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Die Mühle zu Husterloh

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16. Kapitel

Bis zur zwölften Stunde des Sonntags hatten Hansens solide Grundsätze erfolgreich das Eindringen einer leichteren Lebensauffassung abgewehrt. Nun kam die Wendung. Man machte einen Ausflug nach einer im Waldesschatten versteckten Burgruine. Rechts und links vom Wege standen hundertjährige Kiefern, schwenkten die dunkelgrünen Äste im säuselnden Winde, beugten die hohen Wipfel und raunten mit flüsternden Tönen die wundersame Märe von der Liebe Freud und Leid in längst verklungenen Tagen. Das junge Volk der Studenten schien dafür kein Ohr zu haben, aber Gefühl genug, um der harten Straße auszuweichen und den Moosteppich des Waldes zu benutzen, der den Füßen sein Fließ bot, weich und mollig wie der Rücken eines Angoraschafes. In Gruppen aufgelöst, so wie man sich voneinander angezogen und abgestoßen fühlte, irrte die liebe Jugend auf pfadloser Bahn der Schlossruine zu, deren hohe Mauerreste traumverloren hinausschauten über dunkel bewaldete Bergesrücken, hellgrüne Saaten, blühende Wiesen und über das Silberband des Stromes, den man hier und da in weiter Ferne zwischen breit hingebetteten Dörfern hervorblitzen sah. Im grasbewachsenen Schlosshof und auf den abbröckelnden Mauern, sonst so still und verträumt, war das Sonntagsleben erwacht, und aus den Öffnungen des niedrigen Kellergewölbes klang verheißungsvoll der Klang des Schlegels, der an alten Fässern klopfte.

Kunz Josehans, der Kastellan, führte die Woche über das Leben eines Einsiedlers, und mehr Wein, als er selber trank und seine durstige Gattin, gurgelte nicht aus den Krahnen seiner Fässer. Aber am Samstag schon, da begann in der alten Ordenskomturei ein gewaltiges Leben. Der Hausherr klebte mit Eiweiß unrechte Etiketten auf unrechte Flaschen, und wenn es wahr wäre, dass zwei Verneinungen eine starke Bejahung gäben, so hätte er seinen Gästen einen rechten Wein vorsetzen können. Die Hausfrau hantierte vor dem Backofen und half diesem, Streuseltorten und Natronkuchen zur Welt bringen; ersteren für gewöhnliche Menschen, den letzteren für die feinere Gesellschaft, die der Sonntag heraufführen konnte. Zu der bevorzugten Klasse gehörten die Förster und Apotheker der Nachbarschaft, mehrere Ärzte und Richter, ein Kommerzienrat, vor allem aber eine erkleckliche Anzahl von Witwen, denen ihre Männer außer einigen hochtrabenden Titeln und einigen heiratsfähigen Töchtern zumeist nur wenig hinterlassen hatten. Diese Herrschaften kannten sich gegenseitig und ihre Lebensgewohnheiten aufs Genauste. Sie wussten, bei welchen Gelegenheiten man ohne große Ausgaben nach was aussehen, billig essen und trinken und doch hernach mit Ruhmredigkeit erzählen konnte, was alles man am letzten Sonntag sich wieder geleistet habe.

So kam’s, dass diese Herrschaften ohne eine Spur von Verabredung sich auch immer wieder trafen, und dann gab’s nichts Ergötzlicheres, als die ehrliche Verwunderung mit anzusehen über das Schicksal, das es gerade so und nicht anders gefügt hatte, dass man sich gerade hier und nicht wo anders treffen musste.

Eine solche Gesellschaft saß an dem Sonntag, den meine freundlichen Leser in Begleitung der Gelbkappen etwa bis zur vierten Nachmittagsstunde durchlebt haben, im Burghof um einen sauber gedeckten Tisch. Über ihren Häuptern wiegte eine Gruppe von Birken ihre hellgrünen Zweige im sonnigen Südwind, und neugieriger Goldregen, der aus den Ritzen der Mauer herausstrebte, neigte sich über den Tisch, als ob er einmal sehen wollte, wie viel Zucker die Herrschaften noch in der vernickelten Dose übrig gelassen hätten. Denn der Kaffee war bereits getrunken. Die Damen hatten mit zierlichen Servietten die Kuchenkrümel vom Tische in die Hohlhand gekehrt und dem Hauptimbisse nachgeschickt. Auf dem Pflaster des Burghofes stritten sich einige dreiste Meisen um das, was daneben gefallen war.

Während die Herren die Weinkarte musterten, aber nichts bestellten, die Zigarrenspitzen abschnitten, ohne anzuzünden und die Damen nach Handarbeiten in ihren Arbeitsbeuteln suchten, sahen die Mädchen mit gespannter Aufmerksamkeit nach dem alten Ausfalltor der Burg und seinem Fallgatter, als ob sie von dorther irgend etwas erwarteten, was dem langweiligen Gespräche über Pfarrgehälter und Beförderungsaussichten der Forstassessoren den Hals brechen könnte. Richtig, da mit einem Male kam’s wie eine Erscheinung aus einer besseren Welt. – Holofernes, der riesige Neufundländer, gestreift fast wie ein Zebra, setzte mit einem kühnen Sprunge durch das Tor, kam an den Tisch, machte seine Reverenz erst vor der Gesellschaft im Ganzen, dann vor jedem einzelnen Mitglied und sah zuweilen nach dem Tore hin, als ob er sagen wollte: »Lange werden sie nicht mehr bleiben, eigentlich könnten sie schon da sein,« und dann reckte er sich, wie so die warmen, zarten Mädchenhände dankbar schmeichelnd über seinen Rücken fuhren, und als gar die ersten seiner vielen Herren durchs Tor traten, bellte er zornig Wau – Wau – und seine herausfordernde Haltung erklärte bestimmt: »Ich weiß schon, dass ihr hier Eigentumsrechte erwerben könnt, aber vorläufig habe ich den Nießbrauch.«

Die Gelbkappen kamen einzeln und truppweise, wie es sich gerade gab, dem Tische näher, nahmen die Mützen ab, verbeugten sich grüßend vor den Herrschaften und begaben sich dann nach einem anderen Tische, der gleichfalls sauber gedeckt und auf Gäste wartend im Hofe stand. Holofernes pflanzte sich stolz zwischen den Mädchen auf und nahm alle diese Verbeugungen seiner Gebieter als eine ihm dargebrachte Huldigung mit Würde und Selbstverständlichkeit entgegen. Als aber nach den Burschen gar die Füchse kamen, drehte er sich um und warf abwechselnd mit dem rechten und linken Hinterbein etwas Sand nach ihnen, um anzudeuten, dass sie sich setzen könnten und dass er hiermit die Zeremonie der Vorstellung für beendet ansehe.

Jetzt wo das junge Volk der Studenten da war, wurde es lebhafter im Burghof. Die Mädchen am Honoratiorentisch sprachen lauter als vordem, und manche, die wusste, dass sie in klangvollen Trillern lachen könne, tat dies, auch wenn die Gelegenheit nicht gerade die geeignetste war. Die Herren hatten jetzt wirklich Wein vor sich stehen, und wenn von den Studenten einer sich und seinen Bierkrug erhob und herüberrief: »Herr Forstrat, ich gestatte mir, Ihr sehr verehrtes Wohlsein,« so rief dieser zurück: »Erlaube mir nachzukommen, prosit!« und trank dann in der Tat ein wenig.

»Ihr sehr verehrtes Wohlsein,« repetierte Hans Höhrle im stillen und: »Erlaube mir nachzukommen. Prosit.« Er hatte die Empfindung, dass er sich diese beiden Sätze merken müsse, dass es ohne sie nicht gehe, und er begann ja schon an der Vervollkommnung seines inneren und äußeren Menschen rüstig zu arbeiten. Er passte auf wie ein Haftenmacher, und als sich späterhin einer der Burschen mit seinem Glase gegen eine Pfarrerswitwe verneigte und verbindlich flüsterte: »Meine Gnädige, darf ich mir erlauben, auf ihr Spezielles zu trinken,« so prägte er auch diese Formel gewissenhaft seinem Geiste ein.

Nach einer weiteren Stunde, als schon das Überreichen einiger Blumensträußchen einen Notsteg zwischen den beiden Tischen geschlagen hatte, avancierten die älteren Semester kühn gegen die Jungfernfeste, und bald schwang sich die liebe Jugend paarweise im Tanze auf dem Rasen. Hans hätte für sein Leben gern mitgemacht, aber er hatte in die Kunstfertigkeit seiner Beine kein so rechtes Vertrauen, und eine schickliche Anrede der Tänzerin stand ihm, so sehr er auch sein Hirn zermarterte, nicht zur Verfügung. Dass er mit der Formel: »Is scho’ g’frägt? Nau? Häng en!« in jenem schon von Seume verhöhnten Dialekt des Mainzerlandes hier nichts anfangen könne, war ihm klar. Lernbegierig wie er war, drückte er sich deshalb ein wenig hinten herum, und erlauschte bald: »Gnädiges Fräulein, darf ich mir die Ehre geben?«

Mit diesem Brocken, den er eben aufgelesen hatte, zog er sich ein wenig zurück und wiederholte ihn ein paar Mal laut vor sich hin, um auch im Tonfall die richtige Sicherheit und Leichtigkeit der Aussprache zu gewinnen. Holofernes; dessen Rolle ausgespielt war, und der jetzt nirgends mehr Beachtung fand, gesellte sich dem Einsamen zu, ging einige Schritte mit ihm vorwärts, wendete rechtzeitig und marschierte dann wieder mit ihm zurück. Dabei sah er dem unerfahrenen Füchslein manchmal so treuherzig ins Gesicht, als ob er ihm sagen wollte: »Greif doch frisch zu, ein Kerl wie du! Die Damen sehen alle etwas prüder aus, als sie sind.«

Und Hans fasste sich ein Herz, griff zu, und bald wirbelte er zwischen den anderen Paaren auf dem Rasen herum. Anfangs hielt er seine Dame, aus Schüchternheit und Furcht, das zarte Wesen könne zerbrechen, nur lose im Arm. Doch die rosig glühende Kleine schmiegte sich enger an ihn. Sein Arm, anfangs zu weit für ihre Taille, folgte, so wuchsen zwei Körper schier zu einem Wesen zusammen, ihre Bewegungen gewannen mehr Takt und Sicherheit. Immer kühner wurden ihre Schwenkungen, immer mehr zog das Paar die bewundernden Blicke derer auf sich, die aus Bequemlichkeit oder ihres Alters wegen die Weinflaschen hüteten, die sich, unerschöpflich wie das Krüglein der Witwe zu Sarepta, immer noch nicht verblutet hatten.

Auch Holofernes, der sich nun völlig vernachlässigt fühlte, sah eine Zeitlang dem tollen Treiben der Menschen zu, dann aber legte er sich als vernünftiger Hund auf den Rasen, kreuzte die Vorderläufe wie zum Abendgebete, legte seine Schnauze darauf, schnappte ein paar Mal nach Fliegen, die seine Nase umschwärmten, und schlief ein. Als er wieder erwachte, hörte er, wie die Menschen zueinander »Mahlzeit« sagten und folgerte daraus, dass das Essen vorbei, und dass von der kalten Platte für ihn einige Wursthäute übrig geblieben sein könnten. Deshalb bemühte er sich an die Tafel, hob seinen Kopf über die Tischkante und orientierte sich mit einem Blicke, wo noch kleine Restchen auf den Tellern geblieben waren und wo nicht. Da die Herrschaften sich bereits erhoben hatten, und einer dem anderen in die Kleider half, so konnte er ungestört seine Nachlese halten und er tat dies auch mit Gründlichkeit und ohne Gewissensbisse darüber, ob er den Wirt um ein Montagsfrühstück brachte oder nicht.

 

Auch Hans hatte das Wort »Mahlzeit« gehört, und dem Ohre des Odenwälder Bauernsohnes klang es wie eine geradezu phänomenale Albernheit, aber da alle die würdigen Herren und Damen es mit einer Art Ehrfurcht, fast wie ein Gebet aussprachen, so kalkulierte er, dass es in den notwendigen Wortschatz eines Kulturmenschen gehöre und nahm sich vor, es demnächst bei passender Gelegenheit zu verwenden, mochte es auch noch so schwer den Weg über seine Lippen finden.

Man war aufgebrochen. Abenddämmerung und Waldesdunkel lösten die Gesellschaft in Paare auf, und obwohl jede Henne mit Späheraugen über ihr Küchlein wachte und schließlich der Himmel mit tausend Augen über allen, so ist es doch unsicher, ob nicht hie und da aus Amors reichen Schätzen eine Kleinigkeit entwendet wurde. Ganz sicher ist, dass mancher Backfisch sich in dieser Stunde um dreißig Minuten betrogen glaubte, als des Lichts gesellige Flamme aus der städtischen Gasbeleuchtung den Mond ablöste und die Herde wieder zusammentrieb.

Noch ein kleines Ständchen an den Vorgärten der Häuser, bis der dienende Geist herbeigeklingelt war, ein gegenseitiges Verneigen und: »Es war mir ein großes Vergnügen, meine Gnädige,« und all die lustigen Backfische waren eingetan, und die Studenten wieder unter sich.

Hans war noch zu fremd, er hatte keinen Anschluss an eine Dame gefunden und trottete neben Holofernes her, der sich von ihm beim Halsband nehmen ließ. Jetzt, wo jede weibliche Attraktion ausgeschaltet war, erinnerte man sich des Füchsleins wieder und lud ihn ein, den Abend auf dem Burschenhause zu verbringen. Gerne nahm er es an. Man ging durch eine Allee, wo die breiten Blätter im Schnitt gehaltener Platanen das Laternenlicht auffingen, so dass am Boden die Finsternis dick und schwer sich ablagerte und alles Gegenständliche mit dem Straßenkot in einen schwarzen Brei zusammenrührte. Da mit einem Male, als man um die Ecke bog, schlug unserem Neuling die feurige Glut mächtiger Wappenfenster ins Auge, über denen ein steiles Dach seine Erker und Giebel in den Nachthimmel hineinhob. Das war das Burschenhaus. Hans war von seinem Anblick mächtig ergriffen. Ihm erschien diese Gralsburg eine Herberge aller männlichen Tugenden, und er kannte keinen sehnlicheren Wunsch, als eintreten zu dürfen in einen Bund, der seinen Mitgliedern so Glänzendes zu bieten vermochte. Die Treppen, der Vorraum, alles machte einen so warmen wohnlichen Eindruck, und das Kneipzimmer gar, gefüllt mit Studenten in buntverschnürten Jacken, das Cerevis auf dem Kopfe, erschien ihm wie ein prangender Blumengarten.

Hans nahm Platz, aber er kam nicht zur Ruhe. Seine Augen suchten die Wände ab, von denen Leute auf ihn herniedersahen, die vor Dezennien hier gehaust und die nun auf akademischen Lehrstühlen saßen und auf Ministersesseln. Er fühlte, wie ihm die eigene Kraft wachsen würde in einer größeren Gemeinschaft, merkte, dass der Umgang mit anderen ihn stützen und erziehen müsse. So dauerte sein Schwanken zwischen den von Hause mitgebrachten Anschauungen und dem Neuen nicht lange, Hans verschwand ins Konventszimmer, legte in die Hand des ersten Chargierten das Versprechen ab, jetzt ein braver Bursche und einst dem Vaterland ein tüchtiger Bürger zu sein, und kehrte wieder, die Brust geschmückt mit dem Burschenbande.

So weit haben wir den Helden unserer Geschichte glücklich geführt. Nachdem wir nun sicher sind, dass sämtliche Pensionsdamen mit uns die gleiche Ansicht haben: Dieses Odenwälder Milchkälbchen werde sich zu einem Salonlöwen erster Güte entwickeln, verlassen wir ihn einstweilen und sehen uns nach seiner Heimat und den Seinen um.

17. Kapitel

Mutter Höhrle war tot. Darüber kann leider kein Zweifel sein. Der Leichenschauer hatte es bestätigt, der Arzt hatte über die betrübende Tatsache einen Schein ausgestellt, und außerdem hatte man sie in Wirklichkeit auch soeben begraben. Wann sie etwa gestorben ist? Ein Jahr ungefähr, nachdem Hans die Universität bezogen hatte. Was ihr wohl gefehlt haben mochte? Darüber war die Trauerversammlung, die soeben den Kirchhof verließ, nicht ganz einig.

Röse Ricke sagte: »Sie starb am ›Chronisch‹«, und sie konnte sich auf die Autorität des Arztes stützen, der in der Tat gesagt hatte, ihr Leiden wäre chronisch.

Onkel Schütteldich behauptete: »Sie ist an Groß und Moos gestorben. Der Ärger packt den Menschen mit zwei Krallen an der Kehle und würgt ihn, bis er tot ist.« Auch er berief sich auf den Arzt und die geheimnisvollen Zeichen, die dieser auf dem Leichenscheine hinter dem Vordruck: Todesursache, gemacht hatte.

Da es nämlich Niemandem gelungen war, das Wort oder gar dessen Sinn zu enträtseln, so interpretierte jedermann hinein, was ihm persönlich passte und fügte bei: »der Doktor ist derselben Ansicht. Er hat es nur nicht sagen wollen, und für solche Fälle, wo die Leute nicht hinter ihre Schliche kommen sollen, haben Juden, Pfarrer, Apotheker und Ärzte ihre geheime Sprache.«

Superkluge machten für den Tod der Frau Höhrle sogar den Hans verantwortlich und seine Flucht vor der Kutte.

Vier Wochen war sie bettlägerig, das wusste man, und dass der Tod sie von vielen Schmerzen erlöste, das wusste man auch. Dass er ihr aber manche trübe Erfahrung, die ihr die Zukunft noch bringen musste, ersparte, darüber redeten die Leute, die eben den Gottesacker verlassen hatten, und krochen mit geheimnisvollem Tuscheln paarweise unter die Regenschirme, denn es ging ein feiner kalter Staubregen nieder.

»Dir wüsst’ ich ein Paar billige Gäule,« raunte Mordche Rimbach dem Bauer Kaspar Rauschkolb zu, in dessen Ellenbogen er seine mageren Finger eingekrallt hatte.

»Ich dir einen sehr preiswerten Landauer,« entgegnete dieser, »so schlagen wir das Makelgeld quitt.«

Die beiden sahen sich grinsend an und sagten gleichzeitig: »Dass die Pferde heute noch einmal die Müllerin gefahren haben, war so ziemlich ihre letzte Arbeit im Hause Höhrle.«

Beide stutzten, hielten ein wenig an, nickten einander verständnisinnig zu und sagten: »Ein und derselbe Gedanke, also haben wir eine Pfaffenköchin erlöst.« Sie zogen den Regenschirm wie eine Haube dicht über die Köpfe und lachten so, dass wohl einer vom anderen, keiner aber von einem seiner Nachbarn gehört werden konnte.

»Ich denke, die Pferde sind dein,« setzte nach einer kleinen Pause Mordche Rimbach die Unterhaltung fort.

»Bezahlt sind sie schon,« sagte Kaspar Rauschkolb, »und der Wagen auch, ich habe gutgesprochen. Wenn ich ein wenig ziehe, so wackelt die Mühle. Bin ich nicht ein starker Mann, Mordche?«

»Gewiss, du bist so stark wie Simson, aus dem Stamme Dan, aber Groß und Moos sind vom Stamme Nimm und haben Geld und lassen nichts liegen, was sie kriegen können.«

»Dann sei Gott dem Vater Höhrle gnädig,« schäumte Rauschkolb zwischen den Zähnen hervor, »wenn die Bande die Pferde bekommt, so breche ich ihm das Genick.«

Während dieses erbaulichen Gespräches waren sie der Kirche nahe gekommen. Mordche Rimbach bog vor dem Weihwasserkessel rechts ab. Rauschkolb aber bekreuzte sich fromm, trat ein und folgte der Seelenmesse des Priesters in seinem Gebetbuche Zug um Zug, selbst dann noch, als Letzterer vor dem Katafalk für die Seelenruhe der Heimgegangenen ein Vaterunser betete und ein »Gegrüßet seist du, Maria,« drein gab, damit der Himmel den Hinterbliebenen Trost und Stütze sei, ohne freilich seinen Vorsatz zu ändern, dem Vater Höhrle das Genick zu brechen, wenn er die Pferde an einen anderen verkaufen sollte, als an ihn.

Der Pfarrer teilte das Weihwasser aus, und die Messbuben verlöschten die Kerzen am Altare und um den Katafalk. Nun nahm alles einen kalten leblosen Charakter an, die hölzernen Heiligen zur Seite des Tabernakels und erst recht das schwarze Bahrtuch mit seinem weißen Kreuz, das über ein sargförmiges Holzgerüste gebreitet war. Die Leute erhoben sich eilig, wischten mit den Händen den Staub von den Knien und suchten so schnell wie möglich ins Freie zu kommen.

Niemand beschäftigt sich mit den Toten länger, als er muss. Jeder, der aus Grüften emporsteigt, freut sich der wiedergeschenkten Sonne und feiert das Fest seiner eigenen Auferstehung. So wird der Leichenschmaus ein Ostermahl, und jeder, der ihn mitmacht, denkt: »So eine Dummheit, wie das Sterben, kann doch nur den anderen passieren,« und er hat recht, seither war’s ja auch so. Daher die Ausgelassenheit bei derartig traurigen Veranlassungen.

Auch beim Leichenschmause der Mutter Höhrle ging’s hoch her. Man stieß mit den Gläsern an, trank einander zu und erzählte sich die drolligsten Sachen. Kaspar Rauschkolb war besonders guter Laune. Er zog den Meister Backtrog auf, dass er heute die Spitzweck größer gemacht habe, als man dies sonst von ihm gewöhnt sei. Der aber war nicht verlegen und antwortete, dass er seine Ware dem Bedarf anpasse und dass er vorausgesehen habe, es würden heute viel’ Großmäuler zusammenkommen. Dieser Witz machte von Tisch zu Tisch die Runde und erhielt die naive Gesellschaft im Lachen bis tief in die Nacht hinein.

Auch Agnes war gekommen in schlichtem Trauerkleid. Sie nahte sich dem Tische der Familie Höhrle mit ihrem Weinglase in der Hand und stieß schweigend mit jedem an, auch mit dem Geliebten. Ihr Auge war matt und verriet durch nichts die Glut, die in ihr loderte. Ein Gefühl der Schicklichkeit regelte jeden Zug ihres schönen Gesichts, so dass sie fast kalt erschien, wie eine antike Statue.

Indessen hatte man die Lichter angezündet, denn die Nacht senkte ihren schwarzen Baumwollschleier nieder und füllte alle Wege mit einem dunklen Einerlei. Von den Scheiben nieder bahnten sich Wassertropfen eine gewundene Straße, stürzten über die Verbleiung nieder und breiteten einen feinen Sprühregen über ihre nächste Umgebung aus. Ein Teil des kalten Nasses war Liese in den Nacken gesprungen. Sie fuhr erschrocken auf und sah hinter sich. Aus jeder Scheibe glotzte ihr das Spiegelbild der Lampe entgegen. Daneben war alles schwarz. Was jenseits der Mauer lag, war stoffgewordene Finsternis, in der das Grauen wohnte und fröstelnde Kälte. Liese dachte an den Heimweg und wurde unruhig. Vater Höhrle und die übrigen fühlten, was sie wollte, und erhoben sich mit einem Schlage. Niemand suchte sie aufzuhalten. Gedrückt schritten sie zwischen den Tischen hin, dankten dem und jenem für die Ehre, die er der Verstorbenen erwiesen, und waren bald aus dem Lichtbereich im Dunkel der Straße. Sie sahen einander nicht, nur im Gehen suchte eines das andere zu berühren, um sich von seiner Gegenwart zu vergewissern. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind spielte auf einer Orgel voll schauervoller Register. Bald brüllte er wie wilde Bestien hinter Eisengittern, bald wimmerte er wie ein ganzes Findelhaus voller Säuglinge. Auch stieß der Freche unsere vier Wanderer von hinten, dass sie schneller ausschreiten mussten, um nicht aufs Gesicht zu fallen, griff mit seinen kalten Fingern unter ihre Kleider, dass sie schauernd zusammenschreckten und sich aneinander drängten wie frierende Gemsen. So schritten sie fürbass, mit den Blicken die Erde suchend, ohne dass jedoch eines von ihnen in der Lage gewesen wäre, die Stelle zu sehen, wo sein Fuß hintrat. Und das war noch so sonderbar. Während am Boden die Finsternis dick und undurchdringlich lag wie ein faulender Sumpf, lichtete sie sich in den höheren Schichten. Man sah den Zug der vom Winde gehetzten Wolken, sah, wie der Ungestüme die säumigen mit rohen Fingern würgte, so dass sie aus langen dürren Hälsen geängstigte Gesichter streckten und vorwärts eilten einem hellen Punkte zu, der wie ein feuriger Schmetterling über dem unteren Tale sich unruhig wiegte.

Auch Vater Höhrle sah den Schmetterling und kannte ihn wohl. Er wusste, dass es der Widerschein war aus der glühenden Esse der Dampfmühle, und für ihn hatte er alle Schrecken eines Fabeltieres, wie es nur je die Phantasie eines wahnsinnkranken Dichterhirns geboren hat. Und nun eilte er mit seinen Kindern ihm auch noch entgegen, und der Wind hinter ihnen stieß und drängte sie, als ob er sie in die flimmernde Lohe hineinstürzen wollte, wie in einen glühenden Feuerofen.

Alle vier spannen sie an dem Rocken eines einzigen Gedankens, den die Straße geboren hatte. War es doch die gleiche, aus der die Mutter heute ihre letzte Wallfahrt zum Grabe vollbracht, die gleiche, aus der die Kinder vor so und so viel Jahren den übermütigen Eselritt gemacht hatten. Vater Höhrle dachte daran und auch die anderen. Jawohl die Mutter, ein wenig anders, als sie war, hätte sie schon sein dürfen. Gewiss, sie hat es nicht schlecht gemeint. Keiner von den vieren zweifelte daran, aber ihr mangelte die Einsicht und die Demut, sich dem besseren Urteil zu unterwerfen. Sie war mit daran schuld, dass die Dinge jetzt so schlecht standen.

 

Das war ein Vorwurf über dem frischen Grabe der Gattin und Mutter. Die nächtlichen Wanderer fühlten, dass der Gedanke pietätlos war, aber sie konnten ihn nicht los werden, und schuldbewusst wie sie waren, fuhren sie heftig zusammen, als plötzlich vom Boden her zwei glühende Punkte ihnen drohend entgegenleuchteten.

Es waren die feurigen Lichter eines Fuchses, der mit leichtem Geknurr seinen Weg über die Straße nahm aus dem Gebüsch ins Gebüsch. Da drunten im Wiesentale hin, da standen Häuser den Bach entlang, arme kleine Tagelöhnerhäuser, die man nicht sah, weil ihre Bewohner das Licht sparten, Häuser, in denen man sich nur einmal im Jahre so recht satt aß, wenn man das Schwein schlachtete, das von der Milch der Kuh fett geworden war, für die hinwieder alle Hausgenossen in Stunden, dem Tagewerk abgespart, das Futter suchten.

In diese Gesellschaft Rechtschaffener strebte wohl der verschlagene Halunke, lenkte die Gedanken des Vater Höhrle von der Toten ab und zog sie an seiner buschigen Rute hinter sich nach.

›Was wird der Dieb heute speisen? Sicher, er ist das Fleisch der Mäuse müde und möchte junge Hühner essen. Wird er den Weg über den Bach finden?‹ – Das Wasser rauschte wild in seinem Bette, und man hörte, wie es Steine mit sich fortrollte. – ›Wird dem Dieb der Sprung von einem Ufer zum anderen gelingen? O, ja das Schlechte gelingt ja fast immer, das Gute so selten! Dann wird er suchen, ob irgendeine Nachlässigkeit ihm den Zutritt zum Stall erleichtert, und er wird plötzlich unter dem Volk der Hühner stehen. Wird der Hahn nun krähen? O, nein, er, der sonst unnötigerweise das ganze Tal mit seinem Geschrei erfüllt, er wird nicht einmal flatschern. Feig wird das Großmaul auf die höchste Stange flüchten und froh sein, wenn der Tod an ihm vorübergeht und andere mitnimmt. Niemand im Hause wird hören, was draußen vorgeht. Erst am nächsten Morgen wird es Geschrei geben, wenn nichts mehr zu ändern ist. Die Mutter wird ins Zimmer springen und die Hände ringen, ach, all die lieben Küchlein mitsamt der Henne!‹

Der Vater wird zornig lospoltern: »O, ihr Lumpenpack, euch hab’ ich zum Fressen wie die Mäuse, nicht einmal den Hühnerstall können sie mit Sorgfalt schließen. So nun heißt es: Kein Fleisch und keine Eier. Iß deine Kartoffel trocken, oder schwenke sie mit Wasser hinunter.« Und er wird zur Schublade gehen, sein Brot ins Sacktuch binden und zornig und missvergnügt nach seiner Arbeitsstelle schreiten. Die Mutter wird sich Vorwürfe machen, dass sie das Unglück nicht lieber verheimlicht hat, und Mutter und Kinder werden froh sein, dass der zornige Vater endlich aus dem Hause ist.

Und doch hat der Fuchs nur getan, was das Naturgebot ihm vorschreibt und wozu ihn der Hunger trieb. Als Gott die Welt und alle Wesen fertig hatte, da sagte er zu ihnen: »So, nun geht hin und fresst einander auf. Satt wird, wer die besten Zähne hat.« Ein anderer Sinn ist aus dem Weltgetriebe nicht herauszulesen. Der fromme Vater Höhrle erschrak über diese gotteslästerliche Erwägung, die vielleicht nicht einmal ganz auf seinem Geistesacker gewachsen war. Seine Gedankenkost hatte er vordem immer aus dem katholischen Sonntagsblatt bezogen, wo Schulze und Müller jedes Thema beinah witzig behandelten unter einem Kreuze mit der Aufschrift: »In diesem Zeichen wirst du siegen.« Ja, hat er nun mit seinem frommen Denken und seiner Rechtschaffenheit gesiegt? Ach, nein, auf der ganzen Linie war er geschlagen.

So hatte er in der letzten Zeit zuweilen auch in andere Blätter geguckt und eingesehen, dass die Weisheit von Müller und Schulze mit einem Dreier die Nummer zu teuer erkauft war. Er fing selber an zu denken. Wenn der Fuchs Hühner stiehlt, so übt er nur sein Jagdrecht aus, er kann vom Gras nicht leben. Vorm Menschen ist ja gar nichts sicher, nicht der Vogel in der Luft, nicht der Fisch im Wasser, nicht die Schnecke, die am Boden kriecht, und der Nebenmensch erst recht nicht. Und dabei kann er nicht einmal sagen, dass die Not ihn vorwärts stößt. Da sind Groß und Moos, die da unten, die den Stempel ihrer Habsucht frech an den Himmel drücken, sie haben zum Leben mehr als zu viel, und doch drängen sie ihn aus seiner Mühle. Er weiß es wohl, es wird der Tag kommen, wo er, seine Kinder an der Hand, aus der Türe schreiten wird, über die seine Vorfahren den Spruch gemeißelt haben:

 
»Wer andrer Gut schätzt wie das seine,
Erfüllt von zehn Geboten neune.«
 

Er, ja er hatte nach dem Spruch gehandelt. Er hatte gelebt und hatte leben lassen, aber was half es ihm, wenn Groß und Moos anders dachten. Wenn sie das Mehl zehnpfundweise in kleine Säckchen packten, die man nur aufzuschneiden brauchte, um ein leinenes Hosenbein zu besitzen. Was sollte aber einer mit einem Hosenbein beginnen? Also er kaufte zwei Säckchen Mehl und hatte eine Hose. Konnte Vater Höhrle dies nachmachen? Ach, nein, er war zu ungeschickt, er kannte keine Bezugsquellen, er war zu ehrlich, um den Wert der Verpackung an der Ware herauszuschinden. Wären die Verhältnisse geblieben, wie sie vordem waren, Vater Höhrle wäre wohlhabend, wie er ins Leben hineintrat, auch aus dem Leben hinausgegangen, aber unter der Herrschaft eines grenzenlosen Kapitalegoismus musste er ersticken, wie die Buche im Föhrenwald.

Wie pfiff doch der kalte Nachtwind dem Müller so eisig um Nacken und Ohren. Er fühlte, dass ihm die Luft ausgehe. Der Sturm, der von hinten an ihm schob, als ob er ihn einem Abgrund zutreiben wolle, blies ihm den Atem vorm Munde hinweg. Er eilte ihm nach, schnappte nach ihm und kam in einen kleinen Hundetrab.

»Vater,« sagte Hans, »nur nicht so eilig, die Mädchen können nicht mit.«

Ach, ja, die Kinder, dachte Höhrle, aus seinem schweren Traum aufgerüttelt, wenn nur die wenigstens nicht nachmüssten in die Armut hinein! Wenn es nur für die eine starke Wurzel gäbe, an der sie sich halten könnten über dem Abgrund des finsteren Schicksalbrunnens. Vater Höhrle sann ein wenig, und wie er sann, so öffnete ein freundlicher Gedanke die Türe zur Folterkammer seiner finsteren Selbstquälereien, setzte sich neben die Schreckgestalten, und bald wurde es etwas Licht um den Alten, und alles Hässliche überzog ein rosiger, freundlicher Schimmer.

Vater Höhrle hatte heute aus der Westentasche seines Sohnes ein breites mit Silber beschlagenes Band heraushängen sehen. Das war etwas Besonderes, das hatte nicht jedermann. Er erinnerte sich, ein Gleiches einmal gesehen zu haben an Christoph Arnold, und dann dauerte es nicht lange mehr, und er war Staatsanwalt in Darmstadt. Ach, ja, das war nun was. Ein paar Jahre noch, dann konnte Hans ein Arzt sein, viel gesucht und viel beschäftigt, und Liese und Suse waren bei ihm und er selber auch. Und er konnte so ein wenig nach des Doktors Pferden sehen und sich so das Altenteil verdienen. Dieser letztere Gedanke machte ihn sehr glücklich. Großes hatte er im Leben nicht zu vollbringen vermocht, im Kleinen aber wollte er treu und redlich sein. Ja, wenn man ihm nur Zeit ließe, vielleicht könnte man die Pferde, die jetzt noch in der Mühle standen, für den Hans erhalten. Zur Arbeit waren sie nicht recht geeignet, dazu waren sie zu leicht. Aber so vor einem Wagen springen und schnell irgendwohin und wieder zurück, ja, das konnten sie. Damit lohnte sich der Hafer, den sie fraßen, und sie konnten dem richtigen Herrn noch Geld verdienen helfen. Bei diesem entzückenden Gedanken wurde es dem armen Grübler wieder warm in seiner Haut, und er fror nicht mehr, obwohl der Wind feuchte, nasskalte Schauer durch das fadenscheinige Gewebe seines Hochzeits- und Leichenrockes blies. Aber dem Hans wollte er etwas näher rücken, er tat deshalb langsam, berührte wie zufällig im Gehen die Hand seines Sohnes und schritt dann vor der kraftvollen Gestalt einher, stolz fast, wie ein Hund vor einem Pferde schreitet.

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