridges Ansatz in Factortame kann methodisch durchaus als Gesetzesauslegung, hier des European Communities Act 1972, qualifiziert werden. Demnach sind abweichende nationale Vorschriften im Sinne des European Communities Act auszulegen oder nicht anwendbar, so wie es Abschnitt 2 Abs. 4 vorschreibt. Die Doktrin der Parlamentssouveränität bleibt damit intakt, und dem Parlament verbleibt theoretisch die gesetzgeberische Möglichkeit, ausdrücklich gegen Europarecht zu verstoßen. Diesem Ansatz ist entgegengehalten worden, dass Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act 1972 ausgesprochen schwierig zu verstehen[59] und eine Auslegung nicht immer möglich sei, ohne die Bedeutung des zu interpretierenden Gesetzes völlig zu entfremden. Es ist bezweifelt worden, dass die Vorschrift alle potentiellen Kollisionen vorhergesehen hat.[60]

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Lord Bridges Argumente basieren darüber hinaus auf Prinzipien, die sich aus der Mitgliedschaft in der EU ergeben: „If the supremacy within the EC of Community law over the national law of member states was not always inherent in the EEC Treaty, it was certainly well established in the jurisprudence of the Court of Justice long before the UK joined the Community [...] whatever limitation of its sovereignty Parliament accepted when it enacted the European Communities Act 1972 was entirely voluntary. Under the terms of the 1972 Act it has always been clear that it was the duty of a UK court, when delivering final judgment, to override any rule of national law found to be in conflict with any directly enforceable rule of Community law. Similarly, when decisions of the ECJ have exposed areas of UK statute law which failed to implement Council directives, Parliament has always loyally accepted the obligation to make appropriate and prompt amendments.“[61] Die Akzeptanz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ist somit zweifelsohne durch das höchste Gericht bestätigt worden.

 

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Im Fall Factortame V entschied das House of Lords schließlich die Frage der Staatshaftung, die auf einen Verstoß des Merchant Shipping Act 1988 gegen europarechtliche Vorschriften gestützt wurde.[62] Das House of Lords stellte insoweit fest, dass die britische Regierung der Auffassung der EU-Kommission seinerzeit nicht gefolgt war und damit die Grenzen ihres Ermessensspielraumes überschritten hatte. Die EU-Kommission hatte der Regierung am 28. März 1988 ihre Auffassung mitgeteilt, dass die Vorschriften gegen Art. 43 EG verstoßen. Trotz der Androhung eines Verfahrens nach Art. 226 EG erhielt der Merchant Shipping Act 1988 jedoch Gesetzeskraft. Dieser Verstoß sei, so meinten die Law Lords, hinreichend qualifiziert und berechtige die betroffenen Fischer zu Schadensersatz.[63] Nachdem 91 der 93 Kläger sich mit der britischen Regierung geeinigt hatten, wurde der Umfang des von der britischen Regierung geschuldeten Schadensersatzes auf 55 Mio. £ beziffert.[64] Die Bereitschaft englischer Gerichte, das europarechtliche Haftungsinstitut innerstaatlich zu verwirklichen, war nach der Entscheidung des EuGH in der gleichen Sache[65] auch in anderen Fällen deutlich geworden.[66] Trotz der Bedeutung dieser Fälle für die Entwicklung des bislang sehr restriktiven englischen Staatshaftungsrechts[67] blieben diese für die Kläger im Ergebnis oft ohne Erfolg. Ein Schwerpunkt der nachfolgenden Diskussionen liegt heute in der Bestimmung der Rechtsnatur des europarechtlichen Haftungsanspruchs.[68] Die Frage, ob der Anspruch als ein breach of statutory duty, ein Anspruch aus negligence oder als ein öffentlich-rechtlicher Anspruch, der im Judicial Review-Verfahren zu verfolgen sei, zu charakterisieren ist, hat unterschiedliche prozessuale Konsequenzen und ist kürzlich vom Court of Appeal in Phonographic Performance Limited v. Department of Trade and Industry and Another ausführlich behandelt worden.[69] Die Diskussion über die Reform des englischen Staatshaftungsrechts ist durch europarechtliche Vorgaben[70] und, wie später auszuführen ist, durch Grundsätze der Europäischen Konvention für Menschenrechte angestoßen worden.