Die Namenlosen

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Die Namenlosen
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Wilkie Collins: Die Namenlosen

Wilkie Collins

Die Namenlosen

Roman

Aus dem Englischen neu

übersetzt von Sebastian Vogel

Unter dem Titel No Name erstmals erschienen 1862.

Übersetzung © Sebastian Vogel

Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel

Umschlagbild: www.pixabay.com

Verlag: Sebastian Vogel

Erikaweg 5

50169 Kerpen

publishing@uebersetzungen-vogel.de

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7450-5186-5

Vorwort

Diese Geschichte verfolgt vor allem den Zweck, das Interesse des Lesers an einem Gegenstand zu wecken, welcher das Thema einiger der größten lebenden und verstorbenen Schriftsteller war – und das dennoch nie erschöpfend behandelt wurde oder behandelt werden kann. Es ist nämlich ein Thema, welches ewig interessant für die gesamte Menschheit ist. Hier ist wieder einmal ein Buch, welches den Kampf eines Menschen unter den gegensätzlichen Einflüssen von Gut und Böse nachzeichnet, Einflüssen, die wir alle schon gespürt haben, die wir alle kennen. Es war mein Ziel, der Gestalt der „Magdalen“, die diesen Kampf verkörpert, noch in all ihrer Widersprüchlichkeit und ihren Irrungen einen bedauernswerten Charakter zu verleihen; und ich habe mich sehr darum bemüht, dieses Ergebnis mit dem am wenigsten aufdringlichen und künstlichen Mittel zu erzielen: durch entschlossenes Festhalten an der Wahrheit, wie sie in der Natur liegt. Eine solche Gestaltung zu bewerkstelligen, war nicht einfach; und es war für mich (während der Veröffentlichung meiner Geschichte in Form von Fortsetzungen) eine große Ermutigung, durch die Kompetenz vieler Leser zu erfahren, dass ich das Ziel, welches ich mir selbst gesetzt hatte, wohl bis zu einem gewissen Grade als erreicht betrachten kann.

Um die Hauptfigur der Erzählung werden sich andere Gestalten gruppieren, die einen scharfen Kontrast bilden – einen Kontrast, für den ich größtenteils bestrebt war, dem Element des Humors eine beherrschende Bedeutung zu verschaffen. Den ernsteren Passagen des Buches eine solche Auflockerung hinzuzufügen, habe ich nicht nur deshalb versucht, weil ich mich dazu durch die Gesetze der Kunst berechtigt fühle, sondern auch weil die Erfahrung mich gelehrt hat (was meine Leser auf Grund ihrer Erfahrungen zweifellos bestätigen werden), dass ein moralisches Phänomen wie die unvermischte Tragödie in der Welt um uns herum nicht zu finden ist. Wohin wir auch blicken, im Gewebe des menschlichen Lebens überkreuzen sich ständig die Fäden der Dunkelheit und des Lichts.

Kommen wir von den Figuren zur Geschichte, so wird sich zeigen, dass die auf den folgenden Seiten wiedergegebene Handlung nach einem Plan aufgebaut ist, welcher sich von dem Plan, dem ich in meinem letzten Roman und in anderen, zuvor veröffentlichten Werken gefolgt bin, unterscheidet. Das einzige Geheimnis, das in diesem Buch enthalten ist, wird schon in der Mitte des ersten Bandes gelüftet. Von da an werfen die wichtigsten Ereignisse der Geschichte ihre Schatten absichtsvoll voraus, bevor sie stattfinden. Mit dieser Gestaltung möchte ich das Interesse des Lesers auf die Abfolge von Umständen lenken, durch die diese vorhersehbaren Ereignisse eintreten. Indem ich derart neues Terrain betrete, wende ich dem Gelände, das ich bereits passiert habe, nicht zweifelnd den Rücken zu. Wenn ich einen neuen Kurs einschlage, verfolge ich damit nur ein einziges Ziel: Ich möchte das Spektrum meiner Studien in der Kunst des Schreibens und die Vielfalt der Form, mit der ich mich an den Leser wende, erweitern und so reizvoll wie möglich machen.

Es besteht keine Notwendigkeit, zu diesen einleitenden Worten mehr hinzuzufügen, als hier geschrieben steht. Wenn ich sonst an dieser Stelle vielleicht noch etwas hätte sagen wollen, so war ich bestrebt, es das Buch für mich sagen zu lassen.

Für Francis Carr Beard (Fellow des Royal College of Surgeons of England) in Erinnerung an die Zeit, zu der die abschließenden Szenen der vorliegenden Geschichte geschrieben wurden.

Inhalt

Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Zweite Szene: Skeldergate, York

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zwischenakt: Chronik der Ereignisse, ­festgehalten in Captain Wragges Depeschentasche

Dritte Szene: Vauxhall Walk, Lambeth

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Vierte Szene: Aldborough, Suffolk

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Fünfte Szene: Baliol Cottage, Dumfries

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Sechste Szene: St. John’s Wood

Kapitel 1

Kapitel 2

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Siebte Szene: St. Crux-in-the-Marsh

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

 

Kapitel 4

Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen

Letzte Szene: Aaron’s Buildings

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire

Kapitel 1

Die Zeiger der Uhr in der Halle standen auf halb sieben am Morgen. Das Haus, ein Landsitz im Westen von Somersetshire, hieß ­Combe-Raven. Es war der vierte März des Jahres achtzehnhundertsechsundvierzig.

Abgesehen vom stetigen Ticken der Uhr und dem trägen Schnarchen eines großen Hundes, der vor der Esszimmertür auf einer Matte hingestreckt lag, störte kein Geräusch die rätselhafte Stille in Halle und Treppenhaus. Wer waren die Schlafenden, die sich in den oberen Regionen verbargen? Lassen wir das Haus selbst seine Geheimnisse offenbaren; und lassen wir die Schlafenden sich zeigen, wenn sie aufgestanden sind und einer nach dem anderen die Treppe herunterkommen.

Als die Uhr Viertel vor sieben zeigte, wachte der Hund auf und schüttelte sich. Nachdem er vergeblich auf den Diener gewartet hatte, der ihn gewöhnlich hinausließ, wanderte er ruhelos im Erdgeschoss von einer verschlossenen Tür zur anderen; und nachdem er mit großer Verblüffung zu seiner Matte zurückgekehrt war, wandte er sich mit einem langen, melancholischen Heulen an die schlafende Familie.

Noch bevor die letzten Töne der Beschwerde des Hundes verklungen waren, knarrten die Eichenstufen in den höheren Gefilden des Hauses unter langsam herabsteigenden Schritten. Nach einer weiteren Minute erschien die erste Dienerin mit einem schäbigen Wollschal über den Schultern – der Märzmorgen war kalt, und der Rheumatismus und die Köchin waren alte Bekannte.

Nachdem sie die herzliche Begrüßung des Hundes mit der geringstmöglichen Anmut entgegengenommen hatte, öffnete die Köchin langsam die Tür der Halle und ließ das Tier hinaus. Es war ein ungestümer Morgen. Über einer geräumigen Rasenfläche und hinter einem schwarzen Tannengehölz bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen aus zerklüfteten grauen Wolken; in großen Abständen fielen wenige schwere Regentropfen; der Märzwind fegte um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge.

Es schlug sieben; jetzt zeigten sich die Anzeichen des häuslichen Lebens in schnellerer Folge.

Das Hausmädchen kam – groß und schlank, mit der rot auf die Nase geschriebenen Frühlingstemperatur – die Treppe herunter. Ihr folgte – jung, schlau, dicklich und schläfrig – das Dienstmädchen der Lady. Als Nächste kam das Küchenmädchen – sie hatte Schmerzen im Gesicht und machte kein Geheimnis aus ihrem Leiden. Als Letzter erschien, bedrückt gähnend, der Hausdiener, das lebende Abbild eines Mannes, der das Gefühl hat, um seine wohlverdiente Nachtruhe betrogen worden zu sein.

Das Gespräch der Dienstboten, die sich vor dem langsam aufflammenden Küchenfeuer versammelt hatten, drehte sich um ein Familienereignis aus jüngster Zeit und wandte sich zu Beginn einer einzigen Frage zu: Hatte Thomas, der Hausdiener, irgendetwas von dem Konzert in Clifton gesehen, bei dem sein Herr und die beiden jungen Damen am Abend zuvor zugegen gewesen waren? Ja; Thomas hatte das Konzert gehört; man hatte ihn dafür bezahlt, dass er in der hintersten Reihe stand; es war ein lautes Konzert gewesen; ein lebhaftes Konzert; es wurde in der Überschrift des Programms als groß bezeichnet; ob es sich lohnte, sechzehn Meilen mit der Eisenbahn zu fahren, um es zu hören, wobei man als zusätzliche Beschwernis um halb zwei Uhr morgens neunzehn Meilen auf der Straße zurückfahren musste – das war eine Frage, die zu entscheiden er seinem Herrn und den jungen Damen überlassen wollte; seine eigene Antwort lautete vorerst ohne Zögern: nein. Weitere Erkundigungen, welche nacheinander von allen Seiten der weiblichen Dienerschaft kamen, förderten keinerlei zusätzliche Informationen zutage. Thomas konnte keines der Lieder summen und kein Kleidungsstück der Damen beschreiben. Entsprechend ließ sein Publikum ihn voller Verzweiflung gehen, und die Unterhaltung in der Küche verlief wieder in den gewohnten Bahnen, bis die Uhr acht schlug und die versammelten Dienerinnen veranlasste, sich zum Zweck ihrer morgendlichen Tätigkeiten zu trennen.

Viertel nach acht, und nichts geschah. Halb neun – jetzt kamen weitere Lebenszeichen aus den Regionen der Schlafzimmer. Das nächste Familienmitglied, das die Treppe herunterstieg, war Mr. Andrew Vanstone, der Hausherr.

Groß, kräftig, aufrecht – mit leuchtend blauen Augen und gesundem, rosigem Teint; den vornehmen braunen Jagdrock achtlos falsch geknöpft; mit seinem zänkischen kleinen Scotchterrier, der ohne Zurechtweisung hinter seinen Fersen kläffte; eine Hand in die Westentasche geschoben, die andere fröhlich auf das Geländer klopfend, während er, eine Melodie summend, die Stufen herabkam – so zeigte Mr. Vanstone freimütig allen Menschen seinen Charakter. Ein unbefangener, herzlicher, gut aussehender, humorvoller Gentleman, der auf der Sonnenseite des Lebensweges wandelte und sich nichts Schöneres wünschte als dass auch alle seine Mitpassagiere in dieser Welt auf der Sonnenseite standen. Schätzte man seine Jahre, so war er vor Kurzem fünfzig geworden. Beurteilte man ihn nach der Leichtigkeit des Herzens, der Stärke seiner Konstitution und seiner Begeisterungsfähigkeit, so war er nicht älter als die meisten Männer, die gerade erst dreißig sind.

„Thomas“, rief Mr. Vanstone, wobei er seine alte Pelzmütze und den dicken Spazierstock vom Tisch in der Halle nahm, „Frühstück heute um zehn. Die jungen Damen werden nach dem Konzert gestern Abend wahrscheinlich nicht früher aufstehen. Ach übrigens, wie hat Ihnen eigentlich das Konzert gefallen, hm? Sie fanden es prachtvoll? Ganz recht, es war prachtvoll. Nichts als Krach-bum, und zur Abwechslung hier und da auch Bum-krach; alle Frauen sind in ihren Kleidern fast gestorben; sengende Hitze, loderndes Gas, und drangvolle Enge – ja, ja, Thomas, prachtvoll ist das richtige Wort dafür, aber angenehm war es nicht.“ Nach dieser Meinungsäußerung pfiff Mr. Vanstone nach seinem Terrier, schwenkte an der Tür der Halle in fröhlicher Missachtung des Regens seinen Stock und machte sich bei Wind und Wetter auf seinen Morgenspaziergang.

Die Zeiger schlichen auf ihrem stetigen Weg weiter um das Zifferblatt der Uhr und zeigten auf zehn Minuten vor neun, als ein weiteres Familienmitglied auf den Stufen erschien: Miss Garth, die Gouvernante.

Aufmerksame Augen konnten keinen Blick auf Miss Garth werfen, ohne sofort zu bemerken, dass sie aus dem Norden des Landes kam. Ihr Gesicht mit seinen harten Zügen; ihre männlich-gewandten, entschiedenen Bewegungen; ihre hartnäckige Rechtschaffenheit in Aussehen und Manieren – all das kündete von ihrer Geburt und Ausbildung an der Grenze. Sie war kaum über vierzig Jahre alt, und doch waren ihre Haare ganz grau; darüber trug sie die schlichte Kappe einer alten Frau. Weder ihre Haare noch ihre Frisur ließen den Einklang mit dem Gesicht vermissen: Es sah älter aus, als es ihren Jahren entsprach – die harte Hand des Kummers hatte es zu irgendeiner früheren Zeit gekerbt. Die Selbstbeherrschtheit, mit er sie treppab ging, und die Ausstrahlung einer gewohnheitsmäßigen Autorität, mit der sie sich umsah, sprachen für ihre gefestigte Stellung in Mr. Vanstones Familie. Diese Frau gehörte offensichtlich nicht zur Kategorie der verlorenen, verfolgten, bedauernswert abhängigen Gouvernanten. Vielmehr war sie eine Dame, die unter gesicherten, ehrenvollen Bedingungen bei ihren Arbeitgebern lebte – eine Frau, die aussah, als könne sie allen Eltern in England die Meinung sagen, wenn sie nicht ihrem wahren Wert entsprechend eingeschätzt wurde.

„Frühstück um zehn?“, wiederholte Miss Garth, als der Hausdiener auf ihr Läuten herbeigekommen war und die Anordnung seines Herrn erwähnt hatte. „Ha! Ich habe mich schon gefragt, was bei dem Konzert gestern Abend herauskommen würde. Wenn Leute, die auf dem Land leben, öffentliche Vergnügungen aufsuchen, geben die Vergnügungen die Ehre zurück, indem sie das Familienleben anschließend tagelang durcheinander bringen. Sogar Sie sind durcheinander, Thomas. Ich sehe, dass Ihre Augen so rot sind wie die eines Frettchens, und Ihre Krawatte sieht aus, als hätten Sie damit geschlafen. Bringen Sie den Tee um Viertel vor zehn – und wenn es Ihnen im Laufe des Tages nicht besser geht, kommen Sie zu mir, dann gebe ich Ihnen eine Dosis Arznei. Das ist ein gutmütiger Bursche, man muss ihn nur in Ruhe lassen“, fuhr Miss Garth im Selbstgespräch fort, nachdem Thomas sich zurückgezogen hatte, „aber für Konzerte zwanzig Meilen weit weg ist er nicht kräftig genug. Gestern Abend wollten sie sogar, dass ich mitkomme. Das hätte mir gerade noch gefehlt!“

Es schlug neun, und der Minutenzeiger wanderte noch zwanzig Minuten über die Stunde, bevor wieder Schritte auf der Treppe zu hören waren. Am Ende dieser Zeit erschienen zwei Damen und gingen gemeinsam hinunter zur Frühstücksraum: Mrs. Vanstone und ihre älteste Tochter.

Wenn die persönliche Anziehungskraft von Mrs. Vanstone in einer früheren Phase ihres Lebens ausschließlich auf ihren urenglischen Reizen der Gesichtsfarbe und Frische beruht hatten, so musste sie die letzten Überreste ihres hübscheren Ich schon lange verloren haben. Aber als junge Frau hatte sie mit ihrer Schönheit die Grenzen des nationalen Durchschnitts übertroffen, und die Vorteile ihrer außerordentlichen persönlichen Gaben hatte sie sich bewahrt. Obwohl sie jetzt in ihrem vierundvierzigsten Jahre war; und obwohl sie in vergangenen Zeiten unter dem Verlust mehr als eines Kindes und langwierigen Krankheitsanfällen, welche auf solche Heimsuchungen gefolgt waren, gelitten hatte, waren ihr die ebenmäßigen Proportionen und die subtile Feinheit der Gesichtszüge erhalten geblieben, die sich einst mit einer Helligkeit und Frische der Schönheit verbunden hatten, welche nie mehr wiederkehren sollten. Ihr ältestes Kind, das jetzt an ihrer Seite die Treppe herunterkam, war der Spiegel, durch den sie zurückblicken und den Widerschein ihrer eigenen Jugend sehen konnte. Dort, dicht gewunden auf dem Kopf der Tochter, lagen die üppigen schwarzen Haare, die auf dem Haupt der Mutter schnell ergrauten. Dort, auf den Wangen der Tochter, glimmte das liebliche dunkle Rot, das auf denen der Mutter verblichen war, um nie wieder aufzublühen. Miss Vanstone hatte bereits die erste Reife des Frauseins erreicht; sie hatte ihr sechsundzwanzigstes Jahr vollendet. Auch wenn sie den dunkel-majestätischen Charakter der Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte, so besaß sie doch nicht alle ihre Reize. Die Form des Gesichts war zwar die gleiche, ihre Züge waren aber nicht ganz so zart, ihre Proportionen nicht ganz so ebenmäßig. Sie war nicht so groß. Sie hatte die dunkelbraunen Augen ihrer Mutter – voll und weich, mit dem stetigen Glühen, das Mrs. Vanstones Augen verloren hatten –, und doch war in ihrem Ausdruck weniger Interesse, weniger Feinheit und Gefühlstiefe: Er war sanft und weiblich, aber umwölkt von einer gewissen stillen Zurückhaltung, von der das Gesicht ihrer Mutter frei war. Wenn wir es wagen, genau genug hinzusehen, beobachten wir dann nicht oftmals, dass die moralische Charakterstärke und die höheren geistigen Fähigkeiten der Eltern sich während der Weitergabe an die Kinder auf rätselhafte Weise abnutzen? Ist es in unserer Zeit der heimtückischen nervösen Erschöpfung und der unterschwellig fortschreitenden nervösen Leiden nicht möglich, dass die gleiche Regel weniger selten, als wir einzuräumen bereit sind, auch auf die körperlichen Gaben zutrifft?

Gemeinsam schritten Mutter und Tochter langsam die Treppe herunter – erstere in dunkles Braun gekleidet und mit einem um die Schultern geworfenen indischen Schal, die zweite einfacher schwarz gewandet, mit schlichtem Kragen und Manschetten sowie einem orangefarbenen Band über der Brust ihres Kleides. Als sie die Halle durchquerten und das Frühstückszimmer betraten, war Miss Vanstone erfüllt von dem faszinierenden Thema des gestrigen Konzerts.

„Es ist so schade, dass du nicht mitgekommen bist, Mama“, sagte sie. „Seit dem letzten Sommer warst du immer so kräftig, und es ging dir so gut – du fühlst dich um Jahre jünger, das hast du selbst gesagt – und ich bin sicher, die Anstrengung wäre nicht zu viel für dich gewesen.“

 

„Vielleicht nicht, mein Liebes, aber es war gut, auf der sicheren Seite zu sein.“

„Ganz recht“, bemerkte Miss Garth, die an der Tür des Frühstückszimmers erschienen war. „Sehen Sie sich nur Norah an (guten Morgen, meine Liebe) – ich sage nur: Sehen Sie sich Norah an. Ein völliges Wrack; der lebende Beweis, wie klug es von Ihnen und mir war, zu Hause zu bleiben. Das abscheuliche Gas, die stickige Luft, die späte Uhrzeit – was soll man da erwarten? Sie ist nicht aus Eisen, und entsprechend leidet sie. Nein, meine Liebe, Sie brauchen es gar nicht abzustreiten. Ich sehe doch, dass Sie Kopfschmerzen haben.“

Norahs dunkles, hübsches Gesicht hellte sich zu einem Lächeln auf – um sich dann wieder mit der gewohnten stillen Zurückhaltung zu verdüstern.

„Ein ganz klein wenig Kopfschmerzen; nicht halb so viel, als dass ich das Konzert bereuen würde“, sagte sie und ging allein zum Fenster.

Jenseits eines Gartens und einer Pferdekoppel reichte der Blick bis zu einem Bach, einigen Bauernhäusern dahinter und der Mündung eines bewaldeten, felsigen Passes (den man in Somersetshire Combe nennt), der sich durch die Hügel, die das Panorama abschlossen, hindurchzog. In nicht allzu großer Entfernung, inmitten der gewellten, offenen Landschaft, war ein gewundenes Stück Straße zu sehen; und entlang dieses Stücks erkannte man jetzt ohne Weiteres die stattliche Gestalt von Mr. Vanstone, der von seinem Morgenspaziergang nach Hause kam. Als er seine älteste Tochter am Fenster sah, schwenkte er fröhlich seinen Stock. Sie nickte und antwortete ihrerseits mit einem anmutigen, hübschen Winken – aber in ihrem Betragen lag eine gewisse altmodische Förmlichkeit, was bei einer so jungen Frau seltsam wirkte und nicht im Einklang mit der Begrüßung zu stehen schien, die sie an ihren Vater richtete.

Die Uhr in der Halle schlug die Stunde des verspäteten Frühstücks. Als der Minutenzeiger das Verstreichen von fünf weiteren Minuten angezeigt hatte, knallte in den Regionen der Schlafzimmer eine Tür; man hörte eine helle, junge Stimme unbekümmert singen; leichte, schnelle Schritte trappelten auf der oberen Treppe, kamen mit einem Sprung auf dem Treppenabsatz an und trappelten schneller als zuvor die untere Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick stürzte die jüngste von Mrs. Vanstones beiden Töchtern (und ihrer einzigen noch lebenden Kinder) mit der Plötzlichkeit eines Lichtblitzes auf den düsteren Eichenstufen ins Blickfeld, und nachdem sie die letzten drei Stufen zur Halle mit einem Satz überwunden hatte, war der Familienkreis komplett.

Durch eine jener seltsamen Launen der Natur, die immer noch von der Wissenschaft unerklärt bleiben, zeigte das jüngste von Mr. Vanstones Kindern keine erkennbare Ähnlichkeit mit einem seiner Eltern. Wie war sie zu ihren Haaren gekommen? Wie war sie zu ihren Augen gekommen? Selbst ihr Vater und ihre Mutter hatten sich solche Fragen gestellt, als sie zum Mädchen heranwuchs, und waren, was eine Antwort anging, schmerzlich ratlos gewesen. Ihre Haare hatten jenen rein hellbraunen Farbton, der nicht mit Flachsfarbe, Gelb oder Rot vermischt ist und den man am Gefieder eines Vogels häufiger sieht als an einem Menschen. Sie waren weich und üppig und fielen von der niedrigen Stirn in regelmäßigen Wellen herab – aber für manchen Geschmack waren sie trist und tot mit ihrem völligen Mangel an Glanz, mit ihrer eintönigen Reinheit der einfachen, hellen Farbe. Augenbrauen und Wimpern waren einen Hauch dunkler als die Haare und schienen wie gemacht für jene violettblauen Augen, die ihren unwiderstehlichsten Charme versprühen, wenn sie sich mit einem hellen Teint verbinden. Aber genau an dieser Stelle hielt ihr Gesicht verblüffenderweise nicht, was es versprach. Die Augen, die dunkel hätten sein sollen, waren unbegreiflicherweise unpassend hell; sie waren von jenem nahezu farblosen Grau, das zwar für sich wenig anziehend wirkt, zum Ausgleich aber das seltene Verdienst besitzt, die feinsten Abstufungen der Gedanken, das tiefste Ungemach der Leidenschaft mit einer so erhabenen Durchsichtigkeit des Ausdrucks zu deuten, dass keine dunkleren Augen an sie heranreichen. Während also der obere Teil ihres Gesichts ein wunderlicher Widerspruch in sich war, wich der untere weniger von den anerkannten Vorstellungen von Harmonie ab. Ihre Lippen hatten die wahrhaft weibliche Zartheit der Form, ihre Wangen die liebenswürdige Rundlichkeit und Glätte der Jugend – aber der Mund war zu groß und fest, das Kinn zu eckig und kräftig für ihr Alter und Geschlecht. Ihr Teint hatte teil an der reinen Eintönigkeit des Farbtons, die auch ihre Haare kennzeichnete – er war überall von der gleichen weichen, warmen, cremigen Helligkeit, ohne einen Hauch von Farbe auf den Wangen, außer bei Gelegenheiten ungewöhnlicher körperlicher Anstrengung oder plötzlicher geistiger Verwirrung. Zusätzlichen Eindruck machte der ganze Gesichtsausdruck, der mit seinen krass gegensätzlichen Merkmalen so bemerkenswert war, durch seine ungewöhnliche Beweglichkeit. Die großen, leuchtenden, hellgrauen Augen standen kaum einmal still; alle Ausdrucksformen folgten in dem flexiblen, sich ständig verändernden Gesicht aufeinander, und das mit einer schwindelerregenden Schnelligkeit, die jede nüchterne Analyse im Rennen weit hinter sich ließ. Die überschäumende Lebenslust des Mädchens machte sich überall an ihr bemerkbar, von Kopf bis Fuß. Ihre Gestalt – größer als ihre Schwester, größer als eine durchschnittliche Frau; ausgestattet mit einer so verführerischen, schlangenhaften Geschmeidigkeit, so leicht und spielerisch anmutig, dass ihre Bewegungen ganz von selbst an eine junge Katze denken ließen – diese Gestalt war bereits vollkommen entwickelt, und niemand hätte bei ihrem Anblick vermutet, dass sie erst achtzehn war. Sie blühte in der völligen körperlichen Reife von zwanzig Jahren oder mehr – blühte natürlich und unwiderstehlich kraft ihrer unvergleichlichen Gesundheit und Stärke. Hier lag in Wahrheit der Urquell dieser so eigenartig aufgebauten Konstitution. Ihr überstürzter Lauf die Treppe hinunter; die lebhafte Aktivität aller ihrer Bewegungen; die unaufhörlich sprühenden Funken ihres Gesichtsausdrucks; die reizvolle Fröhlichkeit, die noch das Herz des ruhigsten Menschen im Sturm eroberte; selbst das unbekümmerte Schwelgen in hellen Farben, das sich an ihrem leuchtend bunt gestreiften Morgenkleid zeigte, in den flatternden Bändern, den kleinen, scharlachroten Röschen auf ihren hübschen kleinen Schuhen – all das entsprang aus derselben Quelle: aus der überschäumenden körperlichen Gesundheit, die jeden Muskel kräftigte, jeden Nerv stützte und das warme junge Blut durch ihre Adern schießen ließ wie das Blut eines heranwachsenden Kindes.

Als sie das Frühstückszimmer betrat, wurde sie mit den gewohnten Vorhaltungen begrüßt, die ihre kapriziöse Missachtung jeglicher Pünktlichkeit bei den leidgeprüften Haushaltsvorständen provozierte. Oder, wie Miss Garth es am liebsten ausdrückte: „Magdalen wurde mit allen Sinnen geboren – außer mit dem Sinn für Ordnung.“

Magdalen! War es nicht seltsam, dass man ihr diesen Namen gegeben hatte? Ja, seltsam, in der Tat; und doch war er unter nicht ungewöhnlichen Umständen ausgewählt worden. Den gleichen Namen hatte eine von Mr. Vanstones Schwestern getragen, und die war schon in früher Jugend gestorben. In liebevoller Erinnerung hatte er seine zweite Tochter nach ihr benannt – genau wie er seine älteste Tochter seiner Frau zuliebe Norah genannt hatte. Magdalen! Der große, alte, biblische Name – ein Name, der an eine traurige, düstere Würde denken lässt; der als erste Assoziation schwermütige Gedanken an Reue und Abgeschiedenheit heraufbeschwört – war doch hier sicher angesichts der Ereignisse, wie sie sich herausgestellt hatten, unzutreffenderweise vergeben worden? Dieses so widersprüchliche Mädchen hatte widersinnigerweise einen weiteren Widerspruch zuwege gebracht, in dem sie sich zu einer Persönlichkeit entwickelte, die jeden Einklang mit ihrem Vornamen vermissen ließ.

„Wieder einmal zu spät!“, sagte Mrs. Vanstone, als Magdalen sie atemlos küsste.

„Wieder einmal zu spät“, pflichtete Miss Garth bei, als Magdalen danach zu ihr kam. „Nun?“, fuhr sie fort, wobei sie vertraulich nach dem Kinn des Mädchens griff; ihre halb spöttische, halb liebevolle Aufmerksamkeit verriet, dass die jüngste Tochter trotz aller ihrer Fehler der Liebling der Gouvernante war. „Nun? Und wie war das Konzert für dich? Welche Form des Leidens hat die Zerstreuung heute Morgen in deinem Organismus hervorgerufen?

„Leiden!“, echote Magdalen, die ihren Atem und mit ihm auch die Beherrschung der Zunge wiedergewonnen hatte. „Ich weiß gar nicht, was das Wort bedeutet: Wenn mit mir überhaupt etwas los ist, dann geht es mir zu gut. Leiden! Ich bin bereit für das nächste Konzert heute Abend, und morgen einen Ball, und übermorgen ein Theaterstück. Ach“, rief Magdalen, wobei sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und die Hände verzückt auf dem Tisch faltete, „wie ich das Vergnügen liebe“.

„Nicht doch, das ist ja geradezu unanständig“, sagte Miss Garth. „Ich glaube, Pope muss dich im Sinn gehabt haben, als er seine berühmten Zeilen schrieb:

Verteilt ist Scherz und Ernst in Männerbrust,

Doch jede Frau im Herzen frönt der Lust.

„Den Teufel tut sie!“, rief Mr. Vanstone. Er hatte, die Hunde an seinen Fersen, das Zimmer betreten, während Miss Garth ihr Zitat von sich gab. „Nun ja, leben und lernen. Wenn sie alle der Lust frönen, Miss Garth, sind die Geschlechter ganz gehörig auf den Kopf gestellt; und den Männern bleibt dann nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben und die Socken zu stopfen. Jetzt wollen wir aber frühstücken!“

„Wie geht’s, Papa?“, fragte Magdalen und schlang Mr. Vanstone so ungestüm den Arm um den Hals, als gehörte er zu irgendeiner größeren Art von Neufundländern und solle nach Belieben seiner Tochter mit ihr herumtollen. „Ich bin die Vergnügungssüchtige, von der Miss Garth spricht; und ich möchte noch einmal zu einem Konzert gehen – oder zu einem Schauspiel, wenn es dir lieber ist – oder zu einem Ball, wenn du das bevorzugst – oder zu allem anderen, was dem Vergnügen dient, mir ein neues Kleid verschafft, mich in eine Menschenmenge eintauchen lässt, mich mit einer Menge Licht beleuchtet und mir ganz und gar, von Kopf bis Fuß, ein aufgeregtes Prickeln verursacht. Mir ist alles recht, so lange wir nicht um elf Uhr ins Bett gehen müssen.“

Mr. Vanstone ließ sich unter dem Redefluss seiner Tochter in aller Ruhe auf einem Stuhl nieder wie ein Mann, der verbale Sturzbäche von dieser Seite durchaus gewohnt war. „Wenn es mir erlaubt ist, das nächste Mal unter den Vergnügungen meine Wahl zu treffen“, sagte der würdige Gentleman, „so glaube ich, dass ein Schauspiel mir mehr zusagen würde als ein Konzert. Die Mädchen haben sich großartig amüsiert, mein Liebes“, fuhr er, an seine Frau gewandt, fort. „Mehr als ich, muss ich sagen. Es war viel zu hoch für mich. Sie haben ein Musikstück gespielt, das vierzig Minuten gedauert hat. Es hat dreimal zwischendurch aufgehört. Jedes Mal haben wir gedacht, es sei fertig, und geklatscht und uns gefreut, dass wir es hinter uns hatten. Aber dann ging es zu unserer großen Überraschung und Demütigung wieder weiter, bis wir verzweifelt aufgaben und uns wünschten, wir wären in Jericho. Norah, mein Liebling! Als wir vierzig Minuten Krach-Bum gehört haben, mit drei Pausen dazwischen, wie haben sie das genannt?“

„Eine Symphonie, Papa“, erwiderte Norah.