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Herz und Wissen

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Herz und Wissen
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Capitel I

Das altersmüde neunzehnte Jahrhundert war in die letzten Zwanzig eingetreten.

Gegen zwei Uhr Nachmittags stand Ovid Vere, Mitglied des königlichen Collegiums der Wundärzte, in seinem Londoner Sprechzimmer am Fenster und sah hinaus in den sommerlichen Sonnenschein und auf die stille staubige Straße.

Trotz seiner Jugend hatte er bereits jene Mahnung empfangen, wie sie den Vielbeschäftigten unserer Zeit leider ein guter Bekannter ist – jene Mahnung von der überanstrengten Natur zur Ruhe nach übermäßiger Arbeit. Mit einer vielversprechenden Carriere vor sich, erst einunddreißig Jahr alt, hatte er einen Collegen bitten müssen, seine Praxis zu übernehmen, damit er selbst seinem abgearbeiteten Kopf einige Monate Ruhe verschaffen könnte, und nun beabsichtigte er, sich am folgenden Tage auf der Yacht eines Freundes nach dem mittelländischen Meer einzuschiffen.

Für einen thätigen, mit Herz und Seele an seinem Berufe hängenden Mann ist es aber schwierig, die glückliche Kunst des Müßigseins im Handumdrehen zu erlernen.

Das bloße Aus-dem-Fenster-Sehen und Grübeln über das, was er zunächst thun solle, bewies sich für Ovid’s Geduld als eine zu starke Zumuthung und er setzte sich an seinen Arbeitstisch. Hätte er eine sorgende Gefährtin gehabt, so würde ihn dieselbe daran erinnert haben, daß er und sein Arbeitstisch unter den obwaltenden Verhältnissen nichts mit einander gemein hätten; ihm fehlte aber die Aufsicht einer Gattin und so durchbrach er die sich selbst gesetzten Regeln. Seine ruhelose Hand schloß eine Schublade auf und nahm aus derselben das Manuskript einer medicinischen Arbeit, an der er noch vor seiner Abreise ein Kapitel zu vollenden gedachte.

Bald aber begann ihm sein Kopf zu schwindeln der vorher bei dem bloßen Auf-die-Straße-Sehen ziemlich frei gewesen war. Die letzten Sätze des unvollendeten Kapitels bezogen sich auf etwas, von dem er sich noch nicht selbst durch den Augenschein überzeugt hatte. Er war aber ein geduldiger Mann, der sich zu helfen wußte, und durch eine Erkundigung beim Curator des Collegiums sowie durch Untersuchung eines in den Sammlungen des Collegs befindlichen Präparats konnte er sich die nöthige Bestätigung verschaffen. Da hatte er also ein Motiv zum Ausgehen, schloß das Manuskript wieder ein und machte sich auf den Weg nach Lincoln’s Inn-Fields.

Capitel II

Wohl nicht einer unter zehntausend, wenn er zufällig einem Freunde auf der Straße begegnet, denkt daran, welche Reihenfolge geringfügiger Umstände sie beide zur nämlichen Zeit gerade nach der nämlichen Stelle geführt hat, und deshalb merkt auch nicht der Zehntausendste, daß er bei aller Realität unseres Lebens mitten in der Romantik steht.

Seit dem Augenblicke, da der junge Arzt die Thür hinter sich geschlossen hatte, befand er sich auf dem Wege zu einer künftigen Patientin, die ihm persönlich noch eine Fremde war. Er kam nicht nach dem Collegium und schiffte sich nie auf der Yacht seines Freundes ein und zwar infolge einer Reihe trivialer Umstände, wie sie jedem, der einen Ausgang unternimmt, täglich zustoßen können.

Er hatte eben die nächste Straße erreicht, als ein Wagen an ihn heranfuhr, aus dem das heitere, wohlwollende, von einem buschigen Backenbarte eingerahmte Gesicht eines befreundeten Collegen sah, der ihn in herzlichem Tone fragte, ob er alle Vorbereitungen für seine lange Ferientour vollendet habe. Nachdem Ovid die Frage bejaht hatte, fragte er seinerseits:

»Wie geht es unserm Patienten, Sir Richard?«

»Ganz außer Gefahr»

»Und was sagen die anderen Doctoren jetzt?«

Sir Richard lachte. »Sie sagen, ich hätte Glück gehabt«

»Also sind sie noch nicht überzeugt?«

»Nicht im mindesten. Wer hätte auch je Thoren überzeugt! Doch um auf etwas Anderes zu kommen: ist Ihre Mutter mit Ihren neuen Plänen ausgesöhnt?«

»Das ist schwer zu sagen; sie befindet sich in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung, da das Testament ihres Bruders in Italien gefunden ist und dessen Tochter jeden Augenblick in England ankommen kann.«

»Unverheirathet?« fragte Sir Richard lächelnd.

»Ich weiß nicht.«

»Reich?«

»Glauben Sie, meine Mutter würde so aufgeregt sein, wenn das nicht der Fall wäre?«

»Ah, ja, Ihrer Mutter geht es wie Kent in »König Lear« – sie ist zu alt zum Lernen. Ist sie noch immer so hinter Spitzen her? Ich komme eben von einer früheren Patientin von mir, für die ich ein freundschaftliches Interesse empfinde«, fuhr er fort, eine Karte aus dem Wagenfenster reichend. »Dieselbe zieht sich auf meinen Rath vom Geschäfte zurück und hat mich unter allen Sterblichen gebeten, ihr behilflich zu sein, einige wundervolle »Reste« loszuwerden. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter – das wäre etwas für sie. Noch eins, Ovid; haben Sie es mit der Rückkehr zur Arbeit nicht gar zu eilig; Sie haben Zeit genug. Sehen Sie sich hier meinen weisen Köter an; von dem können Sie lernen müßig und glücklich zu sein.«

Damit verabschiedete er sich. »Wer ist der stattliche junge Mann?« fragte der mit im Wagen sitzende Bekannte des großen Arztes, den dieser, da ihr Weg eine Strecke derselbe war, zum Mitfahren eingeladen hatte.

»Der einzige Sohn eines vor vielen Jahren verstorbenen Verwandten von mir«, entgegnete Sir Richard. »Vergessen Sie diese Begegnung nicht.«

»Warum, wenn ich fragen darf?«

»Er steht noch nicht in der Blüthezeit des Lebens und ist bereits eine ansehnliche Strecke auf dem Wege, einer der vorzüglichsten Männer seiner Zeit zu werden. Von Haus aus vermögend, hat er gearbeitet wie wenige Aerzte, die sich durch ihren Beruf ihr Brod verdienen müssen. Das Geld kommt von seinem verstorbenen Vater; seine Mutter hat sich zum zweiten Male mit einem trägen, harmlosen und einfältigen alten Burschen, Namens Gallilee verheirathet, dessen einzig anziehendes die funfzigtausend Pfund sind, die er zusammen gehandelt hat. Aus dieser Ehe sind zwei kleine.Töchter. Mit einem solchen Stiefvater und einer Mutter, die, unter uns gesagt, ihren mehr als reichlichen Antheil an dem Tand und den Nichtigkeiten dieser Welt nimmt, hält kein Familieneinfluß meinen Freund Ovid ab, sich ganz seinem Berufe zu weihen. Sie werden einwenden, daß er heirathen könne. Nun, wenn er eine gute Frau bekommt, so wird das nur günstig für ihn sein; aber er ist, soweit ich ihn kenne, nicht der Mann danach – sogar ein groß Theil kälter gegen das weibliche Geschlecht als ich, der ich dem Alter nach sein Vater sein könnte. Doch, um wieder auf seine Aussichten zu kommen – Sie hörten, daß er mich nach einem Patienten fragte?«

»Ja.«

»Nun, sehen Sie, bei dem klopfte der Tod ganz energisch an, als ich Ovid zu einer Consultation mit mir und noch zwei Aerzten berief, die von mir abwichen. Es handelte sich um einen jener seltenen Fälle, in welchem meines Erachtens nach die alte Praxis des Aderlassens das einzig Richtige war. Auf meinen besonderen Wunsch erfuhr er nicht, daß dies gerade der streitige Punkt zwischen uns war. Er nahm sich Zeit zu untersuchen und nachzudenken und erkannte die Chance, den Patienten durch den Gebrauch der Lanzette möglichenfalls retten zu können, so klar wie ich mit meiner vierzigjährigen Erfahrung hinter mir! Ein junger Mann mit einer solchen Fähigkeit, die entfernte Ursache der Krankheit zu entdecken, und mit einer derartigen Ueberlegenheit über die Fesseln des Hergebrachten in der Behandlung hat keine nur gewöhnliche Carriere vor sich. Ich sehe gegenwärtig nichts, was ihm hindernd im Wege stände – nicht einmal ein Weib! Doch, fügte Sir Richard mit erläuterndem Blinzeln des einen Auges hinzu, »sollte ein Unterrock am Horizonte erscheinen, so werde ich mich hüten, den Wetterpropheten zu machen. Eine Prophezeihung aber riskiere ich: Wenn seine Mutter von der erwähnten Spitze kaufen sollte, so weiß ich, wer dabei den besten Handel machen wird.«

Die Bedingungen, unter welchen der alte Herr gewillt war, den Propheten zu spielen, traten nun allerdings nie ein, denn Ovid meinte, daß er als guter Sohn seiner Mutter vor dem Aufbruche zu seiner langen Reise ein Präsent machen müßte, und er ging deshalb sofort selbst hin und kaufte einige von den Spitzen für sie, bei welchem Geschäfte er jedenfalls nicht der Profitierende war.

Nach diesem Abstecher brachte ihn der kürzeste nach seinem Ziele führende Weg in eine Nebenstraße nahe dem Frucht- und Blumenmarkte von Covent-Garden; in derselben herrschte aber ein so unerträglich übler Geruch, daß er sich vor demselben eiligst in den Duft der Blumen und Früchte des Marktplatzes rettete, der ja auch nicht außerhalb des directen Weges nach Lincoln’s Inn-Fields lag. Und dort, um den Desinfectionsproceß vollständig zu machen. kaufte er sich ein Körbchen Erdbeeren.

Warum mußte nun gerade ein armes, zerlumptes kleines Mädchen, das einen großen Säugling trug, die köstlichen Früchte, die er aß, mit so sehnsüchtigen Augen betrachten, daß er als gutherziger Mann keine andere Alternative hatte, als ihr die Erdbeeren zu schenken? Warum mußten unmittelbar darauf zwei Spielgefährten der Kleinen erscheinen, um sie nach der benachbarten Straße zu holen, wo ein Hanswurstkasten aufgestellt wurde? Und warum empfand er plötzlich die Besorgniß, daß die beiden Jungen der armen Kleinen, mit dem ihr an Größe wenig nachstehenden dicken Baby auf den Armen die Erdbeeren wegnehmen könnten? Wenn die Nerven überangestrengt sind, wird man eben leicht durch Geringfügigkeiten beunruhigt, und ganz des Collegiums vergessend, folgte er müßig den Kleinen, um zu sehen, was kommen würde, und so eine neue Quelle des Vergnügens in sich entdeckend.

In der benachbarten Straße angekommen sah er, daß die Hanstwurst-Vorstellung wegen Mangels an zahlendem Publikum ein Ende gefunden hatte – was ja auch manch anderer weit anspruchsvollerer Vorstellung widerfahren kann. Er wartete in einiger Entfernung, um die Kinder zu beobachten, aber er hatte den Jungen mit seinen Zweifeln Unrecht gethan, denn dieselben baten die Kleine nur: »Laß uns mal schmecken«, und die Freigebige belohnte ihre Artigkeit dadurch, daß sie in einer ruhigen Ecke ihren Schatz, ehrlich mit ihnen theilte.

 

Wer hätte unter diesen Umständen – Geizhälse oder Millionäre natürlich ausgenommen – zu seinen Geschäften zurückkehren können, ohne durch ein Geschenk von einigen Pfennigen die Ausübung der socialen Tugenden zu ermuthigen? Ovid war nicht der Mann danach.

Als er die Börse, in welcher er immer etwas kleine Münze für kleine Almosen bei sich zu führen pflegte, wieder in die Brusttasche steckte, berührte er mit der Hand etwas, das sich wie ein Couvert anfühlte; er nahm es aus der Tasche, sah es mit einem Ausdruck von Verdruß und Ueberraschung an und wandte sich noch einmal von dem directen Wege nach Lincoln’s Inn-Fields ab.

Das Couvert enthielt nämlich sein letztes Recept, das er, um vorher die Pharmacopoea zu consultiren, zu Hause geschrieben und dann dem betreffenden Patienten hatte senden wollen, was er dann aber über dem absorbierenden Interesse der Vorbereitungen zu seiner Reise zu thun vergessen hatte. Um dies unglückliche Vorkommnis ohne weiteren Verzug wieder gut zu machen, blieb ihm nichts übrig, als nochmals die sich selbst gegebenen Vorschriften zu übertreten und noch einmal – nur der Sühne wegen – einen Krankenbesuch zu machen.

Der Patient wohnte in der Nähe des British-Museum, Ovid suchte ihn also auf, entschuldigte sich, gab ihm Verhaltungsmaßregeln und schlug dann wieder die Richtung nach dem College zu ein. Wie er so an dem von einer Mauer eingefaßten Garten des Museums vorüberging, wandte er den Blick dorthin – und hielt inne. Was ihn diesmal aufhielt, war nichts als ein Baum, dessen helle Blätter in dem schwachen Sommerwinde zitterten; aber auf seinem Gesichte ging eine auffallende Veränderung vor sich.

Wer ihn einen Augenblick vorher gesehen, wie er mit einem Lächeln um die Lippen an die Umstände gedacht, die ihn vom Verfolge seines Weges abgehalten, und sich humoristisch angehaucht gefragt hatte, was ihm nun zunächst noch widerfahren möchte, hätte ihn jedenfalls für einen glücklichen Mann halten müssen. Wer ihn aber jetzt gesehen, hätte gerade das Gegentheil angenommen. Den Kopf gesenkt, sich nur mechanisch bewegend, ging er über die Straße, hob dann die Augen zu dem Baume auf, blieb in der Nähe desselben stehen und sah ihn an.

Hunderte von Meilen von London entfernt, hatte dieser Mann, der später so kalt gegen die Frauen war, unter einem solchen Baume in seiner Jugendzeit einen kindlichen Liebestraum mit einer holden kleinen Cousine geträumt, die nun längst zu den Todten zählte. Er vergaß der Gegenwart mit ihren Interessen und Sorgen; aber allmählich fühlte sein wundes Herz einen beruhigenden Einfluß, der auf geheimnißvolle Weise von den zitternden Blättern auszugehen schien.

Langsam ging er die Straße hinauf, noch unbewußt der Außenwelt, in den alten Szenen lebend und die alten Gedanken denkend. Und wo hätte er in London einen ruhigeren und zum Träumen bei Tageslichte geeigneteren Ort finden können, als den mit stillen grünen Anlagen versehenen District nord- und ostwärts vom British-Museum? In einer der Anlagen blieb er stehen. Lebte seine Consine noch, so hätte er vielleicht seine eigenen Kinder auf einem solchen Platze spielen sehen können.

Lustig sangen die Vögel in den Bäumen; ein Bursche, der einem Koch Fische ablieferte, und zwei Mädchen, die an einem Fenster Blumen begossen, waren die einzigen lebenden Wesen in seiner Nähe, als er sich aufraffte und sich umsah.

Noch nicht im College? Die Frage erregte ihn nicht, es war nur, als ob ein Schatten an seinem Geiste vorüberzöge. In einem Zustande des Halbwachens wandte er sich ohne einen Wunsch oder Zweck um und sah gleichgültig zurück.

Zwei in Trauer gekleidete Frauen, die näher kommend sich als eine alte Frau und ein junges Mädchen herausstellten, kamen ziemlich eilig auf ihn zu. Als er, um sie vorbeizulassen zur Seite trat, sahen sie ihn mit der gleichgültigen Neugier Fremder an; die Augen des Mädchens begegneten den seinen; es war nur ein Augenblick, aber der Blick bannte ihn für’s Leben.

Sie ging schnell weiter, von der zufälligen Begegnung eben sowenig berührt als die Alte an ihrer Seite; aber wie von magnetischer Kraft angezogen, folgte ihnen Ovid, ohne zu denken, ja, ohne überhaupt eines Gedankens fähig zu sein. Nie vorher hatte er das gethan, was er jetzt that, er war buchstäblich außer sich selbst – er sah sie vor sich und außer ihnen nichts.

Als sie in eine Nebenstraße einbogen und in eine Concerthalle, die hier zu einem Nachmittagsconcerte geöffnet war, eintraten, folgte er ihnen auch hierhin und trat gleichfalls ein.

Capitel III

Ungefähr um die Zeit, als Ovid sein Haus verlassen hatte, saßen in dem allgemeinen Salon eines der prunkendsten Eisenbahnhotels Londons zwei in tiefe Trauer gekleidete Frauen, die sich, in eine Ecke zurückgezogen, in einer fremden Sprache unterhielten und durch die Einfachheit ihres Anzuges in Schnitt und Stoff allgemeine Aufmerksamkeit unter den übrigen Reisenden, mindestens unter den Damen, erregten. Die eine der beiden trug einen schwarzen Schleier über ihrem grauen Haar; ihre Hände waren braun, mit knolligen Gelenken; ihre Augen blickten für ihr Alter unnatürlich hell; unzählige Falten und Runzeln durchzogen ihr häutiges Gesicht nach allen Richtungen und ihre Adlernase war, wie eine der anwesenden Damen gegen ihren Begleiter bemerkte, der des Herzogs von Wellington so abscheulich ähnlich, daß sie jedes Frauengesicht entstellen müsse.

Der Begleiter der Dame sah die Sache milder an und flüsterte zurück: »Sie kann nichts für ihre Häßlichkeit. Sieh’ aber nur, wie sie das Mädchen neben ihr ansieht; es ist jedenfalls eine gute alte Person.«

Die Dame sah den Sprechenden an, wie eben nur eine eifersüchtige Frau ihren Mann ansehen kann, und bemerkte: »Hu, Du bist natürlich in das winzige Ding verliebt!«

Das Mädchen war allerdings nicht groß, und es war bei ihren siebzehn Jahren zweifelhaft, ob sie je größer werden würde. Aber es kann ja ein Mädchen das zu schlank und nicht ganz so groß ist wie die Venus von Medici, doch ihre persönlichen Reize haben, wenn dieselben in diesem Falle auch vielleicht nicht auffallend genug waren, um allgemeine Bewunderung zu erregen. Sie zeichnete sich nicht durch die zarte Farbe aus, noch durch die vollen gesunden Wangen, das heitere Lächeln die regelmäßigen Zähne oder den niedlich geformten Mund und vielversprechenden Busen, die den Durchschnittstypus der Schönheit der Engländerinnen ausmachen. Sie konnte sich überhaupt nur sehr weniger Farbe rühmen; ihr Haar zeigte ein so helles Braun, daß es nur eben dem Flachsigen entging, hatte aber das negative Verdienst, nicht bis auf die Augenbrauen herabgezogen und nicht in solch eine abscheuliche Negerperücke gedreht zu sein, wie sie heutzutage die Köpfe der Frauen entstellen. Die Züge, besonders Nase und Lippen, besaßen etwas so fein Vollendetes, es lag ein so sensitives Leben in dem Ausdrucke der Augen, die an und für sich zu dunkel waren, um mit dem hellen Haar ganz in Harmonie zu stehen, und ein so subtiler, doch einfacher Zauber in dem seltenen Lächeln, daß der Mangel an Gesichtsfarbe und Körperfülle wenigstens einigermaßen dadurch aufgewogen wurde. Man mochte sich um ihren Anspruch auf Schönheit streiten, aber niemand konnte leugnen, daß sie ein interessantes Wesen war. Anmuth und Feinheit; eine Schnelligkeit im Erfassen und eine Lebhaftigkeit in der Bewegung, die einen fremden Ursprung verriethen; eine kindliche Neigung zum Wundern neuen Gegenständen gegenüber, und unter glücklicheren Verhältnissen vielleicht eine kindliche Scherzhaftigkeit mit Personen, die sie liebte, das waren alles charakteristische Reize der bescheidenen kleinen Fremden in der Obhut der häßlichen Alten, für die sie offenbar der Gegenstand ergebenster Liebe war.

Auf dem Tische vor ihnen stand ein geöffnetes Reiseschreibzeug welches das Mädchen in einer eingetretenen Pause widerstrebend betrachtete. Sie hatten von Familienangelegenheiten gesprochen und zwar in italienischer Sprache, um ihre häuslichen Geheimnisse den Ohren der Fremden fern zu halten. Die Alte war die erste, welche die Unterhaltung wieder aufnahm.

»Du solltest wirklich den Brief schreiben, liebe Carmina«, sagte sie. »Tante Gallilee wartet darauf, von Deiner Ankunft zu hören.«

Carmina nahm die Feder, legte sie aber mit einem Seufzer wieder fort. »Liebe Teresa, wir sind erst gestern Abend angekommen«, wandte sie ein; »laß uns doch einen Tag für uns haben.«

Teresa zeigte über diesen Vorschlag unverstelltes Staunen und Unruhe.

»Jesus-Maria! einen Tag in London – und Deine Tante soll die ganze Zeit auf Dich warten! Was sagt Dein seliger Vater im Testamente? Es ist Deine zweite Mutter, mein Herz; ihr Haus ist jetzt Deine Heimath. Und Du willst einen ganzen Tag in einem Hotel bleiben, anstatt nach Haus zu gehen! Das geht nicht! Schreibe, meine Carmina – schreibe. Sieh’, hier auf der Karte steht die Adresse: »Fairfield-Gardens«. Da muß es schön sein, und Deine Tante ist jedenfalls eine liebe Dame – mach’, mach’!«

Aber Carmina widerstrebte noch. »Ich habe meine Tante sogar noch nicht einmal gesehen«, sagte sie. »Es ist schrecklich, bei einer Fremden leben zu sollen. Denke doch, ich war nur ein Kind, als Du nach dem Tode meiner Mutter zu uns kamst; es sind kaum sechs Monate her, daß ich meinen Vater verloren habe; ich habe niemanden als Dich – und wenn ich nach meiner künftigen Heimath gehe, wirst Du mich verlassen. Ich will ja nur einen Tag länger mit Dir zusammen sein, ehe wir scheiden.«

Die arme alte Duenna zog sich in den Schatten einer Gardine zurück und begann zu weinen. Carmina wußte aber, wie sie sie trösten konnte; sie nahm im Schutze des Tischtuches ihre Hand und flüsterte: »Wir wollen uns die Sehenswürdigkeiten ansehen, und zum Diner sollst Du dann ein Glas Porto-Porto haben.«

Leicht wie ein Kind getröstet, sah Teresa aus dem Schatten hervor. »Sehenswürdigkeiten, rief sie, ihre Thränen trocknend »Porto-Porto-Wein!« und dabei schmatzte sie mit den Lippen. »Ach, Kind, Du hast nicht vergessen, was ich Dir von meinem Aufenthalte in London in meinen jungen Jahren erzählt habe. Man sollte es kaum glauben, daß Dein Vater ein Engländer war und Du noch nie in London gewesen bist. Ich ging, um mich zu trösten, manchmal, wenn meine englische Gnädige mit mir zufrieden war, zu Museen und Concerten und die liebe Dame gab mir oft ein Glas von dem feinen starken Purpurwein. Die heilige Jungfrau gebe, daß Tante Gallilee ebenso gut sei! Solch einen Kopf voll Haare wie meine Gnädige wird sie schwerlich haben; es war eine Freude, es zu machen. Glaubst Du, ich würde nicht mit Dir hier in England bleiben, wenn ich könnte? Was aber sollte dann in Italien aus meinem Alten mit seinem verwünschten Asthma werden? O, es waren aber langweilige Jahre für mich hier in London – die schwarzen endlosen Straßen, diese schrecklichen Sonntage, diese Hunderttausende von immer eiligen, immer geschäftigen Leuten mit mürrischen Gesichtern! Ich freute mich, wieder zurückzukommen und mich in Italien zu verheirathen. Und da bin ich nun nach Gott weiß wie vielen Jahren wieder in London. Doch was! wir wollen uns heute amüsieren; und wenn wir morgen zu Madame Gallilee kommen, machen wir eine kleine Lüge und sagen, wir wären erst heute Abend angekommen.«

Der Gedanke an diese kleine Lüge kitzelte die humoristische Ader der Duenna so, daß sie sich im Stuhle zurücklehnte und lachte. Auf Carmina’s Gesichte zeigte sich schwach das seltene Lächeln; die schreckliche erste Begegnung mit der Tante drückte sie noch und sie nahm in Verzweiflung eine Zeitung zur Hand. »O beste Teresa!« sagte sie, »laß uns aus diesem entsetzlichen Zimmer fort und irgendwo hin, wo wir an Italien erinnert werden.«

Teresa erhob in Bestürzung die häßlichen Hände: »An Italien erinnert werden – in London?«

»Kann man hier keine italienische Musik hören?« fragte Carmina.

Die hellen Augen der Duenna antworteten in ihrer Sprache und sie nahm die nächste Zeitung.

Die Londoner Concertsaison war gerade auf ihrer Höhe und ganze Reihen, von Morgenconcerten waren angekündigt alles aber war deutsche, und größtentheils moderne deutsche Musik, und Carmina, die mit Mozart und Rossini und anderen Leuten der Ansicht war, daß Musik ohne Melodie überhaupt keine Musik sei, legte die Zeitung wieder fort.

Da es also mit dem Concertbesuch nichts war, so dachten sie daran, sich Gemälde anzusehen, und Teresa suchte unter den auf einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers liegenden Büchern und kehrte mit einem Katalog der Ausstellung der königlichen Akademie, den jemand dort hatte liegen lassen, und einem Almanach zurück.

 

Auf der ersten Seite entdeckte Carmina eine Liste von königlichen Akademikern, ungefähr vierzig an der Zahl. Waren das alles berühmte Maler? Nur drei davon hatten sich außerhalb Englands allgemein bekannt gemacht. Sie schlug die letzte Seite auf und sah, daß die Kunstwerke sich auf mehr als fünfzehnhundert bezifferten. »Wenn wir da wieder fortkommen, werden uns Kopf und Füße weh thun«, bemerkte Teresa, und Carmina legte den Katalog fort.

Teresa blätterte in dem Almanach und stieß auf die Ueberschrift »Museen«. Mit einem billigenden Druck des Daumennagels dieselbe markierend, las sie dann das Verzeichnis; in gebrochenem Englisch vor.

»British Museum?« Teresa erinnerte sich des Gebäudes in einer Hinsicht lebhaft. »Da würden wir uns noch viel mehr Kopf- und Fußweh holen«, sagte sie kopfschüttelnd und las eine Reihe ihr unbekannter Namen. »Die Heiligen schützen uns vor all dem Kopf- und Fußweh, wenn die alle so groß sind!« Plötzlich erregte sie durch lautes in-die-Hände-Klatschen das Staunen aller Anwesenden. »Sir John Soane’s Museum, Lincoln’s Inn-Fields – ah, dessen erinnere ich mich. Ein kleines gemüthliches Museum in einem Privathause, worin alle möglichen hübschen Sachen zu sehen sind. Liebes Kind, Verlaß Dich auf die alte Teresa – komm’ zu Soane!«

Zehn Minuten darauf waren sie angekleidet und verließen das Hotel. Der helle Sonnenschein und die angenehme Luft luden sie zum Gehen ein. Sie gingen über den Strand und in eine nordwärts führende Straße; nach dem Weg zu fragen ließ Teresa’s Stolz nicht zu.

Ihr Gespräch, welches anfangs bei Italien und der Erinnerung an Carmina’s italienische Mutter verweilte, wandte sich bald dem schrecklichen Gegenstande der neuen Heimath zu. Teresa’s Hoffnung für die Zukunft richtete sich auf die Cousinen und sie entwarf ein Gemälde von zwei reizenden kleinen Mädchen, die es gar nicht erwarten könnten, ihrer jungen Verwandten aus Italien ihre unschuldigen Herzen zu schenken. »Sind es nur ihrer zwei?« fragte sie. »Richtig, Du sagtest mir, daß auch noch ein Knabe da wäre.«

»Mein Cousin Ovid ist ein großer Doctor«, verbesserte Carmina mit einer Miene von Wichtigkeit. Papa sagte, daß unsere Familie Ursache haben würde, stolz auf ihn zu sein.«

»Wohnt er zu Hause?« fragte die einfache Teresa.

»O, bewahre! Er hat selbst ein großes Haus, wo Hunderte von Kranken zu ihm kommen, um Heilung zu suchen, und Hunderte von goldenen Guineen zahlen.«

Hunderte von goldenen Guineen nur durch Heilung von Kranken zu verdienen, war für Teresa etwas an’s Wunderbare Grenzendes und sie sah feierlich zum Himmel auf. »Solch einen Cousin zu haben! Ist er jung, schön, verheirathet?«

Statt diese Fragen zu beantworten, sah sich Carmina um und fragte: »Folgt uns dies arme Thier?«

Das »arme Thier, das ihnen unzweifelhaft folgte, war einer von den halbverhungerten, vagabundierenden Londoner Hunden, die sich manchmal infolge der Sympathie ihres Geschlechts dem Fußgänger für eine Zeitlang anschließen.

»O, das räudige Vieh«, rief Teresa mit jener Hartherzigkeit gegen Thiere, die einer der ernstesten Mängel des italienischen Charakters ist, und erhob dabei ihren Sonnenschirm. Der Hund fuhr zurück, wartete einen Augenblick und folgte ihnen wieder, als sie in der direct auf Coventgarden mündenden, belebten Straße weitergingen.

Carmina’s weiches Herz fühlte Mitleid mit dem verlorenen, hungrigen Geschöpfe. »Ich muß dem armen Hunde etwas zu fressen kaufen«, sagte sie und blieb, als ihr dieser Gedanke kam, plötzlich stehen.

Der Hund, der ihr dicht gefolgt war und wahrscheinlich einen Fußtritt fürchtete, sprang scheu auf den Fahrdamm und unglücklicherweise direct unter die Räder eines schnell vorbeifahrenden Wagens.

»Der Köter hat ausgelitten«, bemerkte ein Mann, der an das überfahrene Thier herangetreten war.

Dieses gewöhnliche Ereigniß wirkte so heftig auf die sensitiven Nerven des jungen Mädchens, daß es voll Entsetzen hilf- und sprachlos dastand, und am ganzen Körper zitterte. Teresa führte sie in die nächste offene Thür – eine Musikalienhandlung – und bat um einen Stuhl und ein Glas Wasser. Der Eigenthümer des Ladens, der jenes Interesse für Carmina empfand, das sie selten zu erwecken verfehlte, ging sogar so weit, ihr ein Glas Wein anzubieten. Sie zog aber Wasser vor und erholte sich dann bald soweit, um wieder aufstehen zu können.

»Wollen wir vom Besuche des Museums abstehen?« fragte sie ihre Begleiterin. »Ich bin nach dem Vorgefallenen nicht in der Stimmung, Curiositäten zu besehen.«

Teresa suchte mit bereitwilliger Sympathie etwas Anderes ausfindig zu machen »Musik würde Dir mehr zusagen, nicht wahr?«

In dem Laden hingen die Zettel für die italienische Oper; als aber Carmina wieder eine deutsche Oper auf demselben angekündigt sah, wandte sie sich voll Verzweiflung an den Händler »Kann man denn in London keine andere als nur deutsche Musik hören?«

Der zuvorkommende Händler holte das Programm eines an diesem Nachmittage stattfindenden bescheidenen Concertes eines obskuren Clavierlehrers, der wohl nur auf Schüler, Gönner und Freunde rechnen konnte. Auf dem Zettel war unter anderen Musik aus Lucia, Norma und Ernani angekündigt und Carmina kaufte nach einer zustimmenden Daumbewegung Teresa’s zwei Billets.

Der Händler wollte sich beeilen, eine Droschke zu rufen, Carmina aber schrak davor zurück, einen Wagen zu besteigen. »Wir könnten wieder ein armes Geschöpf überfahren«, meinte sie, »und es könnte anstatt eines Hundes dann vielleicht ein Kind sein.« Teresa und der Händler bemühten sich ernstlich, ihr eine andere Ansicht beizubringen, aber wenn Carmina das Vernünftige ihrer Meinung auch zugab, so sagte sie doch: »Verderben Sie mir nicht das Vergnügen; ich kann es einmal nicht!«

Und so war die seltsame Parallele jetzt vollständig geworden. Beide, Carmina und Ovid, hatten dasselbe Ziel gehabt, Lincoln’s Inn-Fields, und beide waren sie davon abgekommen. Und dann wollte Carmina noch den Garten des British Museum sehen, und so begegnete sie dem jungen Arzt in den ruhigen Anlagen.