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Der Mondstein

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Der Mondstein
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Erster Band

Prolog
Die Erstürmung von Seringapatnam (1799.)

(Auszug aus einem in einem Familien-Archiv aufbewahrten Bericht.)

I

Ich richte diese in Indien geschriebenen Zeilen an meine Verwandten in England.

Der Zweck derselben ist die Gründe darzulegen, aus welchen ich mit meinem Vetter, John Herncastle, gebrochen habe. Die Zurückhaltung, welche ich bis jetzt in dieser Angelegenheit beobachtet habe ist von einigen Gliedern meiner Familie, an deren guten Meinung mir viel gelegen ist, falsch ausgelegt worden. Ich ersuche dieselben, nicht eher ein Urtheil über meine Handlungsweise zu fällen, bis sie meine Erzählung gelesen haben werden, und ich gebe hiermit mein Ehrenwort darauf, daß was ich im Begriff stehe niederzuschreiben, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit enthält.

Die Veruneinigung zwischen meinem Vetter und mir entstand bei Gelegenheit eines großen Ereignisses, bei welchem wir Beide betheiligt waren, der Erstürmung von Seringapatnam unter General Baird am 4. Mai 1799.

Um die Vorgänge, auf die es ankommt, klar zu machen, muß ich einen Augenblick bei der der Erstürmung vorangehenden Zeit und den Erzählungen verweilen, welche in unserm Lager über die in dem Palast von Seringapatnam aufgehäuften Schätze von Gold und Edelsteinen cursirten.

II

Eine der abenteuerlichsten unter diesen Geschichten bezog sich auf einen gelben Diamanten, einen in den Annalen Indiens berühmten Edelstein

Nach der ältesten darüber bekannten Tradition befand sich der Stein in dem Stirnband des vierarmigen indischen Gottes, welcher als Personification des Mondes betrachtet wird.

Zum Theil wegen seiner eigenthümlichen Farbe, zum Theil in Folge eines Aberglaubens, nach welchem der Stein den Einflüssen der Gottheit, die er schmückte, unterliegen, und mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes einen erhöhten oder verminderten Glanz erhalten sollte, bekam derselbe den Namen, unter welchem er noch heute bekannt ist: Der Mondstein.

Ein ähnlicher Aberglaube soll, wie ich gehört habe, einst im alten Griechenland und Rom geherrscht haben, jedoch nicht wie in Indien, in Bezug auf einen dem Dienste eines Gottes geweihten Diamanten, sondern in Bezug auf einen nicht ganz durchsichtigen Halbedelstein, der auch dem Einfluß des Mondes unterliegen sollte und gleichfalls vom Monde seinen Namen erhielt, unter welchem er den Sammlern noch in unsern Tagen bekannt ist.

Die Schicksale des gelben Diamanten beginnen mit dem elften Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung.

Um jene Zeit durchzog der mohammedanische Eroberer Mahmoud von Ghizni Indien, nahm die heilige Stadt Somnauth ein und beraubte den seit Jahrhunderten berühmten Tempel, das Ziel der indischen Pilger, das Wunderwerk des Orients, seiner Schätze.

Von allen in diesem Tempel verehrten Gottheiten entging der Mondgott allein der Raubgier der mohammedanischen Eroberer. Von drei Brahminen gerettet, wurde die unverletzte Gottheit, die den gelben Diamanten an ihrer Stirn trug, bei nächtlicher Weile nach der zweiten heiligen Stadt Indiens, nach Benares gebracht. Hier wurde der Mondgott in einem neuen Heiligenschrein, in einer mit Edelsteinen geschmückten Halle unter einem von goldenen Pfeilern getragenen Dach aufgestellt und angebetet. Hier erschien, als der Schrein vollendet war, »Wischnu, der Erhalter« den drei Brahminen in einem Traum.

Der Gott hauchte mit seinem göttlichen Athem den Diamanten auf der Stirn des Mondgottes an und die Brahminen knieten nieder und verbargen ihr Antlitz in ihren Gewändern. Gott Wischnu befahl, daß der Mondstein von nun an bis an das Ende der Tage Nacht und Tag abwechselnd von drei Priestern bewacht werden solle.

Und die Brahminen vernahmen sein Wort und beugten sich vor seinem Willen. Der Gott verkündete dem verwegenen Sterblichen, der sich an dem geheiligten Edelstein vergreifen würde, und allen seinen Angehörigen und Nachkommen, die nach ihm in den Besitz desselben gelangen möchten, sicheres Verderben. Und die Brahminen ließen diese Verkündigung über den Eingangsthoren des Tempels in goldenen Buchstaben anbringen.

Jahrhunderte vergingen und noch immer bewachten durch alle Generationen hindurch Nachfolger jener drei Brahminen ihren unschätzbaren Mondstein Nacht und Tag.

Es war im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, als der Groß- Mogul Aurungzebe regierte. Auf sein Gebot entlud sich aber plündernde Raubgier über die der Anbetung Brahma’s geweihten Tempel. Die heilige Stätte des vierarmigen Gottes ward durch das Abschlachten gottgeweihter Thiere geschändet, die Bildnisse der Gottheit zertrümmert und der Mondstein wurde von einem höheren Offizier der Armee Aurungzebes geraubt. Außer Stande, ihren verlorenen Schatz mit offener Gewalt wieder zu erlangen, beschlossen die den Edelstein bewachenden Priester, demselben zu folgen und ihrem Wächteramt in einer Verkleidung treu zu bleiben.

Wieder vergingen Jahrzehnte. Der Offizier, welcher die Tempelschändung verübt hatte, war elend umgekommen, der Mondstein ging, seinen Fluch mit sich führend, von einer gottlosen mohammedanischen Hand in die andere über, und noch immer lagen die Nachfolger der drei Priesterwächter durch allen Wechsel von Ort und Zeit ihrem Wächteramte ob und harrten des Tages, wo es Wischnu dem Erhalter gefallen werde, ihr geheiligtes Juwel wieder in ihre Hand zu geben.

Die Jahre vergingen vom Beginn bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, der Diamant gelangte in den Besitz des Sultans Tippo Saib von Seringapatnam der ihn als Verzierung in den Griff eines Dolches setzen und diesen als eines der schönsten Stücke in seiner Waffenkammer aufbewahren ließ.

Auch jetzt wußten die Priesterwächter ihr heimliches Amt bis in den Palast des Sultans wahrzunehmen. In dem Gefolge Tippo Saib’s befanden sich drei Offiziere von unbekannter Herkunft, die sich durch das vorgebliche Bekenntniß des Islam das Vertrauen ihres Herrn zu gewinnen gewußt hatten, und diese drei Männer bezeichnete das Gerücht als die drei verkleideten Priester.

III

So lautete die in unserm Lager cursirende Phantastische Erzählung über den Mondstein. Auf keinen von uns machte die Geschichte einen besonderen Eindruck, ausgenommen auf meinen Vetter, dessen Neigung zum Wunderbaren ihn ernsthaft an die Sache glauben ließ. Am Vorabend des Sturmes auf Seringapatnam wurde er abgeschmackter Weise ärgerlich über mich und Andere, weil wir das Ganze wie eine Fabel behandelten. Es entspann sich ein thörichter Streit, bei welchem Herncastle’s unglückliches Temperament die Herrschaft über ihn gewann. Er vermaß sich in seiner prahlerischen Manier, uns den Diamanten noch an seinem Finger zu zeigen, wenn die englische Armee Seringapatnam nähme. Diese Großsprecherei wurde von uns mit schallendem Gelächter aufgenommen und damit hatte, nach unser Aller Meinung, die Sache ein Ende.

Sehen wir nun, was sich am Tage der Erstürmung begab. Mein Vetter und ich waren beim Aufbruch getrennt. Ich sah ihn auch weder beim Passiren des Flusses, noch als wir die englische Fahne auf der ersten Bresche aufpflanzten, noch als wir den jenseits dieser Bresche gelegenen Graben durchschritten und uns jeden Schritt unseres Weges erkämpfen mußten, bis wir die Stadt betraten. Erst mit Dunkelwerden waren wir Herren des Platzes und trafen Herncastle und ich wieder zusammen, nachdem General Baird selbst den Leichnam Tippo Saib’s unter einem Haufen von Erschlagenen aufgefunden hatte. Jeder von uns wurde einem auf Befehl des Generals zur Verhütung der Plünderung und Unordnung ausgesandten Detachement beigegeben. Die Soldaten begingen klagenswerthe Excesse und fanden durch eine unbewachte Thür den Eingang in die Schatzkammer des Palastes, wo sie sich mit Gold und Edelsteinen beluden. In dem Hofe vor der Schatzkammer trafen mein Vetter und ich bei dem Versuch zusammen, unsere eigenen Soldaten von ähnlichen Excessen abzuhalten. Herncastle’s feuriges Temperament war, wie ich sofort sah, durch das fürchterliche Gemetzel, das wir eben erlebt hatten, zu einer Art von Wahnsinn gesteigert worden und schien mir äußerst ungeeignet zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe. In der Schatzkammer ging es zwar wild und unordentlich her, ohne daß jedoch, soweit ich sehen konnte, Gewaltthätigkeiten verübt worden wären. Die Leute begingen ihre Excesse, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit guter Laune. Derbe Scherze und Schlagworte liefen unter ihnen um und die Geschichte von dem Diamanten trat auf einmal unerwarteter Weise in Gestalt eines schlechten Witzes wieder auf. »Wer hat den Mondstein gefunden?« war der spottende Ruf, welcher das Plündern fortwährend, wenn es an einer Stelle eben nachgelassen hatte, an einer andern wieder in Gang brachte. "Während ich noch vergeblich bemüht war, Ordnung zu schaffen, vernahm ich ein entsetzlich gellendes Geschrei von der andern Seite des Hofes her und eilte sofort der Richtung dieses Geschreies in der Besorgniß nach, dort einem neuen Ausbruch der Plünderung zu begegnen.

Ich gelangte an eine offene Thür und fand die Leichen zweier Indier (nach ihrer Kleidung Officiere des Palastes) quer vor der Schwelle der Thür liegend. Ein aus dem Innern hervordringender Schrei trieb mich in ein Gemach, welches als Waffenkammer zu dienen schien. Ein dritter Indier sank eben tödtlich verwundet zu den Füßen eines Mannes hin, dessen Rücken mir zugekehrt war. Als ich eintrat, wandte er sich um, und ich erkannte John Herncastle, mit einer Fackel in der einen und einem bluttriefenden Dolch in der andern Hand. Ein als Degenknopf an dem obern Ende des Dolchgriffs befindlicher Stein funkelte mir, als Herncastle sich umdrehte, bei dem Schein der Fackel wie ein Feuerstrom entgegen. Der sterbende Indier sank in die Knie, deutete auf den Dolch in Herncastle’s Hand und sagte in seiner Landessprache »Der Mondstein wird sich an Dir und den Deinigen rächen.« Als er diese Worte gesprochen, fiel er todt zu Boden.

 

Ehe ich noch zur Besinnung gekommen war, drangen die Soldaten, die mir in den Hof gefolgt waren, ein. Mein Vetter stürzte wie ein Wahnsinniger aus sie los.

»Räume das Gemach,« rief er mir zu, »und stelle eine Wache an der Thür auf.« Die Soldaten wichen zurück, als er sich mit seiner Fackel und seinem Dolch auf sie warf. Ich stellte zwei Mann Wache von meiner Compagnie, auf die ich mich verlassen konnte, als Wache an der Thür auf. Bis zum folgenden Tage sah ich meinen Vetter nicht wieder.

Am frühen Morgen des nächsten Tages ließ General Baird, da das Plündern noch fortdauerte, öffentlich unter Trommelschlag verkünden, daß jeder auf der That ertappte Dieb, er sei wer er wolle, gehenkt werden solle. Zum Zeichen, daß dieser Erlaß des Generals ernst gemeint sei, begleitete der Generalprofoß den Ausrufer, und in dem Gedränge von Menschen, welches durch die Proclamation veranlaßt wurde, trafen Herncastle und ich wieder zusammen. Er wollte mir, wie gewöhnlich, die Hand zum Guten Morgen bieten. Bevor ich ihm aber meine Hand reichte, sagte ich: »Erzähle mir erst, wie der Indier in der Schatzkammer ums Leben gekommen ist und was er mit seinen letzten Worten gemeint hat, als er auf den Dolch in Deiner Hand deutete?«

»Der Indier,« antwortete Herncastle, »ist vermuthlich an einer tödtlichen Wunde gestorben. Was er mit seinen letzten Worten gemeint hat, weiß ich so wenig wie Du.«

Ich sah ihm scharf ins Gesicht; seine bis zum Wahnsinn gesteigerte Aufregung vom vorigen Tage war einer vollkommenen Ruhe gewichen. Ich beschloß, ihm noch einmal Gelegenheit zu einer offenen Erklärung zu geben.

»Ist das Alles, was Du mir zu sagen hast?« fragte ich.

Und seine Antwort, war: »Das ist Alles.«

Ich kehrte ihm den Rücken und seitdem haben wir nicht wieder mit einander gesprochen.

Ich möchte keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß das, was ich hier über meinen Vetter niedergeschrieben habe, nur für die Familie bestimmt ist, – es wäre denn, daß Umstände eintreten sollten, welche die Veröffentlichung nothwendig erscheinen lassen würden. Herncastle hat mir nichts gesagt, was mich zu einer Anzeige bei unserm General berechtigen konnte. Mehr als einmal ist er von Denen, die sich seines zornigen Ausbruchs vor der Erstürmung erinnern, wegen des Diamanten geneckt worden; aber wie sich leicht denken läßt, hat seine eigene Erinnerung an die Umstände, unter denen ich ihn in der Schatzkammer getroffen habe, hingereicht, ihm Schweigen aufzuerlegen. Wie es heißt, beabsichtigt er eingestandenermaßen, um meine Nähe zu vermeiden, in ein anderes Regiment einzutreten. Wie dem auch sei, so kann ich mich nicht entschließen, sein Ankläger zu werden, und zwar aus guten Gründen. Denn wenn ich auch die Sache veröffentlichen wollte, so würde ich zur Unterstützung meiner Anklage nur moralische Beweise beibringen können. Ich habe nicht nur keinen Beweis dafür, daß er die beiden Männer in der Thür umgebracht hat, ich kann auch nicht einmal beweisen, daß er den Dritten, in der Schatzkammer selbst, getödtet, denn ich kann nicht behaupten, daß ich mit eignen Augen die That habe begehen sehen. Ich habe zwar die Worte des sterbenden Indiers gehört, wenn aber diese Worte als der Ausbruch einer irren Phantasie erklärt werden sollten, so wäre ich außer Stande, dieser Behauptung aus eigner Wissenschaft zu widersprechen. Unsere beiderseitigen Verwandten mögen sich selbst ihre Ansicht über meine Mittheilung bilden und selbst entscheiden, ob die Abneigung, die ich jetzt gegen Herncastle empfinde, gut oder schlecht begründet ist.

Obgleich ich der phantastischen indischen Sage über den Edelstein keine Art von Glauben beimesse, so muß ich mich doch, bevor ich schließe, zu einer andern Art von Aberglauben in dieser Angelegenheit bekennen.

Ich bin überzeugt oder bilde mir ein, wie man es nun nennen will, daß das Verbrechen sein eigenes Verhängniß in sich trägt. Ich halte mich nicht nur von Herncastles Schuld fest überzeugt, sondern ich bin auch Phantast genug, zu glauben, daß er, wenn er den Diamanten behält, seine That noch bereuen wird, und daß, wenn er sich des Diamanten entäußert, Andere es bereuen werden, ihm denselben abgenommen zu haben.

Die Erzählung

Erste Periode:

Der Verlust des Diamanten

1848
Von Gabriel Betteredge, Haushofmeister im Dienste Lady Julia Verinder’s, berichtete Ereignisse

Erstes Capitel

Im ersten Theil von Robinson Crusoe auf Seite 129 steht zu lesen:

»Jetzt sah ich, wiewohl zu spät ein, wie thöricht es sei, etwas zu unternehmen, bevor man die Kosten berechnet und bevor man sich vergewissert hat, daß man die Kraft besitzt, das Unternommene durchzuführen.«

Noch gestern fiel mir diese Stelle beim Oeffnen von Robinson Crusoe in die Augen, und diesen Morgen, 21. Mai 1850, kam Mylady’s Neffe, Herr Franklin Blake, und hatte die folgende kurze Unterhaltung mit mir.

»Betteredge,« begann Herr Franklin »ich habe mit unserm Advocaten über einige Familien-Angelegenheiten gesprochen, und neben andern Dingen kam auch das vor zwei Jahren geschehene Verschwinden des Familien-Diamanten aus dem Hause meiner Tante in Yorkshire zur Sprache. Der Advokat ist der Meinung, die ich theile, daß der ganze Vorgang im Interesse der Wahrheit so bald wie möglich zu Papier gebracht werden sollte.«

Da ich nicht sogleich merkte, worauf er hinaus wollte, und es ein für allemal um des lieben Friedens Willen für richtig halte, mich auf die Seite der Advokaten zu stellen, so sagte ich: »Der Meinung bin ich auch.«

Herr Franklin fuhr fort: »In dieser Diamantengeschichte,« sagte er, »sind schon unschuldige Personen, wie Sie wissen, verdächtigt worden. Es ist zu fürchten, daß in Ermangelung eines Berichts über die Thatsachen, auf welchen sich unsere Nachkommen berufen können, auch künftig das Andenken unschuldiger Personen verunglimpft werden möchte. Aus diesen Gründen sollte diese unsere sonderbare Familiengeschichte niedergeschrieben werden und ich glaube, Betteredge, der Advokat und ich haben die rechte Art, wie es mit dem Aufzeichnen zu halten sein würde, gefunden.«

Ohne Zweifel sehr angenehm für Beide, nur sah ich noch nicht ein, was ich mit der Sache zu thun haben könnte.

»Wir haben gewisse Thatsachen zu berichten,« fuhr Franklin fort, »und wir haben gewisse bei diesen Thatsachen betheiligte Personen, die im Stande sind, diesen Bericht zu machen Von dieser einfachen Sachlage ausgehend, meint der Advokat, wir sollten alle der Reihe nach von der Geschichte des Mondsteins niederschreiben was Jeder erlebt hat, und weiter nichts. Der Bericht muß damit anfangen, zu erzählen, wie der Diamant zuerst in die Hände meines Onkels Herncastle gelangt ist, als er vor fünfzig Jahren in der englischen Armee diente. Diese einleitende Erzählung besitze ich schon in Gestalt eines alten Familiendocuments welches die nöthigen Details nach der Aussage eines Augenzeugen enthält. Das nächst zu Berichtende ist: wie der Diamant vor zwei Jahren in das Haus meiner Tante in Yorkshire kam und wie er wenig mehr als zwölf Stunden später wieder verloren ging. Kein Mensch weiß so gut wie Sie, Betteredge, was zu jener Zeit im Hause vorging. Sie müssen also die Feder in die Hand nehmen und die Geschichte erzählen.«

So erfuhr ich, was ich persönlich mit der Diamantengeschichte zu thun habe. Wenn man wissen will, wie ich mich unter diesen Umständen bei der Sache benahm, so will ich nur bemerken, daß ich that, was jeder Andere an meiner Stelle wahrscheinlich gethan haben würde. Ich erklärte mich bescheidentlich der mir zugedachten Aufgabe durchaus nicht gewachsen und war mir dabei vollkommen bewußt, daß ich die Aufgabe sehr gut würde lösen können, wenn ich nur meine Talente in Bewegung setzen wollte. Jetzt ist es zwei Stunden her, daß mich Herr Franklin verlassen hat. Kaum war er aus der Thür, als ich mich an mein Schreibpult setzte, um meinen Bericht zu beginnen. Und da sitze ich nun die ganze Zeit, trotz aller meiner Talente, und weiß mir nicht zu helfen, und sehe ein, was Robinson Crusoe auch eingesehen hatte, wie ich oben angeführt habe, wie thöricht es sei, etwas zu unternehmen, bevor man die Kosten berechnet und sich vergewissert hat, ob man die Kraft besitzt, das Unternommene durchzuführen. Ich bitte wohl zu bedenken, daß mir die Stelle grade gestern, also einen Tag ehe ich meine jetzige Arbeit leichtsinniger Weise übernommen habe, zufällig in die Augen gefallen ist, und erlaube mir die Frage, wenn das nicht Prophezeihung ist, was denn.

Ich bin nicht abergläubisch, ich habe meiner Zeit eine Masse von Büchern gelesen, ich bin ein Gelehrter auf eigene Faust. Obgleich ich über siebzig bin, so ist mein Gedächtnis noch frisch und sind meine Beine noch rüstig. Man nehme es daher gefälligst nicht als die Behauptung eines unwissenden Menschen hin, wenn ich sagte, daß es kein zweites Buch wie Robinson Crusoe giebt. Seit Jahren habe ich dies Buch gewöhnlich mit einer Pfeife Tabak im Munde zu Rathe gezogen und habe in allen Lagen des Lebens einen erprobten Freund in der Noth darin gefunden. Wenn ich schlechter Laune bin: Robinson Crusoe, wenn ich Rath brauche: Robinson Crusoe, in vergangenen Tagen, wenn mein Weib mich plagte und jetzt, wenn ich einen Schluck zu viel genommen habe: Robinson Crusoe; ich habe sechs Robinson Crusoe’s mit angestrengtem Lesen in meinem Dienst verbraucht. An Myladys letztem Geburtstage schenkte sie mir ein siebentes Exemplar. Bei dieser Gelegenheit trank ich einen Schluck zu viel und Robinson Crusoe brachte mich wieder in Ordnung. Das Exemplar kostet vier Schillinge sechs Pence, ist blau gebunden und mit einem Titelkupfer versehen.

Dies sieht aber nicht aus wie der Anfang zu einer Geschichte des Diamanten, nicht wahr? Ich schwatze Gott weiß was und gerathe Gott weiß wohin. Ich will ein neues Blatt Papier nehmen, wenn’s dem Leser gefällig ist, und von Frischem anfangen.

Zweites Capitel

Eben habe ich von Mylady gesprochen Nun wäre der Diamant nie in unser Haus gekommen, wo er verloren ging, wenn er nicht Myladys Tochter geschenkt worden wäre, und Mylady’s Tochter hätte nie das Geschenk bekommen können, wenn Mylady sie nicht mit Schmerzen geboren hätte. Wenn wir daher mit Mylady anfangen, so können wir ziemlich sicher sein, unsere Erzählung früh genug zu beginnen, und eine solche Sicherheit ist wahrhaftig beim Beginn einer Arbeit, wie sie mir auferlegt ist, schon ein großer Trost.

Wer etwas von der feinen Welt weiß, hat gewiß von den drei schönen Fräulein Herncastle gehört. Fräulein Adelaide, Fräulein Caroline und Fräulein Julia, welche letztere die jüngste und nach meiner Meinung die beste von den drei Schwestern war, und ich hatte Gelegenheit es zu beurtheilen, wie man gleich sehen wird. Ich trat in die Dienste ihres Vaters, des alten Lords, der uns Gottlob bei dieser Diamantengeschichte nichts angeht. Er hatte die schärfste Zunge und das schlimmste Temperament, die mir bei irgend einem Menschen, hoch oder niedrig, je vorgekommen sind. Ich trat also, wie gesagt, in die Dienste des alten Lord als Page zur Aufwartung der drei jungen Damen, als ich fünfzehn Jahre alt war. Da blieb ich, bis Fräulein Julia den verstorbenen Lord Verinder heirathete. Ein vortrefflicher Mann, der nur Jemanden brauchte, der ihn zu nehmen wußte, und unter uns gesagt, er fand Jemanden, der das verstand, und was mehr ist, er gedieh und wurde dick und fett dabei, und lebte glücklich und starb zufrieden, von dem Tage an, wo Mylady mit ihm zur Kirche ging, um ihn zu heirathen, bis zu dem Tage, wo er seinen letzten Athemzug aushauchte und sie seine Augen für immer schloß.

Ich habe vergessen zu sagen, daß ich mit der jungen Frau nach ihres Gatten Haus und Gütern hierher zog. »John,« sagte sie zu ihm, »ich kann ohne Gabriel Betteredge nicht fertig werden.« »Mylady,« antwortete er, »ich auch nicht.« Das war seine Art, mit ihr zu verkehren, und so kam ich in seinen Dienst. Mir war es ganz einerlei, wo ich hinkam, so lange ich nur mit meiner Herrin zusammen war.

Als ich sah, daß Mylady sich für ländliche Arbeiten, für die Meiereien und dergleichen interessirte, interessirte ich mich auch dafür, umso mehr, als ich selbst der siebente Sohn eines kleinen Pächters war. Mylady stellte mich unter den Gutsverwalter und ich gab mir Mühe und erwarb mir Zufriedenheit und wurde dafür auch befördert. Nach Verlauf einiger Jahre sagte Mylady, wenn ich nicht irre an einem Montag: »John, Dein Gutsverwalter ist ein dummer alter Mann, gieb ihm eine gute Pension und setze Gabriel Betteredge an seine Stelle.« Am Dienstag sagte Sir John: »Mylady, ich habe dem Gutsverwalter eine gute Pension ausgesetzt und habe Gabriel Betteredge seine Stelle gegeben.« Man hört leider genug von Eheleuten, die schlecht mit einander leben, hier haben wir ein Beispiel vom Gegentheil, welches Einigen zur Warnung und Andern zur Ermuthigung dienen mag. Unterdessen will ich in meiner Geschichte fortfahren.

 

Gut also, da saß ich in der Wolle, wird man sagen. Auf einem ehrenvollen Vertrauensposten mit einem kleinen eigenen Häuschen zum Wohnen, mit meiner Beaufsichtigung der Arbeiten auf den Gütern am Morgen, meiner Buchführung am Nachmittag und meiner Pfeife und meinem Robinson Crusoe am Abend; was in der Welt brauchte es mehr zu meinem Glück? Man vergesse aber nicht, was Adam sich wünschte, als er noch allein im Paradiese war, und wenn man diesen Wunsch bei Adam nicht tadelt, so darf man ihn auch bei mir nicht tadeln. Das Frauenzimmer, auf das ich meinen Blick richtete, war meine Haushälterin. Sie hieß Selina Goby. Ich finde, der selige William Cobbett hat Recht: Wenn man eine Frau sucht, muß man sehen daß sie manierlich ißt und ihre Füße fest auf den Boden setzt. Wenn sie diese Eigenschaften hat, kann man ruhig sein. Selina Goby genügte in beiden Beziehungen, was ein Grund war, um sie zu heirathen. Einen anderen Grund fand ich selbst heraus. Ich hatte Selina Goby wöchentlich für ihre Kost und Dienste etwas zu bezahlen. Wenn Selina Goby meine Frau wurde, konnte sie mir nichts für ihre Kost berechnen und mußte mir ihre Dienste umsonst leisten. Das waren die Gesichtspunkte, aus denen ich die Sache betrachtete, Oeconomie mit einem Anflug von Liebe. Ich trug die Sache, wie es meine Pflicht war, meiner Herrin vor. »Ich habe mir Selina Goby durch den Kopf gehen lassen,« sagte ich, »und bin zu der Ueberzeugung gelangt, Mylady, daß es billiger ist, sie zu heirathen, als sie zur Haushälterin zu haben.«

Mylady lachte laut auf und sagte, sie wisse nicht, was sie ärger finden solle, meine Sprache oder meine Grundsätze. Sie fand vermuthlich etwas bei der Sache, was nur die vornehmen Leute verstehen. Ich verstand nur so viel, daß für mich nichts im Wege sei, die Sache jetzt Selina vorzulegen, und so that ich. Und was sagte diese? Wer so fragt, muß bei Gott wenig von Frauen wissen. Natürlich sagte sie ja. Als die Zeit herankam und die Rede davon war, daß ich mir für die Feierlichkeit einen neuen Rock anschaffen müsse, fing ich an, wieder schwankend zu werden. Ich habe mich bei anderen Männern erkundigt, was sie in ähnlicher Lage empfunden haben, und sie haben mir Alle zugegeben, daß sie ungefähr eine Woche vor dem entscheidenden Tage von der Sache loszukommen wünschten. Ich ließ es nicht ganz beim Wünschen bewenden, ich machte einen wirklichen Versuch, loszukommen. Nicht, daß ich es umsonst verlangt hätte, ich war ein zu billig denkender Mann, um zu erwarten, daß sie mich umsonst loslassen würde. Entschädigung für das Frauenzimmer, wenn sie den Mann wieder losläßt, ist in England Rechtens; dieses Gesetzes eingedenk und nachdem ich mir die Sache wohl überlegt hatte, bot ich Selina Goby ein Federbett und fünfzig Shilling, um von dem Geschäft wieder abzukommen. Man wird es kaum glauben, aber es ist doch wahr: Sie war thöricht genug, meinen Vorschlag abzulehnen. Da war natürlich alle Hoffnung für mich vorbei. Ich schaffte mir den neuen Rock so billig wie möglich an und ließ mich alles Uebrige so wenig wie möglich kosten. Wir waren nicht gerade ein glückliches Paar, aber auch kein unglückliches: wir waren halb das Eine und halb das Andere. Wie es kam, weiß ich nicht, aber wir waren uns immer einander im Wege. Wenn ich die Treppe hinaufgehen wollte, so konnte ich sicher sein, daß meine Frau die Treppe hinunter kam, oder umgekehrt, wenn meine Frau die Treppe hinunter wollte, so war ich im Begriff, hinauf zu gehen. So ist es einmal nach meiner Erfahrung in der Ehe.

Nachdem das Caramboliren auf der Treppe fünf Jahre lang gedauert hatte, gefiel es der allweisen Vorsehung, meine Frau von mir zu nehmen und uns so von einander zu erlösen. Ich blieb mit meiner kleinen Penelope allein übrig. Kurz nachher starb Sir John und Mylady blieb mit ihrer Tochter Fräulein Rachel allein. Ich müßte mich sehr schlecht über Mylady ausgedrückt haben, wenn ich noch zu sagen brauchte, daß meine Herrin sich meiner kleinen Penelope annahm und daß sie in die Schule geschickt und unterrichtet und ein gescheidtes Mädchen wurde. Als sie alt genug dazu war, wurde sie Fräulein Rachels Kammerjungfer. Was mich anlangt, so bekleidete ich mein Amt als Gutsverwalter ununterbrochen weiter bis zum Weihnachtstag 1847, wo eine Veränderung in meinem Leben eintrat. An jenem Tage lud sich Mylady zu einer Tasse Thee allein mit mir in meinem Häuschen bei mir ein. Sie bemerkte, daß ich von der Zeit an gerechnet, wo ich als Page zu dem alten Lord in’s Haus gekommen, mehr als fünfzig Jahre in ihren Diensten gewesen sei, und gab mir eine schöne wollene Weste, die sie selbst für mich gestrickt hatte, um mich an kalten Wintertagen damit warm zu halten.

Ich nahm dieses prachtvolle Geschenk entgegen und fühlte mich ganz unfähig, Worte zu finden, mit denen ich meiner Herrin für die mir erwiesene Ehre hätte danken können. Zu meinem größten Erstaunen aber stellte es sich bald heraus, daß die Weste kein Ehrengeschenk, sondern eine Bestechung sei. Mylady hatte herausgefunden, daß ich alt werde, bevor ich es selbst gemerkt hatte, und sie war zu mir gekommen, um mich, wenn ich so sagen darf, zu beschwatzen, meine anstrengende Beschäftigung im Freien als Gutsverwalter aufzugeben und meine Tage als Haushofmeister im Schloß in Ruhe zu beschließen. Ich wehrte mich so gut ich konnte gegen die unwürdige Zumuthung, mich zur Ruhe zu setzen. Aber meine Herrin kannte meine schwache Seite und stellte mir die Sache als eine Gefälligkeit gegen sie vor. Unsere Unterhaltung endete damit, daß ich mir die Augen wie ein alter Narr mit meiner wollenen Weste trocknete und sagte, ich wolle mir die Sache überlegen.

Meine Gemüthsverfassung bei dieser Ueberlegung, nachdem Mylady mich verlassen hatte, war wirklich schrecklich und so nahm ich meine Zuflucht zu dem Mittel, das ich in zweifelhaften und schwierigen Fällen noch nie vergebens angewandt hatte. Ich steckte mir eine Pfeife an und schlug meinen Robinson Crusoe auf. Keine fünf Minuten hatte ich in diesem merkwürdigen Buche gelesen, da stieß ich auf folgende tröstliche Stelle auf Seite 158: »Heute lieben wir, was wir morgen hassen.« Auf der Stelle sah ich, was ich zu thun hatte. Heute war ich ganz von dem Wunsche erfüllt, Gutsverwalter zu bleiben, morgen würde ich nach Robinson Crusoe’s Wort ganz anders denken. Also mußte ich, so lange ich in dieser Stimmung von »morgen« war, mich auf morgen richten, und die Sache war gethan. Nachdem mein Gemüth so beruhigt war, legte ich mich als Lady Verinder’s Gutsverwalter zu Bett und stand am nächsten Morgen als Lady Verinder’s Haushofmeister in einer ganz behaglichen Stimmung auf, die ich lediglich Robinson Crusoe verdanke.

Eben sieht mir meine Tochter Penelope über die Schulter, um zu sehen, was ich bis jetzt geschrieben habe. Sie bemerkt, daß es sehr schön geschrieben ist und Alles die reine Wahrheit, aber sie macht eine Einwendung Sie sagt, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist durchaus nicht das, was ich schreiben sollte. Ich solle die Geschichte des Diamanten schreiben und statt dessen habe ich meine eigene Geschichte geschrieben, sonderbar genug und mir selbst unbegreiflich. Ich möchte wohl wissen, ob es den Herren, die vom Bücherschreiben leben, auch wie mir begegnet, daß ihnen mitten in ihren Erzählungen ihre eigene Geschichte in die Feder kommt. Wenn dem so ist, so kann ich mich sehr gut in ihre Lage versetzen. Einerlei, da habe ich schon wieder verkehrt angefangen, was ist nun zu thun? So viel ich sehe, nichts Anderes, als für meine Leser: nicht die Geduld zu verlieren, und für mich: die ganze Geschichte zum dritten Mal von vorne anzufangen.