Blinde Liebe

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Blinde Liebe
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Blinde Liebe

Wilkie Collins

Inhaltsverzeichnis

linde Liebe.(Blind Love.)

Inhaltsverzeichnis

Erster Band.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Achzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Achtunddreißigstes Kapitel.

Zweiter Band

Neununddreißigstes Kapitel.

Vierzigstes Kapitel.

Einundvierzigstes Kapitel.

Zweiundvierzigstes Kapitel.

Dreiundvierzigstes Kapitel.

Vierundvierzigstes Kapitel.

Fünfundvierzigstes Kapitel.

Sechsundvierzigstes Kapitel.

Siebenundvierzigstes Kapitel.

Achtundvierzigstes Kapitel.

Neunundvierzigstes Kapitel.

Fünfzigstes Kapitel.

Einundfünfzigstes Kapitel.

Zweiundfünfzigstes Kapitel.

Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Vierundfünfzigstes Kapitel.

Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Siebenundfünfzigstes Kapitel.

Achtundfünfzigstes Kapitel.

Neunundfünfzigstes Kapitel.

Sechzigstes Kapitel.

Einundsechzigstes Kapitel.

Zweiundsechzigstes Kapitel.

Dreiundsechzigstes Kapitel.

Vierundsechzigstes Kapitel.

Fünfundsechzigstes Kapitel.

Sechsundsechzigstes Kapitel.

Siebenundsechzigstes Kapitel.

Achtundsechzigstes Kapitel.

Neunundsechzigstes Kapitel.

Siebzigstes Kapitel.

Einundsiebzigstes Kapitel.

Zweiundsiebzigstes Kapitel.

Dreiundsiebzigstes Kapitel.

Vierundsiebzigstes Kapitel.

Informationen zum Text:

Impressum


linde Liebe.
(Blind Love.)

Roman

von

Wilkie Collins.

Illustrationen von A. Forestier.


Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien.

Deutsche Verlags-Anstalt.

1890.

Illustrationen entnommen:

Blind Love

London :

Chatto & Windus, Picadilly

1890.

Druck und Papier der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart.

Alle Rechte,

insbesondere das Recht der Uebersetzung in andere Sprachen, vorbehalten.

Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.

Quelle: www.wilkiecollins.de

Erster Band.


Erstes Kapitel.

An einem trüben Morgen des Jahres 1881 störte bald nach Sonnenaufgang eine besondere Botschaft die Ruhe Dennis Howmores in seiner Wohnung, die in dem freundlichen irischen Städtchen Ardoon gelegen war.

Augenscheinlich wohlbekannt mit den Räumlichkeiten stieg der Ueberbringer die Treppe hinauf, klopfte an die Thür von Howmores Schlafzimmer und richtete, ohne zu öffnen, mit lauter Stimme seinen Auftrag aus:

 

»Der Herr will Sie sprechen; Sie sollen ihn nicht zu lange warten lassen!«

Der, welcher diesen gemessenen Befehl schickte, war Sir Giles Mountjoy von Ardoon, Baronet und Bankier, und der Empfänger sein erster Commis. Schleunigst kleidete sich Dennis Howmore an und eilte in die Privatwohnung seines Chefs, welche in der Vorstadt von Ardoon lag.

Er fand Sir Giles in einem aufgeregten und beunruhigten Gemütszustand. Ein Brief lag geöffnet auf des Bankiers Bett; die Nachtmütze saß verschoben und zerdrückt auf seinem Kopf; er war in so großer Erregung, daß er den Guten-Morgen-Gruß Howmores gar nicht beachtete.

»Dennis, ich habe einen Auftrag für Sie; die Sache muß aber ganz geheim gehalten werden und erlaubt keinen Aufschub.«

»Hängt sie in irgend einer Weise mit dem Geschäft zusammen, Sir?«

Der Bankier fuhr ungeduldig auf.

»Wie können Sie solch ein höllischer Narr sein, Dennis, und glauben, daß es sich in dieser frühen Morgenstunde um eine Geschäftsangelegenheit handelt? Wissen Sie den ersten Meilenstein auf dem Weg nach Garvan?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Dann gehen Sie sogleich dorthin und tragen Sorge, daß Sie niemand dort erblickt. Sehen Sie hinter dem Stein nach, und wenn Sie da auf dem Boden einen Gegenstand entdecken, welcher hingelegt zu sein scheint, so bringen Sie ihn mir. Vergessen Sie aber dabei nicht, daß der ungeduldigste Mann in ganz Irland auf Sie wartet.«

Nicht ein einziges erklärendes Wort folgte diesem sonderbaren Auftrage.

Dennis Howmore machte sich sogleich auf den Weg, während ihm als echtem Irländer allerlei Verschwörungs- und Mordgeschichten im Kopf herumgingen, Sein Chef war keine beliebte Persönlichkeit. Sir Giles hatte stets seine Steuern gezahlt, wenn sie fällig waren, und war mit Freuden bereit, – und das war noch schlimmer – anzuerkennen, was England im Laufe der letzten fünfzig Jahre für Irland gethan hatte. Wenn irgend etwas Verdächtiges an dem geheimnisvollen Gegenstand, den er zu suchen ausgesandt war, sein Mißtrauen rechtfertigen sollte, so beschloß Dennis, vorsichtig Umschau zu halten nach einem etwaigen Flintenlauf, wenn er auf seinem Heimweg nach der Stadt an einer Hecke vorüber mußte.

Bei dem Meilenstein angekommen, entdeckte er hinter demselben auf dem Boden nur einen einzigen Gegenstand – ein Stück von einer zerbrochenen Tasse.

Ganz natürlich zögerte Dennis, dies mitzunehmen, denn es schien ihm einfach ganz unmöglich, daß die ernsten und genauen Verhaltungsmaßregeln, die er erhalten hatte, mit solch einer Scherbe in Beziehung stehen könnten. Doch lautete sein Auftrag so bestimmt, wie ihn Ton, Ausdruck und Sprache nur irgend geben konnten. Die einfache Befolgung der empfangenen Befehle schien das richtigste zu sein, selbst auf die Gefahr hin, daß er von seinem Herrn, wenn er mit einer zerbrochenen Tasse in der Hand zurückkam, in einer Weise empfangen würde, die seiner Selbstachtung zu nahe trat.

Der Erfolg jedoch rechtfertigte diese seine Bedenken durchaus nicht. Es konnte ihm gar kein Zweifel bleiben, daß Sir Giles auf den anscheinend ganz wertlosen Fund hinter dem Meilenstein großes Gewicht legte. Nachdem er die Scherbe mehrere male genau untersucht hatte, sprach er die Absicht aus, Dennis auf einen zweiten Botengang zu schicken, ohne sich auch jetzt zu einer näheren Erklärung seiner unverständlichen Aufträge herbeizulassen.

»Wenn ich mich nicht irre,« begann er, »sind die Lesezimmer unserer Stadtbibliothek von morgens neun Uhr an geöffnet. – Nicht wahr? – Gut! Dann gehen Sie mit dem Schlag neun dorthin.« Er hielt im Reden inne und zog den Brief zu Rate, der geöffnet auf seinem Bett lag. »Lassen Sie sich,« fuhr er nach einer Weile fort, »von dem Bibliothekar den dritten Band von Gibbons ›Niedergang und Fall des römischen Kaiserreiches‹ geben. Darin schlagen Sie die Seiten achtundsiebenzig und neunundsiebenzig auf. Finden Sie zwischen diesen beiden Blättern ein Stück Papier, so nehmen Sie es an sich, aber ohne daß es jemand sieht, und bringen es mir. Das ist alles, Dennis, und vergessen Sie dabei nicht, daß ich nicht eher meine Ruhe finden kann, bis ich Sie wiedersehe.«

Für gewöhnlich war Dennis durchaus nicht der Mann darnach, auf dem zu bestehen, was er seiner Würde schuldig sein zu müssen glaubte. Doch war er andererseits wieder ein sehr empfindliches menschliches Wesen, das sich wohlbewußt war der Bedeutung, welche ihm seine verantwortliche Stellung im Geschäft verlieh. Die sonderbare und geradezu beleidigende Zurückhaltung Sir Giles', für die er nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hatte, erreichte jetzt die Grenze der Geduld Howmores.

»Ich sehe mit Bedauern,« sagte er, »daß ich meinen Platz in der Achtung meines Chefs verloren habe. Der Mann, dem Sie die Oberaufsicht über Ihre Angestellten und über Ihre Geschäfte anvertrauen, hat nach meiner unmaßgeblichen Meinung auch eine gewisse Berechtigung, – unter den gegenwärtigen Verhältnissen – ins Vertrauen gezogen zu werden.«

Jetzt war der Bankier seinerseits beleidigt.

»Ich gestehe Ihnen gern diese Berechtigung zu,« antwortete er, »so lange Sie an Ihrem Pult in meinem Geschäft sitzen. Aber gerade in diesen unruhigen Zeiten der Arbeitseinstellungen und anderer schlimmen Dinge ist dem Chef ein Vorrecht geblieben – er hat nicht aufgehört, ein Mensch zu sein, und hat daher auch nicht das Recht des Menschen verwirkt, Geheimnisse für sich zu haben. Ich kann in meinem Verhalten Ihnen gegenüber durchaus nichts finden, was Ihnen irgend einen stichhaltigen Grund gewähren könnte, sich zu beklagen.«

Auf diese Abfertigung hin verbeugte sich Dennis stillschweigend und ging weg.

Bedeutete diese stumme Ergebung in sein Schicksal, daß er befriedigt war? Durchaus nicht, sie bedeutete gerade das Gegenteil. Dennis hatte sich überlegt, daß diese Geheimnisse des Sir Giles Mountjoy früher oder später aufhören würden, Geheimnisse für den ersten Commis Sir Giles Mountjoys zu sein.

Zweites Kapitel.

Den erhaltenen Befehlen getreulich nachkommend, ließ sich Dennis den dritten Band von Gibbons großem Geschichtswerk geben und fand zwischen der achtundsiebzigsten und neunundsiebzigsten Seite diesmal, was ihm der Beachtung mehr wert erschien.

Es war ein Blatt sehr feinen Papiers, von einer Anzahl kleiner Löcher durchbohrt, die ganz verschieden an Größe und mit der peinlichsten Sorgfalt ausgeführt waren. Nachdem er sich, sobald der Bibliothekar ihm den Rücken zugewendet, in den Besitz dieses merkwürdigen Gegenstandes gesetzt hatte, dachte Dennis Howmore über seinen Fund nach.

Ein Blatt Papier, zu irgend einem bestimmten, unbekannten Zweck mit Löchern versehen, deren Bedeutung er nicht erraten konnte, war an sich schon ein höchst verdächtiges Ding. Und was flüsterte dieser Verdacht dem nachgrübelnden Geist des argwöhnischen Mannes in Südwest-Irland vor der Unterdrückung der Landliga zu? Ganz ohne Frage das Wort – Polizei.

Auf dem Rückweg zu seinem Herrn machte Dennis einen Besuch bei einem alten Freund, der als Zeitungsschreiber mancherlei Kenntnisse und große Erfahrung besaß. Aufgefordert, das merkwürdige Stück Papier zu betrachten und den Gegenstand zu bestimmen, womit diese Löcher gemacht worden seien, zeigte sich die zu Rate gezogene Autorität des in sie gesetzten Zutrauens würdig. Dennis verließ das Zeitungsbureau als ein erleuchteter Mann; er kannte jetzt die Geheimnisse Sir Giles', und das Gefühl der Erleichterung, das ihn bei diesen Gedanken überkam, machte sich höchst unehrerbietig in den Worten Luft: »Jetzt hab' ich ihn.«

Der Bankier blickte ratlos von dem Papier auf seinen ersten Commis und von diesem wieder auf das Papier zurück und sagte endlich:

»Das verstehe ich nicht. Verstehen Sie es vielleicht?«

Dennis bewahrte immer noch den Schein der Unterwürfigkeit und bat um die Erlaubnis, eine Vermutung äußern zu dürfen. Dieser durchlöcherte Papierbogen sah nach seiner Meinung wie ein Rätsel aus.

»Wenn wir noch einen oder zwei Tage warten,« riet er seinem Herrn, »werden wir den Schlüssel dazu schon bekommen.«

Am nächsten Tag ereignete sich nichts. Am zweiten Tag aber stellte ein zweiter Brief eine kühne Anforderung an den nicht sehr geduldigen Sir Giles Mountjoy.

Schon das Couvert war ein Rätsel in diesem Fall; das Postzeichen war »Ardoon«. Mit anderen Worten, der Schreiber hatte den Postmann als Boten benützt; während er oder sein Helfershelfer wirklich in der Stadt sich aufhielt, hatte er doch den Brief auf der Post aufgegeben, die nur ein paar Schritte von dem Bankhause entfernt lag. Der Inhalt bot ein undurchdringliches Rätsel; die Schrift machte den Eindruck, als ob sie von einem Verrückten herrührte; die Sätze befanden sich in einem unglaublichen Zustand der Verwirrung, und die Worte waren so verstümmelt, daß man sie gar nicht verstehen konnte. Diesmal lagen die Verhältnisse so, daß Sir Giles nicht anders konnte, als seinen ersten Commis in das Geheimnis einzuweihen.

»Wir wollen mit dem Anfang beginnen,« sagte er. »Hier ist der Brief, den Sie auf meinem Bette liegen sahen, als ich Sie das erste mal holen ließ. Ich fand ihn auf meinem Tisch, als ich an jenem Morgen erwachte. Wie er dorthin gekommen ist, das weiß ich nicht. Lesen Sie ihn.«

Dennis las wie folgt:

»Sir Giles Mountjoy! Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt. Bevor ich wagen kann, mich zu erklären, muß ich versichert sein, daß ich Ihnen trauen darf, und als Beweis hiefür fordere ich von Ihnen, daß Sie die folgenden zwei Bedingungen erfüllen und zwar ohne den geringsten Zeitverlust. Ich darf Ihnen nicht meinen Namen und meine Adresse nennen. Die geringste Unvorsichtigkeit meinerseits könnte sehr verhängnisvoll werden für den wahren Freund, der diese Zeilen schreibt. Wenn Sie meine Warnung nicht beherzigen, werden Sie es bis an Ihr Lebensende bedauern.«

Die beiden in dem Briefe genannten Bedingungen brauchen wir nicht noch einmal mitzuteilen. Von ihnen ist schon berichtet worden bei Gelegenheit der Funde, die hinter dem Meilenstein und zwischen den Seiten von Gibbons Geschichte gemacht wurden. Sir Giles war schon zu dem Schluß gekommen, daß ein Anschlag auf sein Leben und vielleicht auf Beraubung des Bankhauses im Entstehen begriffen sei. Der vernünftigere Dennis wies auf das durchlöcherte Papier und das unverständliche Schreiben hin, welches der Bankier heute morgen erhalten hatte, und sagte:

»Wenn wir herausbekommen können, was dies bedeutet, dann werden Sie besser im stande sein, sich eine richtige Meinung zu bilden.«

»Und wer wird das können?« fragte der Bankier.

»Ich kann es nur versuchen, Sir,« lautete die bescheidene Entgegnung, »wenn Sie in einem Versuche meinerseits nicht etwa eine Anmaßung sehen.«

Sir Giles gab seine Zustimmung zu dem vorgeschlagenen Versuche durch stummes und spöttisches Nicken mit dem Kopfe zu erkennen.


Aber Dennis war ein vorsichtiger Mann und machte deshalb auch nicht gleich vollständigen Gebrauch von der ihm privatim gewordenen Belehrung: das hätte seinem Chef doch verdächtig vorkommen können. Er trug vielmehr Sorge, daß der erste Versuch ein erfolgloser war. Dann fragte er bescheiden, ob er noch einen zweiten Versuch machen dürfe, und diesen zweiten Versuch ließ er zu einem glücklichen Ende kommen. Er hob das durchlöcherte Papier in die Höhe und legte es sorgfältig auf den Brief, der das unverständliche Geschreibsel enthielt. Worte und Sätze erschienen jetzt durch die Löcher in der richtigen Anordnung und Folge. Der Inhalt war an Sir Giles gerichtet und lautete folgendermaßen:

»Ich spreche Ihnen meinen Dank aus für die pünktliche Erfüllung der gestellten Bedingungen. Sie haben zu Ihrem eigenen Besten mich zufriedengestellt. Gleichwohl ist es leicht möglich, daß Sie noch Bedenken tragen, einem Menschen zu trauen, der noch nicht im stande ist, Sie mit seiner Person bekannt zu machen. Aber die gefährliche Lage, in der ich mich befinde, zwingt mich, Sie noch um zwei oder drei Tage Frist zu bitten, bevor ich ohne Gefahr für mich eine Begegnung mit Ihnen herbeiführen und mich so Ihnen zu erkennen geben kann. Fassen Sie sich daher, bitte, in Geduld und wenden Sie sich um keinen Preis um Rat oder Schutz an die Polizei.«

 

»Diese letzten Worte,« erklärte Sir Giles, »sind entscheidend! Je eher ich unter dem Schutz des Gesetzes stehe, um so besser ist es für mich. Tragen Sie meine Karte auf das Polizeiamt.«

»Darf ich mir erst ein paar Worte erlauben, Sir?«

»Soll das heißen, daß Sie mit mir nicht übereinstimmen?«

»Ja, Sir.«

»Sie sind Ihr Lebtag eigensinnig gewesen, Dennis, und das nimmt zu, je älter Sie werden. Nun, das thut nichts: sprechen Sie sich nur deutlich aus. Wer ist denn nach Ihrer Ansicht die Person, auf welche es in diesen verwünschten Briefen abgesehen ist?«

Dennis Howmore nahm den ersten der beiden Briefe in die Hand und zeigte auf die Anfangsworte: »Sir Giles Mountjoy, ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, welche ein Glied Ihrer Familie nahe berührt.« Dennis wiederholte noch einmal nachdrücklich die Worte: »ein Glied Ihrer Familie.«

Sein Chef sah ihn erstaunt und fragend an.

»Ein Glied meiner Familie?« wiederholte nun Sir Giles seinerseits. »Nun, mein Freund, was denken Sie darüber? Ich bin ein alter Junggeselle und habe keine Familie.«

»Ihr Bruder ist auch noch da, Sir.«

»Mein Bruder lebt in Frankreich – ganz außer dem Bereiche jener Schurken, die mich bedrohen. Ich wollte, ich wäre bei ihm.«

»Ihr Bruder hat auch zwei Söhne, Sir Giles.«

»Gewiß; was ist da aber zu befürchten? Mein Neffe Hugh ist in London und hält sich von allen politischen Dingen fern. Ich hoffe über kurz oder lang von ihm zu hören, daß er sich verheiraten wird, wenn das beste und niedlichste Mädchen in England ihn haben will. Was ist jetzt dabei Schlimmes?«

Dennis erklärte:

»Ich will nur sagen, Sir, daß ich bei meinen Worten an Ihren andern Neffen gedacht habe.«

Sir Giles lachte.

»Arthur in Gefahr?« rief er aus. »Der harmloseste junge Mann, der jemals gelebt hat? Das Schlimmste, was man von ihm sagen kann, ist, daß er sein Geld zum Fenster hinauswirft infolge seiner verrückten Idee, in Kerry ein Gut zu pachten.«

»Entschuldigen Sie, Sir Giles, dort, wo er sich jetzt befindet, ist aber nicht viel Gelegenheit, sein Geld wegzuwerfen. Niemand wird wagen, sein Geld zu nehmen. Ich traf gestern auf dem Markt einen von Herrn Arthurs Nachbarn. Ihr Neffe ist boykottirt.«

»Um so besser!« erklärte der hartnäckige Bankier. »Dann wird er wenigstens bald von der Verrücktheit, den Pächter zu spielen, geheilt werden und an den Platz zurückkehren, den ich für ihn in meinem Geschäft offen halte.«

»Gott gebe es!« sagte Dennis ernst und bewegt.

Einen Augenblick schwieg Sir Giles betroffen still. Dann fragte er:

»Haben Sie irgend etwas gehört, was Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt haben?«

»Nein, Sir. Ich habe nur an etwas gedacht, was Sie – verzeihen Sie den Ausdruck – vergessen zu haben scheinen. Der letzte Pächter dieses Gutes in Kerry weigerte sich, den Pachtzins zu entrichten. Herr Arthur hat also ein Gut gepachtet, das man ein weggenommenes Gut nennt. Es ist meine feste Ueberzeugung,« sagte der Buchhalter, indem er sich erhob und mit ernster Stimme sprach, »daß die Person, welche jene Briefe an Sie gerichtet hat, Herrn Arthur kennt und weiß, daß er sich in Gefahr befindet; sie versucht, durch Sie Ihren Neffen zu retten, und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel.«

Sir Giles schüttelte den Kopf.

»Das nenne ich aber eine weit hergeholte Erklärung, Dennis. Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, warum wandte sich denn der Schreiber dieser anonymen Briefe nicht geradenwegs an Arthur, anstatt an mich?«

»Ich habe soeben meine Ansicht darüber geäußert, Sir, daß nämlich der Schreiber des Briefes Herrn Arthur kennt.«

»Ja, das haben Sie. Aber was besagt das?«

Dennis erklärte seine Worte.

»Jeder, der mit Herrn Arthur bekannt ist, weiß, daß der junge Mann neben allen möglichen guten Eigenschaften starrköpfig und tollkühn ist. Wenn ein Freund ihm sagen würde, er befände sich auf seinem Pachthof in Gefahr, das würde an sich genügen, ihn dort, wo er sich befindet, festzuhalten und der Gefahr Trotz zu bieten. Sie dagegen, Sir, sind bekannt als vorsichtig, bedachtsam und besonnen.« Er hätte hinzusetzen können: feig und eigensinnig, engherzig und von maßlosem Eigendünkel besessen; aber der Respekt vor seinem Chef hatte seine Beobachtungsgabe schon seit einer langen Reihe von Jahren in dieser Hinsicht getrübt. Wenn manche mit einem Löwenherzen geboren sind, so hat die Natur anderen den Mut eines Esels verliehen. Dennis' Herz gehörte zu den anderen.

»Sehr hübsch gegeben,« entgegnete Sir Giles befriedigt. »Die Zeit wird lehren, ob man wegen einer so durchaus unbedeutenden Person, wie mein Neffe Arthur ist, sich einen Mord auf das Gewissen ladet. Die Anspielung auf ihn ist eine einfache Zweideutigkeit, welche nur bezwecken soll, daß ich weniger auf meiner Hut bin. Meine Stellung, mein Geld, mein Einfluß in der Gesellschaft machen mich zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Gehen Sie jetzt gleich auf das Polizeiamt, und bringen Sie den ersten besten Beamten, den Sie dort im Dienst treffen, mit hierher.«

Der gute Dennis Howmore näherte sich nur sehr widerwillig der Thüre. Bevor er jedoch das Ende des Zimmers, an dem sich der Ausgang befand, erreicht hatte, wurde die Thür von außen geöffnet. Einer der Markthelfer der Bank meldete einen Besuch.

»Miß Henley, Sir, wünscht zu wissen, ob Sie zu sprechen sind.«

Sir Giles blickte angenehm überrascht auf. Lebhaft erhob er sich, um die Dame zu empfangen.