Schuldrecht Allgemeiner Teil II

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From the series: JURIQ Erfolgstraining
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I. Gesetzliche Bestimmung

1. Gesetzliche Ersatzpflichten ohne Vertretenmüssen im Tatbestand

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Bitte lesen Sie die nachfolgenden Tatbestände parallel im Gesetz mit.

Verschiedene Tatbestände begründen eine Ersatzpflicht, ohne dass es tatbestandlich auf ein „Vertretenmüssen“ der zum Ersatz verpflichteten Person ankommt. In diesen Fällen spielt die Frage des Verschuldens keine Rolle.

Beispiel 1

Schadensersatzhaftung wegen Nichtigkeit einer Willenserklärung nach § 122;

Beispiel 2

Schadensersatzhaftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht nach § 179;

Beispiel 3

Schadensersatzhaftung des Vermieters wegen anfänglicher Mängel des Mietobjekts aus § 536a Abs. 1 Var. 1;

Beispiel 4

Deliktische Gefährdungshaftung wegen Gefährlichkeit eines Gegenstandes aus § 833 S. 1 BGB, § 7 Abs. 1 StVG, §§ 1, 2 HaftpflG sowie aus § 1 ProdHaftG;

Beispiel 5

Entschädigungspflichten aus §§ 904 S. 2, 906 Abs. 2 S. 2.

2. Zufallshaftung nach § 287 S. 2

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Für das Thema dieses Skripts, nämlich die Pflichtverletzung im Rahmen von Schuldverhältnissen, spielt ein anderer Tatbestand eine ganz wichtige Rolle: § 287.

Gem. § 287 S. 2 hat der Schuldner während des Verzuges „wegen der Leistung“ auch „Zufall“ zu vertreten, sofern der Verzug für den Schadenseintritt kausal gewesen ist. Unter dem Begriff „Zufall“ ist ein ohne Verschulden des Schuldners eingetretenes Leistungshindernis i.S.d. § 275 zu verstehen, insbesondere Unmöglichkeit durch höhere Gewalt.[1]

Hinweis

Für die Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer Rücksichtspflicht i.S.v. § 241 Abs. 2 gilt die Haftungsverschärfung des § 287 S. 2 nicht!

Beispiel

Antiquitätenhändler V verkauft dem K eine antike Standuhr, die V dem K am nächsten Tag liefern soll. V organisiert den Transport aber nicht rechtzeitig, so dass die Lieferung am nächsten Tag ausbleibt. In der darauffolgenden Nacht brechen Diebe in die – ordnungsgemäß gesicherten – Geschäftsräume des V ein und nehmen unter anderem die Uhr mit. Die Diebe verschwinden spurlos. Schadensersatzansprüche statt der Leistung aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 scheitern hier an der fehlenden Fristsetzung. Sie ergeben sich jedoch aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283, da der V sein mit dem Diebstahl verbundenes Unvermögen i.S.d. § 275 Abs. 1 zur Leistung nach § 287 S. 2 auch ohne Verschulden zu vertreten hat. Er befand sich nach §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 286 Abs. 4 mit seiner Leistung in Schuldnerverzug und kann sich auch nicht auf die Ausnahme des 287 S. 2 Hs. 2 berufen. Hätte er zum vereinbarten Fälligkeitstermin geliefert, hätte die Uhr nicht mehr Teil der Diebesbeute sein können.

2. Teil Vertretenmüssen › B. Vertretenmüssen ohne Verschulden › II. Geldmangel

II. Geldmangel

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Auch ohne ausdrückliche Regelung ist allgemein anerkannt, dass für die Erfüllung von Geldsummenschulden stets verschuldensunabhängig gehaftet wird und auch bei sonstigen Schulden der Einwand fehlender Finanzkraft unbeachtlich ist.[2]

Beispiel 1

M schuldet seinem Vermieter V die monatlich im Voraus zu zahlende Miete für drei Monate. Hier tritt Verzug nach § 286 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 auch dann ein, wenn M aufgrund Insolvenz seines Arbeitgebers unverschuldet arbeitslos geworden ist und deshalb über keine ausreichenden Finanzmittel mehr verfügt.

Beispiel 2

A verpflichtet sich gegenüber dem B, auf dessen Grundstück ein Haus zu errichten. A gehen jedoch die finanziellen Mittel aus, so dass er nicht in der Lage ist, sich die nötigen Baustoffe zu beschaffen. Hier tritt Verzug mit der Werkherstellung auch dann ein, wenn A seine Liquiditätsprobleme nicht verschuldet hat (etwa weil seine sonstigen Kunden ihre fälligen Rechnungen alle nicht bezahlen).

2. Teil Vertretenmüssen › B. Vertretenmüssen ohne Verschulden › III. Vertragliche Übernahme

III. Vertragliche Übernahme

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Aus dem Prinzip der Privatautonomie folgt, dass jeder Schuldner sich vertraglich zur Übernahme einer verschuldensunabhängigen Haftung verpflichten kann, so dass dann aufgrund der vertraglichen Regelung eine „strengere“ Haftung bestimmt ist. Dazu wird sich ein Schuldner allerdings selten freiwillig hinreißen lassen.

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Viel häufiger kommt es vor, dass eine solche Haftungsverschärfung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Vertragspartners enthalten ist.

Beispiel

Die Klausel „Der Mieter haftet für alle Schäden am Mietobjekt, die durch ihn verursacht wurden.“ stellt allein auf die Verursachung im Sinne einer Kausalität ab – zumindest ist ein solches Verständnis nach § 305c Abs. 2 zugrunde zu legen. Der Mieter eines Pkw würde nach dieser Klausel auch dann auf Schadensersatz haften, wenn er beim Fahren des Pkw schuldlos in einen Auffahrunfall verwickelt wird.

Da eine solche Bestimmung vom wesentlichen Grundgedanken des § 276 Abs. 1 abweicht, nach dem der Schuldner grundsätzlich nur Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat, stellt eine solche Klausel regelmäßig eine unangemessene Benachteiligung gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 dar.[3] Für die Verwendung der Klausel gegenüber einem Verbraucher gilt dies ausnahmslos. Bei Verwendung gegenüber einem Unternehmer gilt dies im Prinzip ebenfalls, wobei hier Ausnahmen aufgrund besonders günstiger, die strenge Haftung ausgleichender Gesamtkonditionen in Betracht kommen.[4]

2. Teil Vertretenmüssen › B. Vertretenmüssen ohne Verschulden › IV. „Sonstiger Inhalt des Schuldverhältnisses“

IV. „Sonstiger Inhalt des Schuldverhältnisses“

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Schließlich kann sich nach § 276 Abs. 1 S. 1 eine verschuldensunabhängige Haftung auch aus dem „sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses“ ergeben. Beispielhaft nennt die Vorschrift die Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos.

1. Garantieübernahme

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Bei der Garantie macht der Schuldner deutlich, in besonderer Weise für einen bestimmten Erfolg „mit seinem Namen“ einstehen zu wollen. In diesem Zusammenhang kommen insbesondere Eigenschaftszusicherungen in Betracht, bei denen ein Vertragspartner, z.B. der Verkäufer, für bestimmte Vorzüge des Leistungsgegenstandes wirbt.[5]


Eine Zusicherung im Sinn einer Garantie liegt vor, wenn der Verkäufer vertraglich die Gewähr für das Vorhandensein einer Beschaffenheit übernimmt und dabei seine Bereitschaft zu erkennen gibt, für alle Folgen des Fehlens dieser Beschaffenheit uneingeschränkt einstehen zu wollen.[6]

 

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Eine besondere Form sieht das Gesetz für die Garantieübernahme als solche nicht vor.

Beispiel

V verkauft dem K einen gebrauchten Pkw und teilt dem K mit, der Wagen habe „keine Unfallschäden“.

Die Frage, ob die Angabe „keine Unfallschäden“ lediglich als Beschaffenheitsangabe (§ 434 Abs. 1 S. 1) oder aber als Beschaffenheitsgarantie i.S.d. § 443 Abs. 1 zu werten ist, ist durch Auslegung nach §§ 133, 157 zu entscheiden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass an eine Garantie einschneidende Rechtsfolgen geknüpft sind, wie sich aus der Haftungsverschärfung nach den Regeln der §§ 276 Abs. 1, 442 Abs. 1 S. 2 Var. 2, 444 Hs. 2 Var. 2 ergibt.

Handelt es sich bei dem Verkäufer um einen Gebrauchtwagenhändler, so ist die Interessenlage typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass der Käufer sich auf die besondere, ihm in aller Regel fehlende, Erfahrung und Sachkunde des Händlers verlässt. Er wird daher zumindest bei Angaben auf seine ausdrückliche Nachfrage erkennbar darauf vertrauen, dass der Händler sich für seine Angaben zur Beschaffenheit des Fahrzeuges „stark macht", diese mithin „garantiert“.[7] Anders liegt es dann, wenn der Händler für die von ihm angegebenen Beschaffenheiten eine hinreichend deutliche Einschränkung zum Ausdruck bringt, indem er etwa darauf hinweist, dass er die Angaben nicht überprüft hat[8] (z.B. „laut Vorbesitzer keine Unfällschäden“[9]).

Auf den Kauf direkt vom Privatmann trifft die für den gewerblichen Verkauf maßgebliche Erwägung, dass der Käufer sich in der Regel auf die besondere Erfahrung und Sachkunde des Händlers verlässt und in dessen Erklärungen daher die konkludente Übernahme einer Garantie sieht, nicht zu.[10] Insbesondere bei Angaben über technische Beschaffenheiten kann der Käufer beim Privatverkauf eines Gebrauchtfahrzeugs nicht davon ausgehen, der Verkäufer wolle für die Richtigkeit dieser Angabe unter allen Umständen einstehen und gegebenenfalls auch ohne Verschulden auf Schadensersatz haften. Will der Käufer beim Gebrauchtwagenkauf unter Privatpersonen eine Garantie für Beschaffenheiten (z.B. Laufleistung, Unfallfreiheit) des Fahrzeugs haben, muss er sich diese regelmäßig ausdrücklich von dem Verkäufer geben lassen.[11] Von einer stillschweigenden Garantieübernahme kann beim Privatverkauf eines Gebrauchtfahrzeugs daher nur ausnahmsweise bei besonderen Umständen ausgegangen werden.

2. Übernahme eines Beschaffungsrisikos

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Ferner kann es sein, dass ein Vertragspartner im Vertrag ein besonderes Beschaffungsrisiko übernommen hat.

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Regelmäßig ist mit der Vereinbarung einer Gattungsschuld, die nicht auf einen bestimmten Vorrat beschränkt wird, aus Sicht des Käufers zugleich die Übernahme des Risikos für die typischen Beschaffungshindernisse verbunden.[12] Schließlich erklärt der Lieferant mit dem Versprechen einer solchen Leistung konkludent, er könne die Ware beschaffen. Dies gilt umso mehr, wenn der Lieferant zugleich Hersteller der Ware ist. Wenn der Verkäufer das Beschaffungsrisiko nicht übernehmen will, muss er dies zum Ausdruck bringen. Dem dient die häufig verwendete Klausel „Selbstbelieferung vorbehalten“.

Hinweis

Nach überwiegender Ansicht bezieht sich dieses Beschaffungsrisiko nur auf das Risiko, die Leistung überhaupt und rechtzeitig erfüllen zu können. Für das Risiko einer Schlechtleistung ist hingegen nur bei einer zusätzlichen Beschaffenheitsgarantie verschuldensunabhängig einzustehen.[13]

Beispiel 1

Händler H importiert Ware aus Fernost. Am 1.3. verkauft er dem Einzelhändler K 5000 Fußbälle, die am 1.6. ausgeliefert werden sollen. Nun erfährt der H, dass sein chinesischer Lieferant die Produktion der Fußbälle eingestellt hat und er sich um einen neuen Lieferanten bemühen muss. Er wird erst am 30.4. mit einem anderen Lieferanten handelseinig, so dass sich der Auslieferungstermin um 1 Monat verschiebt. Die Leistungsverzögerung hat H zu vertreten, da er das Beschaffungsrisiko übernommen hat und Ausfälle einzelner Lieferanten zum typischen Risiko einer marktbezogenen Gattungsschuld gehören.

Beispiel 2

Anders läge es, wenn sich erst nach Vertragsschluss herausstellt, dass die Ausstattung der verkauften Fußbälle inländische Schutzrechte Dritter verletzt und die Fußbälle deshalb weder importiert noch in Deutschland weiter vertrieben werden dürfen.[14] Denn schließlich gehört die fehlende Vertriebsmöglichkeit der Fußbälle nicht zum Beschaffungsrisiko, sondern zum Risiko der Rechtsmängelfreiheit, die H nicht garantiert hat. Die Fußbälle hätten auch bei rechtzeitiger Beschaffung nicht vertrieben werden dürfen. Hier haftet H nur bei schuldhafter Unkenntnis.

Anmerkungen

[1]

Knütel NJW 1993, 900 f.

[2]

BGH in BGHZ 107, 92, 102 unter Ziff. II 1d = NJW 1989, 1276, 1278; Palandt-Grüneberg § 276 Rn. 28.

[3]

BGH NJW 1992, 3158, 3161 unter Ziff. VIII 2.

[4]

BGH NJW 1992, 3158, 3161 unter Ziff. VIII 2.

[5]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[6]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[7]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[8]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[9]

Bei der Angabe „Unfallschäden laut Vorbesitzer: keine“ handelt es sich um eine reine Wissensauskunft und noch nicht einmal um eine Beschaffenheitsvereinbarung, BGH Urteil vom 12. März 2008 (Az. VIII ZR 253/05) unter Tz. 12 = NJW 2008, 1517.

[10]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[11]

BGH Urteil vom 29. November 2006 (Az. VIII ZR 92/06) unter Ziff. II 1d = BGHZ 170, 86 = NJW 2007, 1346.

[12]

Palandt-Grüneberg § 276 Rn. 30.

[13]

Palandt-Grüneberg § 276 Rn. 32.

[14]

Vgl. §§ 17, 97, 98 UrhG, §§ 2, 38 GeschmMG, §§ 3, 14, 15 MarkenG.

2. Teil Vertretenmüssen › C. Vertretenmüssen wegen Verschuldens des Schuldners

C. Vertretenmüssen wegen Verschuldens des Schuldners

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Nach § 276 hat der Schuldner grundsätzlich eigenes vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten zu vertreten, wenn er nach §§ 276 Abs. 1 S. 2, 827, 828 verschuldensfähig ist.

2. Teil Vertretenmüssen › C. Vertretenmüssen wegen Verschuldens des Schuldners › I. Vorsatz

I. Vorsatz

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Der Vorsatz umfasst nach herkömmlichem Verständnis ein Wissens- und Wollenselement in Bezug auf den pflichtwidrigen Erfolg. Im Rahmen des § 280 ist dies die haftungsbegründende Pflichtverletzung. Wie im Strafrecht genügt auch im Zivilrecht bedingter Vorsatz.


„Vorsatz“ meint Wissen und Wollen des pflichtwidrigen Erfolges, wobei es genügt, dass der Handelnde den als möglich erkannten pflichtwidrigen Erfolg billigend in Kauf nimmt.[1]

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Wegen seines Bezuges zum pflichtwidrigen Erfolg setzt der Vorsatz im Zivilrecht grundsätzlich auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit voraus (sog. Vorsatztheorie).[2] Jeder Irrtum über tatsächliche Umstände oder die Pflichtwidrigkeit schließt den Vorsatz aus.[3] Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Rechtsirrtum vermeidbar war – das ist vielmehr eine Frage des Fahrlässigkeitsvorwurfes.[4]

Beispiel

Fa. V mit Sitz in Hamburg verkauft dem K eine Hochseesegelyacht für den Einsatz an der Nordsee in Holland. 2 Monate nach Übergabe stellt sich ein produktionsbedingter Mangel heraus. K verlangt von V Nacherfüllung durch Reparatur in Amsterdam, dem derzeitigen Standort der Yacht. V erklärt sich dazu bereit, wenn K die Yacht zu ihm nach Hamburg transportieren lasse. K meint, dies sei Sache des V und mahnt die sofortige Reparatur an.

V kann sich mit seiner Pflicht zur Nacherfüllung aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 nur dann in Verzug befinden, wenn er die Nichtleistung trotz Mahnung zu vertreten hat, § 286 Abs. 4. Ein vorsätzliches Verschulden scheidet hier aus, da V davon ausging, die Nacherfüllung nur an seinem Sitz vornehmen zu müssen. Ob V die Rechtslage richtig beurteilt hat, richtet sich nach § 269. Danach wäre die Reparatur nur dann in Hamburg durchzuführen, wenn sich aus den Umständen nichts anderes ergibt. Hier ergeben die besonderen Umstände, dass die Yacht für den Hochseeeinsatz bestimmt war. Somit war der Leistungsort für die Nacherfüllung dort angesiedelt ist, wo sich die Sache nach ihrem vertraglich vorausgesetzten – sonst gewöhnlichen – Gebrauch befindet – hier also der Liegeplatz der Yacht.[5]

V befand sich daher in einem Rechtsirrtum. Es kommt daher allenfalls ein Verschulden in Form der Fahrlässigkeit in Betracht.[6]

Anmerkung: Anders hat der BGH mit Urteil vom 19.12.2012 entschieden.[7] In dem Fall wohnten beide Parteien in Berlin. Das gekaufte Boot war nicht für den Hochseeeinsatz bestimmt und war nur über den Winter in Usedom untergestellt. Hier hatte der Verkäufer sich zu Recht geweigert, die Reparatur in Usedom auszuführen.

Hinweis

Damit steht der zivilrechtliche Ansatz („Vorsatztheorie“) im Widerspruch zur strafrechtlichen „Schuldtheorie“. Bei einer Haftung aus § 823 Abs. 2 wegen Verletzung eines strafrechtlichen Schutzgesetzes erfordert der Vorsatz aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsordnung ausnahmsweise kein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (sog. „Schuldtheorie“).[8]

 

2. Teil Vertretenmüssen › C. Vertretenmüssen wegen Verschuldens des Schuldners › II. Fahrlässigkeit

II. Fahrlässigkeit

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Den Vorwurf der „Fahrlässigkeit“ konkretisiert § 276 Abs. 2.


Gem. § 276 Abs. 2 handelt fahrlässig, „wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“.

1. Maßstab

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Nach dieser Formulierung ist im Zivilrecht also ein objektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen, so dass es auf individuelle Fähigkeiten und persönlichen Kenntnisse des Schuldners nicht ankommt.[9] Mit dem Abstellen auf die „erforderliche“ Sorgfalt soll klargestellt werden, dass eine im Verkehr übliche „Unsitte“ nicht maßgeblich ist. Der Schuldner hat sein Verhalten so auszurichten, wie es nach dem Urteil besonnener und gewissenhafter Angehöriger desselben Verkehrskreises erforderlich ist.[10]

Beispiel[11]

Stationsarzt A steckt in seinen ersten Berufsjahren als Gynäkologe. Bei einer schwierigen Geburt droht dem Säugling akute Sauerstoffnot, so dass A beherzt zupackt und am Kopf des Kindes zieht. Dieser Griff entspricht in dieser Situation aber nicht den ärztlichen Standards. Der Säugling erleidet dadurch schwere Gesundheitsschäden. Hier kann sich A nicht auf seine Anfängerschaft berufen, da er sich als zugelassener Arzt an den medizinischen Standards seiner Fachrichtung messen lassen muss. Im Krankenhaus darf jeder eine ärztliche Behandlung nach allgemeinen Standards erwarten. Die Konsequenz der Rechtsprechung in Fällen wie diesen besteht außerdem darin, dass der Fahrlässigkeitsvorwurf nicht über den Umweg begründet werden muss, der A habe die Geburtshilfe gar nicht erst übernehmen dürfen (sog. „Übernahmeverschulden“).[12] Das ist unnötig, da das Verhalten des A ohnehin nach dem objektiven Maßstab bewertet wird.

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Das Urteil über das verkehrsrichtige Verhalten richtet sich an zwei wesentlichen Kriterien aus: Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des pflichtwidrigen Verhaltens.[13]

Zu fragen ist danach zuerst, ob bei besonnener und umsichtiger Betrachtung eine nahe liegende Möglichkeit des pflichtwidrigen Erfolges bestand. Vorbeugungsmaßnahmen vor jedweder Gefahr können grundsätzlich nicht verlangt werden.[14]

Bei einer in diesem Sinne vorhersehbaren Gefahr der Pflichtverletzung ist der Schuldner gehalten, zur Vermeidung dasjenige zu unternehmen, was aus Sicht eines besonnenen und umsichtigen Angehörigen des betroffenen Verkehrskreises ausreichend und unter Berücksichtigung des Risikoausmaßes noch wirtschaftlich zumutbar ist.[15]

Beispiel

A schuldet dem Rechtsanwalt X Honorar auf Stundenbasis für eine abgeschlossene Beratungstätigkeit. Nach § 8 Abs 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) wird die Vergütung des Anwalts fällig, wenn der Auftrag erledigt oder die Angelegenheit beendet ist. Der in Sozietät mit X verbundene Rechtsanwalt Y kümmert sich um die Akten des X in dessen Urlaubsabwesenheit. Y schickt dem A eine Mahnung wegen des noch offenen Honorars, das nicht näher beziffert wird. Y hatte allerdings übersehen, dass X dem A noch gar keine Rechnung für diese Angelegenheit geschickt hatte.

A gerät durch die Mahnung noch nicht in Verzug, weil ihm das zu zahlende Honorar nicht bekannt ist und er es allein nicht mit zumutbarem Aufwand ausrechnen kann.[16] Schließlich hängt die Höhe vom internen Zeitaufwand des X ab, der dem A nicht vollständig bekannt ist.

Achtung: Klärt A den Y über die fehlende Rechnung nicht auf, begründet dies allerdings eine Verletzung der nach § 241 Abs. 2 geschuldeten Pflicht zur Rücksichtnahme, die ihrerseits eine Haftung aus § 280 Abs. 1 auslösen kann.[17]

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Bei der Schadensersatzhaftung wegen Pflichtverletzung spielt im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung vor allem der Fall eine Rolle, in dem der Schuldner einen Rechtsirrtum geltend macht und sich darauf beruft, ihm sei nicht bewusst gewesen, zur Leistung verpflichtet gewesen zu sein.

Damit schließt der Schuldner zunächst einmal den Vorsatz aus, da dieser ja das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit erfordert. In Betracht kommt daher nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf.

Um zu verhindern, dass jeder Laie seine Haftung bei halbwegs schwieriger Rechtslage unter Berufung auf einen Rechtsirrtum abwehren kann, hat man eine strenge Betrachtung entwickelt: Der umsichtige Schuldner muss die Rechtslage sorgfältig prüfen, bei Unsicherheit Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten.[18] Entschuldigt ist sein eigener Rechtsirrtum nur dann, wenn er nach Einholung von Rechtsrat mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte.[19] Ob der Schuldner sich einen schuldhaften Irrtum seiner anwaltlichen Berater zurechnen lassen muss, werden wir uns unten näher ansehen.

Beispiel[20]

V vermietet dem M im Jahr 2005 eine Wohnung. Die vereinbarte Miete beträgt monatlich 500 €. Darin sind monatliche Vorauszahlungen auf Betriebskosten in Höhe von 150 € enthalten. Den Nebenkostenabrechnungen für die Jahre 2005, 2006 und 2007 fügte der V trotz wiederholter Aufforderung des M keine Rechnungsbelege zu den einzelnen Kostenpositionen bei. Vielmehr bot er dem M an, die Rechnungen bei ihm einzusehen. Daraufhin teilte der M auf Empfehlung seines Rechtsanwalts R, einem Fachanwalt für Mietrecht, dem V mit, die Nebenkostenvorauszahlungen ab Januar 2008 bis zur Übersendung der Belege für die vergangenen Nebenkostenabrechnungen einzubehalten.

Befindet sich M mit der Zahlung dieser Beträge in Verzug?

Der Mietzins ist einschließlich der Nebenkostenvorauszahlungen nach § 556b Abs. 1 spätestens zum dritten Werktag eines Monats im Voraus zur Zahlung fällig. Der Verzugseintritt setzt angesichts dieser gesetzlichen Bestimmung der Fälligkeit nach dem Kalender keine Mahnung voraus, § 286 Abs. 2 Nr. 1. Bei Erreichen dieser Termine steht dem V auch ein durchsetzbarer Anspruch auf die einbehaltenen Beträge zu. Das von M geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht aus § 273 Abs. 1 besteht hier nicht, da dem Mieter grundsätzlich kein Anspruch auf Überlassung der Abrechnungsbelege im Original oder Fotokopie zusteht. Vielmehr ist er nur zur Einsichtnahme in den Räumen des Vermieters berechtigt.[21]

Fraglich ist, ob M den Eintritt der objektiven Verzugsvoraussetzungen auch zu vertreten hat, § 286 Abs. 4. Daran könnte man deshalb zweifeln, weil M bei Zurückhaltung der Vorauszahlungsbeträge davon ausging, berechtigterweise von einem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch zu machen.

Nach § 276 hat der Schuldner eigenen Vorsatz und eigene Fahrlässigkeit zu vertreten. Ein vorsätzliches Verhalten scheidet hier aus, da M irrigerweise keine Pflichtverletzung angenommen hatte und ihm damit das für den Vorsatz erforderliche Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit fehlte. In Betracht kommt damit nur ein fahrlässiges Verhalten. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der umsichtige Schuldner muss die Rechtslage sorgfältig prüfen, bei Unsicherheit Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten. M ist hier den Empfehlungen seines Rechtsanwalts R gefolgt. M durfte auf die Kompetenz des R als Fachanwalt für Mietrecht vertrauen und musste daher davon ausgehen, R habe die Empfehlung in Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung erteilt. Aus diesem Grunde bestand für den M kein Anlass, noch einmal anderweitigen Rechtsrat einzuholen. Ihn trifft an der pflichtwidrigen Nichtleistung folglich kein Verschulden. Fraglich ist aber, ob er sich ein etwaiges Verschulden seines Rechtsanwalts zurechnen lassen muss.

Wir werden an dieses Beispiel nachher[22] wieder anknüpfen!