Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)
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H. G. Wells MR. BLETTSWORTHY AUF DER INSEL RAMPOLE

Dem

unvergänglichen

Andenken

CANDIDES

gewidmet

DAS ERSTE KAPITEL

berichtet, wie Mr. Blettsworthy auf eine Seereise geschickt wird, um den Stand seiner Gesundheit zu verbessern, und gibt einigen Aufschluß über seinen damaligen Geisteszustand.

1
Die Familie Blettsworthy

Die Blettsworthys, meine Familie, sind allezeit sehr gewissenhafte und vornehme Leute gewesen, die Blettsworthys aus Wiltshire vielleicht sogar in noch höherem Maße als die aus Sussex. Man möge es mir verzeihen, wenn ich einiges über sie sage, ehe ich meine eigene Geschichte beginne. Ich bin stolz auf meine Ahnen und auf die guten Sitten und die heitere Lebensart, die sie mir vererbt haben. Der Gedanke an sie hat mich, wie ich erzählen werde, in so mancher schwierigen Lage gestützt und aufrecht erhalten. »Was«, so habe ich mich stets gefragt, »soll ein Blettsworthy tun?« Und ich habe es zumindest versucht, mich durch meine Haltung meiner Familie würdig zu zeigen.

Es hat allezeit Blettsworthys in England gegeben, und zwar im Süden und im Westen des Landes, und sie sind stets so ziemlich dieselbe Art von Menschen gewesen. Zahlreiche Grabschriften und ähnliche Aufzeichnungen, die weit hinter die Zeit der Tudors zurückreichen, legen Zeugnis für ihre Tugenden ab, für ihr Wohlwollen, ihre Rechtschaffenheit und ihren unaufdringlichen Reichtum. Es soll auch im Languedoc einen Zweig der Familie geben, doch weiß ich darüber nichts Bestimmtes. Einige Blettsworthys sind nach Amerika, insbesondere nach Virginia ausgewandert, scheinen aber dort verschluckt worden zu sein und sind verlorengegangen. Doch zeichnet sich meine Familie durch eine zähe Eigenart aus, die nicht so leicht verschwindet. Vielleicht weiß irgendein amerikanischer Leser etwas über das Schicksal dieses Zweiges der Blettsworthys. Dergleichen Zufälle gibt es. In der Kathedrale von Salisbury steht die Alabaster-Statue eines Bischofs Blettsworthy; sie wurde aus der Kirche des alten Sarum dahin gebracht, als man dieses Städtchen dem Erdboden gleichmachte und Salisbury errichtete; das Marmorantlitz könnte als ein Bildnis meines Oheims, des Rektors von Harrow Hoeward, gelten, und die feinen Hände gleichen völlig den seinen. Es muß Blettsworthys in Amerika geben, und ich kann es kaum begreifen, daß man nichts von ihnen hört. Gewisse Züge ihrer Wesensart zeigen sich, wie man mir sagt, in der Landschaft Virginias, die weit, warm und freundlich sein soll, gleich unserem englischen Downland an sonnigen Tagen.

Die Blettsworthys sind eine Familie der Bodenkultur. Mit dem Handel haben sie sehr wenig zu tun gehabt, weder en gros noch en detail, auch haben sie in der unmittelbaren Entwicklung dessen, was man Industrialismus nennt, keine Rolle gespielt. Sie haben die Theologie der Jurisprudenz vorgezogen, noch lieber aber sich klassischen, botanischen und archäologischen Studien gewidmet; doch haben sie, wie das Domesday Book, jenes alte, unter Wilhelm dem Eroberer angelegte große Reichsgrundbuch Englands, beweist, ihre Pflicht dem Lande gegenüber wohl erfüllt, und Blettsworthy’s Bank ist in unserem Zeitalter der Verschmelzung eine der letzten bedeutenden Privatbanken. Sie spielt im Leben Westenglands immer noch eine wichtige Rolle. Die Blettsworthys wandten sich, dessen mag der Leser sicher sein, nicht aus Gier nach Wuchergewinn dem Bankwesen zu, sondern einfach nur, um den Bedürfnissen und Forderungen der weniger vertrauenswürdigen Nachbarn in Gloucestershire und Wiltshire entgegenzukommen. Der Zweig in Sussex ist vielleicht nicht ganz so frei von kaufmännischem Geist wie der in Wiltshire; während der Kriege mit Frankreich übte er »Freihandel«, was damals genau genommen ungesetzlich und überdies ein recht gefährliches Abenteuer war. Doch trotz des gewaltsamen Endes von Sir Carew Blettsworthy und seines Neffen Ralph infolge einer Meinungsverschiedenheit mit einigen Zollbeamten, die zu einem Blutvergießen in den Straßen von Rye führte, erwarb dieser Zweig durch seine Tätigkeit beträchtlichen Reichtum und örtlichen Einfluß und hat seine Beziehungen zur Einfuhr von Seidenstoffen und Branntwein bis auf den heutigen Tag nicht völlig gelöst.

Mein Vater war ein Mann von echtem Wert, aber exzentrischem Handeln. Viele seiner Taten bedurften der Erläuterung, ehe die Stichhaltigkeit seiner Beweggründe klar zutage trat, und manche konnten infolge der räumlichen Entfernung von der Heimat und aus gewohnheitsmäßiger Nachlässigkeit oder aus anderen Gründen niemals völlig geklärt werden. Es liegt den Blettsworthys nicht, Erklärungen abzugeben. Sie verlassen sich in der Regel auf ihr Ansehen. Da mein Vater der fünfte Sohn seiner Eltern war, keinerlei Aussichten auf ein Vermögen hatte und auch keinerlei leicht in Geld umzusetzende Fähigkeiten besaß, rieten ihm Freunde und Verwandte, sein Glück im Auslande zu versuchen; er verließ Wiltshire in jungen Jahren, um, wie er sagte, Gold zu suchen; er suchte es, das muß ich zugeben, ohne jedwede Gier und überdies zumeist an völlig ungeeigneten Plätzen. Gold kommt, wie ich höre, nur in ganz wenigen bestimmten Erdstrichen vor und wird in der Regel nicht von einzelnen, sondern im Rahmen eines »Goldrausches« gefunden; mein Vater aber hatte eine Abneigung gegen Menschenmengen und deren Verhalten; er zog es vor, das seltene und edle Metall in einer angenehmen Umgebung zu suchen, in der ihm der häßliche Wettkampf mit unkultivierten Menschen erspart blieb; inzwischen lebte er von den sehr bescheidenen Mitteln, die ihm seine wohlhabenderen Freunde und Verwandten zur Verfügung stellten. Seine Aussichten, eine Goldmine zu entdecken, wurden, das wußte er, durch sein Verhalten kaum gefördert, doch meinte er, daß es ihm die Hoffnung gewährte, irgendeinen anderen glücklichen Fund, den er machen mochte, für sich allein auszunützen. Bezüglich der Ehe war er leichtsinniger, als es unter den Blettsworthys üblich ist: Er ging mehrere Heiraten ein, einige davon in ziemlich formloser Weise – doch sind wir Blettsworthys alle ziemlich unvorsichtig im Abschließen von Verträgen. Meine Mutter war halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung und hatte auch einen Tropfen madeirischen Blutes in den Adern. Madeira ist auch mein Geburtsort.

Meine Geburt war durchaus legitim; gewisse Verwirrungen in den ehelichen Verhältnissen meines Vaters entstanden erst später, und zwar als eine Folge der außerordentlich wandelbaren Natur der Ehe in tropischen und subtropischen Landstrichen.

Meine Mutter war, das schließe ich aus Briefen meines Vaters, eine Frau von leidenschaftlicher Selbstvergessenheit, in meiner Veranlagung aber scheint ihre Wesensart keineswegs völlig ausgemerzt. Ihr ist es, wie ich glaube, zuzuschreiben, daß ich mehr zu umfassenden als zu knappen Aussagen neige und unter gleichen Umständen die Realität dem reizvollen und ausgiebigen Gebrauch der Sprache unterzuordnen vermag. »Sie spricht viel«, schrieb mein Vater, als sie noch lebte, an meinen Onkel. »Kein Thema gelangt jemals zu einem Abschluß.« Sie empfand die Dinge so fein und scharf, daß sie instinktiv zu schützenden Worten Zuflucht nahm; ihr Gemüt konnte sich nicht zufrieden geben, solange eine Feststellung in irgendwelcher Hinsicht unvollkommen blieb. Sie feilte aus, sie retouchierte. Wie gut ich das verstehe! Auch ich weiß, daß Gedanken und Gefühle, die man unausgesprochen läßt, unerträglich werden können. Überdies ist ihr ohne Zweifel etwas dem Blettsworthyschen Blute noch Fremderes in mir zuzuschreiben: mein Gefühl für den inneren moralischen Konflikt. Ich bin mit mir selbst uneins – in welchem Maße, muß dies Buch erweisen. Ich habe keine innere Harmonie, lebe nicht in Frieden mit mir selbst, wie die richtigen Blettsworthys es tun. Ich kämpfe gegen den Blettsworthy in mir. Neben der vom Vater ererbten Vielfältigkeit des Wesens habe ich auch noch die Neigung zur Selbstbetrachtung. Wie der Leser wohl bemerken wird, betone ich immer wieder, daß ich ein Blettsworthy bin. Kein vierundzwanzigkarätiger Blettsworthy würde das tun. Ich bin bewußt ein Blettsworthy, weil ich mir dessen nicht völlig sicher bin. Wesentliche Teile meines Wesens stehen in keinem rechten Zusammenhang mit mir selbst. Vielleicht bin ich den Traditionen meiner Familie um so treuer ergeben, weil ich ihnen auf eine objektive Art treu sein kann.

Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war, und meine wenigen Erinnerungen an sie sind hoffnungslos verquickt mit einem Wirbelsturm, der die Insel verheerte. Zwei Wolken der Furcht vermischten sich miteinander und barsten, um schreckliche Wandlungen hervorzubringen. Ich erinnere mich an den Anblick entwurzelter Bäume und eingestürzter Häuser und weiß auch noch, daß ich verwundert eine Menge roter Blumenblätter in einem Straßengraben schwimmen sah; diese Bilder verknüpfen sich auf verworrene Art mit der Mitteilung, daß meine Mutter im Sterben liege, und schließlich mit der, daß sie tot sei. Wenn ich nicht irre, empfand ich damals weniger Kummer als basses Erstaunen.

Mein Vater schrieb an Verwandte meiner Mutter in Portugal und an einen reichen Onkel in Aleppo, doch brachte dieser Briefwechsel keinen Nutzen; schließlich gelang es ihm, einen unerfahrenen jungen Priester ausfindig zu machen, der von Madeira nach England reiste: Diesem vertraute er mich an und bat ihn, mich bei meiner Tante in Cheltenham, Miss Constance Blettsworthy, abzuliefern, die auf solche Art zum erstenmal von meiner Existenz erfuhr. Mein Vater hatte seinen Boten mit Schriftstücken versehen, die keinen Zweifel an meiner Identität zuließen. Ich entsinne mich dunkel, in Funchal ein Dampfschiff bestiegen zu haben, meine Erinnerungen an die darauf folgende Seereise jedoch sind glücklicherweise aus dem Gedächtnis entschwunden. Vom Wohnzimmer meiner Tante in Cheltenham habe ich eine genauere Vorstellung.

 

Sie war eine würdige Dame, die entweder eine blonde Perücke trug oder ihr Haar auf so kunstvolle Weise ordnete, daß es einer solchen glich; ihre Gesellschafterin ähnelte ihr, war jedoch größer, umfangreicher, war überhaupt eine außerordentlich umfangreiche Person, deren Büste auf mein kindliches Gemüt großen Eindruck machte. Ich erinnere mich, daß die beiden mich hoch überragten, während ich auf einer Matte vor dem Feuer saß, und daß das Gespräch mit dem jungen Geistlichen bedeutsam genug war, um einen starken Eindruck in mir zu hinterlassen. Die beiden Damen waren offenbar der Meinung, daß er schlecht beraten worden sei, mich nach Cheltenham zu bringen, und legten ihm nahe, noch etwa eine Stunde Bahnfahrt auf sich zu nehmen, um mich im Hause meines Onkels, des Rektors von Harrow Hoeward, abzuliefern.

Meine Tante bemerkte wiederholt, sie sei durch das Vertrauen meines Vaters gerührt, ihr Gesundheitszustand mache jedoch meine Aufnahme unmöglich. Sie und ihre Gesellschafterin unterrichteten den jungen Geistlichen über ihren Gesundheitszustand, soweit das schicklich war, ja, sie ließen sich, wie ich glaube, sogar auf die Schilderung heikler Einzelheiten ein. Sie mochten wohl fühlen, daß die Lage der Dinge ein so entschlossenes Vorgehen erfordere. Trotz des Mitleids, das der Geistliche von Berufs wegen empfinden mußte, war er offenkundig bemüht, diesen Geständnissen auszuweichen, zumindest insoweit, als sie die betreffende Angelegenheit beeinflussen konnten. Mein Vater habe ihm über diesen Bruder in Harrow Hoeward nichts gesagt, habe vielmehr nur von meiner Tante Constance gesprochen, seiner älteren Schwester, die ihm als ein Fels in der Brandung in Erinnerung sei. Er fühle sich, so erklärte der junge Geistliche, nicht berechtigt, von seinen Instruktionen abzuweichen. Seine Aufgabe sei erfüllt, behauptete er, da er mich in die Obhut meiner Tante gebracht habe; und er wünsche nur noch die Regelung gewisser kleinerer Ausgaben während der Reise, für die mein Vater nicht vorgesehen habe.

Ich für meinen Teil saß gleichmütig auf meiner Matte und betrachtete mit vorgetäuschter Aufmerksamkeit den Kamin, der von anderer Art war als die mir bekannten von Madeira, hörte dabei aber dem Gespräch aufmerksam zu. Ich war nicht sehr begierig, bei meiner Tante zu bleiben, doch wünschte ich sehnlichst, den jungen Geistlichen loszuwerden, so daß ich seinen Bemühungen, mich nunmehr verlassen zu können, guten Erfolg wünschte, und erfreut war, als er sein Ziel schließlich erreichte.

Er war ein dicker junger Geistlicher mit einem weißen runden Gesicht und einer gepreßten hohen Tenorstimme, die besser zu lautem Beten als zu Alltagsgesprächen taugte. Unsere Bekanntschaft hatte mit warmen und sehr gewinnenden Versicherungen der Zuneigung seinerseits begonnen, und ich hatte auf seinen Vorschlag hin an Bord des Dampfers eine Kabine mit ihm geteilt; als ich dann aber nicht imstande war, die Bewegungen des Schiffes mit Zurückhaltung zu ertragen und betreffs des Ergebnisses meines Verhaltens wenig Einsicht an den Tag legte, verschlimmerte sich unsere Beziehung zueinander, die eine so schöne zu werden versprochen hatte. Als wir Southampton erreichten, hatten wir eine gegenseitige Abneigung gefaßt, die nur durch die Aussicht auf eine baldige und dauernde Trennung gemildert wurde.

Kurz, er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben …

Ich blieb bei meiner Tante.

Cheltenham war kein sehr glücklicher Zufluchtsort für mich. Ein kleiner Junge von fünf Jahren sucht emsig nach Beschäftigung, ist taktlos in der Wahl seiner Unterhaltungen und destruktiv, wenn er versucht, die gebrechlicheren unter den vielen interessanten Gegenständen rings um ihn zu erforschen und kennenzulernen. Meine Tante sammelte mit Begeisterung Figürchen aus Chelsea und anderes altenglisches Porzellan. Sie liebte diese sonderbaren alten Dinge. Trotzdem vermochte sie eine verwandte Leidenschaft in mir nicht zu begreifen, als ich mit reger junger Einbildungskraft Kämpfe und Dramen unter ihren Schätzen in Szene zu setzen begann. Auch meine Versuche, mit zwei großen, blauschwarzen Perserkatzen, die das Haus schmückten, zu spielen und ihr Leben etwas bewegter zu gestalten, mißfielen ihrer reiferen Einsicht. Ich konnte nicht begreifen, daß eine Katze, mit der man spielen möchte, nicht allzu heftig verfolgt werden darf und auch durch die bestgezielten Schläge nur selten fröhlich gestimmt wird. Meine Heldentaten im Garten, wo ich die Dahlien und Astern als wohlbewaffnete feindliche Scharen auffaßte und behandelte, trugen mir auch nicht einen Funken Beifall seitens meiner Tante ein.

Die beiden ältlichen Dienstmädchen und der bucklige Gärtner, die Behaglichkeit und Würde meiner Tante und deren stattlicher Gesellschafterin förderten, teilten die Ansicht ihrer Arbeitgeberin, daß die Kindererziehung vollkommen repressiv gestaltet werden müsse. So blieb mir nichts anderes übrig, als ein möglichst wenig aufdringliches Dasein zu fristen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde ein junger Erzieher aufgenommen, der möglichst lange Spaziergänge mit mir unternahm und mir möglichst unhörbare Unterweisungen erteilte. Mein Gedächtnis bewahrt kein klares Bild von ihm, ich weiß eigentlich nur, daß er abnehmbare Manschetten trug, die ich bis dahin noch an niemandem gesehen hatte. Cheltenham erschien mir als ein Wirrsal endloser, ziemlich breiter Straßen mit blaßgrauen Häusern unter einem blaßblauen Himmel. Den größten Eindruck machten auf mich die Trinkhalle, die zahlreichen Liegestühle und das Fehlen jedweden lebhaften Farbtons, sowie jedweden erheiternden Vorfalls, wodurch sich der Ort von Madeira stark unterschied.

Ich verzeichne diese Monate in Cheltenham – vielleicht waren es nur Wochen, in meiner Erinnerung aber sind es endlose Monate – als eine Art Interregnum in der Leere vor dem Beginn meines wirklichen Lebens. Ober- und außerhalb des Bereiches meiner Aufmerksamkeit müssen meine Tante und ihre Gesellschafterin sehr angestrengt bemüht gewesen sein, mich in eine andere Umgebung zu versetzen, denn von dem trüben Hintergrund meiner Cheltenhamer Erinnerungen hebt sich eine Anzahl noch verschwommenerer Gestalten ab, lauter Blettsworthys, die kamen, mich weder liebevoll noch feindselig betrachteten, wobei sich aber sehr rasch der Entschluß in ihnen auszubilden schien, daß sie nichts weiter mit mir zu tun haben wollten, und wieder verschwanden. Ihre Bemerkungen lassen sich, glaube ich, in drei Hauptgruppen einteilen: Erstens wurde gesagt, daß ich meiner Tante gut tue, weil sie durch mich aus sich selbst herausgerissen werde – aber sie wollte offenkundig nicht aus sich selbst herausgerissen werden. Wer will das schon? Zweitens, daß man mich meinem Vater zurückschicken solle, was aber unmöglich war, da er Madeira mit unbekannter Adresse in Rhodesien verlassen hatte und die englische Post kleine Buben, die man postlagernd nach entfernten Kolonien schicken will, nicht annimmt; und drittens, daß die ganze Angelegenheit meinem Onkel unterbreitet werden solle, dem Reverend Rupert Blettsworthy, Rektor von Harrow Hoeward. Alle stimmten darin überein, daß ich für einen Blettsworthy von sehr kleiner Statur sein würde.

Mein Onkel war damals gerade in Rußland, wo er im Verein mit etlichen anglikanischen Bischöfen eine mögliche Wiedervereinigung der anglikanischen und der orthodoxen Kirche diskutierte – es war lange vor dem Weltkrieg und dem Aufkommen des Bolschewismus. Briefe, die meine Tante ihm schrieb, erreichten ihn nicht. Da, mit einem Male, als ich mich eben in ein rein negatives Leben im Hause meiner Tante zu Cheltenham unter der Leitung eines Erziehers mit abnehmbaren Manschetten zu ergeben begann, erschien mein Onkel.

Im allgemeinen ähnelte er meinem Vater, war aber kleiner, rosiger und runder, auch kleidete er sich, wie es einem wohlhabenden und glücklichen Rektor ziemt, während ich meinen Vater stets in zu weitem und verwaschenem Flanell gesehen hatte. Auch an ihm gab es vieles, was der Erklärung bedurfte, doch trat diese Notwendigkeit in seinem Fall nicht so deutlich zutage. Sein Haar war silbergrau. Er trat mit einem Mal und in vertrauenerweckender und angenehmer Weise aus dem verschwommenen Hintergrunde hervor. Er setzte seine randlose Brille auf die Nase und betrachtete mich mit einem sanften Lächeln, das mir außerordentlich anziehend dünkte.

»Nun, mein Junge«, sagte er mit einer Stimme, die mir fast die meines Vaters schien, »sie wissen offenbar nicht recht, was sie mit dir anfangen sollen. Würdest du denn gerne zu mir kommen?«

»Ja, bitte«, sagte ich, sobald ich den Sinn seiner Frage verstanden hatte.

Meine Tante und ihre Gesellschafterin begannen, mir ein Loblied zu singen. Sie ließen plötzlich jede Verstellung beiseite. Ich hatte nicht im entferntesten geahnt, wie viel Gutes sie von mir hielten. »Er ist so lebhaft und so klug«, sagten sie; »er hat Interesse für alles und jedes. Wohlversorgt und gut genährt, wird er ein netter kleiner Junge werden.«

Und somit war mein Schicksal entschieden.

2
Der gütige, weitherzige geistliche Herr

Mit meiner Niederlassung in Harrow Hoeward hob, so glaube ich, mein Leben erst richtig an. Von den vorhergehenden Jahren bewahrt mein Gedächtnis nur flüchtige Bilder und Bruchstücke; vom Tage meiner Ankunft aber in jenem so traulichen Heim gelangt meine Erinnerung zu einer Kontinuität. Ich könnte, so scheint mir, vom Haus des Rektors und ganz gewiß vom Garten Karten in genauem Größenverhältnis zeichnen, ich vermag mir den ganz bestimmten dumpfigen Geruch des Brunnens im Hofe jenseits des Hintergebäudes in Erinnerung zu rufen und sehe die neun Ringelblumen, die in gleichen Abständen voneinander vor der grauen Steinmauer standen, deutlich vor mir. Jahr für Jahr ersetzte sie Blackwell, der alte Gärtner, durch neue. Ich könnte eine Chronik der Katzen schreiben und darin den Charakter jeder einzelnen schildern. Hinter der Pferdekoppel lag ein Graben, und dahinter der steile offene Hügel, der sich zum Himmel erhob. Ich pflegte sowohl an schneeigen Wintertagen wie auch im heißen Sommer auf einem Brett den Hügel hinunterzurutschen, denn das trockene Gras des Sommers war noch schlüpfriger als Eis. Vor dem Pfarrhaus befanden sich ein sauberer Rasenplatz und eine Taxushecke, zu unserer Linken die Häuser der Pferdehändler, dann bei der Straßenbiegung das Postamt und der Gemischtwarenhändler. Auf der anderen Seite grenzten wir an Kirche und Kirchhof.

Mein Onkel nahm mich als ein noch unbestimmtes und bildsames Geschöpf bei sich auf, aus dem alles mögliche hätte werden können. In seinem Hause aber wurde ich unvermeidlich der Blettsworthy, der ich heute bin.

Vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an war er für mich das wirklichste und beruhigendste Wesen der Welt. Ihn nur zu sehen, war, als ob man an einem hellen Morgen erwachte. Bis zu seinem Erscheinen war alles in meinem Leben verschwommen, bedrohlich und noch ohne Überzeugungskraft gewesen; ich hatte das Gefühl, daß ich mich nicht richtig verhielt, unsicher war, daß ich von schattenhaften und doch zerstörenden Mächten umgeben war und von Triebkräften gelenkt wurde, die ebenso unheilvoll werden konnten, wie sie unkontrollierbar waren. Hinter dem Alltagsleben tobte ein Wirbelsturm. Ich hatte schon in der Kindheit das Gefühl, als ob der Tagtraum, in dem ich lebte, sich jederzeit in böses Alpdrücken verwandeln könnte, trotz des stoischen Widerstandes, den ich ihm entgegensetzte; diese Gefahr war für viele Jahre gebannt. »Alles rings um dich scheint ein wenig in Unordnung geraten«, sagte mein Onkel im Cheltenhamer Wohnzimmer zu mir, »in Wirklichkeit aber, und grundsätzlich, ist alles in bester Ordnung.«

Und solange er lebte, war entweder wirklich alles grundsätzlich in bester Ordnung, oder er vermochte durch einen besonderen Zauber seines Wesens alles in Ordnung scheinen zu lassen. Ich kann heute noch nicht sagen, wie es sich wirklich verhielt.

An meine Tante Dorcas habe ich keine so lebendige Erinnerung wie an meinen Onkel. Ich erinnere mich tatsächlich weniger deutlich an sie als an den alten Blackwell oder die Köchin. Das ist sonderbar, denn sie muß sich ziemlich viel mit mir beschäftigt haben. Aber sie war eine emsige, zurückhaltende Frau, die ihre Obliegenheiten mit solchem Nachdruck verrichtete, daß sie nicht so sehr als ihr Tun, sondern vielmehr als etwas Notwendiges im Gang des Weltalls erschienen. Ich glaube, sie hatte sich stets eigene Kinder gewünscht und mag betrübt gewesen sein, als ihr klar wurde, daß ihre Familie aus einem einzigen, halb fremden Neffen bestehen sollte, einem zweifelhaften, vom Forscherdrang besessenen Wesen, das über das Babyalter schon hinaus war und seinen begrenzten englischen Wortschatz durch dunkle portugiesische Brocken ergänzte. Eine gewisse geistige Fremdheit blieb wohl immer zwischen ihr und mir bestehen. Sie verriet niemals irgendwelchen Mangel an Zuneigung; sie erfüllte in jeder Weise ihre Pflicht mir gegenüber, doch ist es mir, wenn ich heute auf jene Tage zurückblicke, völlig klar, daß wir nicht wie Mutter und Sohn zueinander standen. Ihr eigentliches Innenleben hatte überhaupt nichts mit mir zu tun. Um so mehr wandte sich mein Herz meinem Onkel zu, der rings um sich Güte zu verbreiten schien, so wie eine Wiese bei gutem Wetter Duft verbreitet; in meiner kindlichen Vorstellung herrschte er nicht nur über das Haus, die Kirche und alle Seelen von Harrow Hoeward, sondern auch über das weite kahle Hügelland, ja sogar über den Sonnenschein. Es ist erstaunlich, in welchem Maße er meinen Vater aus meinem Gemüt verdrängt hat.

 

Meine Vorstellung von Gott ist noch heute mit ihm vermengt. In Madeira hatte ich viel von Dios gehört, wenn man ihn verfluchte oder beschwor, von einem subtropischen, leidenschaftlichen Dios, einem hitzigen und donnernden Gott. Doch erst als ich alt genug geworden war, um Vergleiche anzustellen, verband ich die beiden Gottheiten miteinander. In England nun zeigte sich mir Gott als der verbündete Schatten meines Onkels, ein lieber englischer Gentleman, ein alles beherrschender Super-Blettsworthy, ein Gott des Taues und der sonnigen Morgenfröste, hilfreich und ohne Groll, dessen besondere Feiertage Ostern, Weihnachten und das Erntedankfest waren. Er war der Gott einer Welt, die sich auf dem rechten Wege befand, ernst nur, um gleich wieder zu lächeln; selbst durch die feierliche Strenge des Karfreitags hindurch leuchtete die Versicherung meines Onkels, daß der junge Gentleman am Sonntag wohlbehalten und gesund zurückkehren werde. Eine ernste Zeit selbstverständlich, ein Anlaß zu tiefgründigen Betrachtungen, der uns aber auch die heißen Kreuzsemmeln bescherte.

Es gab Kreuze in der Kirche meines Onkels, aber kein Kruzifix, keine Dornenkrone, keine Nägel.

Mein Onkel schüttelte die Ärmel seines Chorrocks von seinen wohlgeformten Händen zurück, neigte sich über die Kanzel und sprach freundlich zu uns von der freundlichen Macht, die die Welt regiert, zwanzig Minuten höchstens, denn Gott darf den schwächeren Brüdern nicht langweilig werden. Er bedurfte zuweilen der Rechtfertigung, dieser Gott der Blettsworthys, sein Tun und Lassen mußte den Menschen erklärt werden, aber beileibe nicht auf langweilige Art. Mein Onkel sprach in seinen Predigten besonders gern vom Regenbogen, von der Arche und von dem Bunde Gottes mit den Menschen. Er war schrecklich anständig und ehrbar, dieser Gott, wie mein Onkel ihn schilderte, und Er und mein Onkel erweckten den Wunsch in mir, ebenfalls anständig und ehrbar zu sein. In einer Welt, in der es immerzu hieß: »ganz recht«, »alles in bester Ordnung« und »sehr wohl, Sir«. Ich lebte in dieser Welt und fühlte mich all die Jahre sicher. War es nichts weiter als ein Traum?

Das Böse lag fernab, die Hölle war vergessen. »So etwas tut man nicht«, sagte mein Onkel, und man tat es nicht. »Vorwärts, los«, sagte mein Onkel, und man machte sich ans Werk. »Nur immer gerecht sein«, sagte mein Onkel; »man darf nicht hart gegen die Leute sein. Geduld mit den Unbegabten! Wie können wir wissen, ob sich der Bursche nicht nach Kräften bemüht?« Selbst die Zigeuner, die durch das ruhige Hügelland zogen und mitunter meinem Onkel kraft seiner weltlichen Richtermacht über nebensächlichere Fragen des Betragens Rede stehen mußten, waren tiefgläubige Anglikaner; wenn sie auch gelegentlich eine Kleinigkeit entwendeten, so waren sie doch weder Räuber noch gewalttätig. Liebes England! Soll ich dich niemals mehr wiedersehen, wie ich dich in jenen unversehrten und glücklichen Tagen sah? Auch das Languedoc und die Provence sollen milde Landstriche sein, ebenso Sachsen; und es heißt, daß man in Skandinavien da und dort gesegnete Gebiete findet, die man ohne Vorbehalt liebt. Ich kenne diese Gegenden nicht. Mein Herz wendet sich immer wieder dem englischen Downland zu.

Mein Onkel schüttelte die Ärmel seines Chorrocks zurück, lehnte sich mit überzeugendem Lächeln über sein Kanzelpult und ließ alles so klar und milde erscheinen wie die englische Luft. Mir war immer wieder, als würde ich, wenn mir nur durchdringende Sehkraft gegeben wäre, hoch über dem blauen Äther noch einen so gütigen Vater erblicken, der seine glückliche Welt belehrt. Unter ihm saßen gleichsam in Kirchenbänken, das Antlitz zu ihm emporgerichtet, Fürsten, Herrscher und Machthaber, denen man allen die besten Absichten zuzugestehen hatte, solange es keinen sicheren Beweis für das Gegenteil gab. Die Königin Victoria, einfach, gut und weise, einem runden Laib Brot mit einer Krone darauf gleichend, nahm den höchsten Platz unter ihnen ein und war meinem Gefühl nach nicht so sehr eine Königin oder Kaiserin als vielmehr die Stellvertreterin Gottes auf Erden. An Sonntagen hatte sie den großen kaiserlichen Kirchenstuhl direkt unter Gottes Kanzel inne und lud Ihn ohne Zweifel zum Mittagessen ein. Sie pflegte dunkelhäutigen Potentaten, die sie meist besser kannten und höher achteten als Gott, ein Exemplar der autorisierten Ausgabe der englischen Bibel zu schenken und verwies sie allezeit großmütig an ihren Freund und Oberherrn. Sie schrieb ihm ganz gewiß sehr ernste Briefe, in denen sie ihre besonderen Wünsche unterstrich, just wie sie ja auch Lord Beaconsfield und dem Deutschen Kaiser mitteilte, was ihr feiner Instinkt, ein wenig belehrt durch Baron Stockmar, als nützlich für das Königreich, für Gottes Welt und für ihre Familienverbindungen erkannt hatte. Unter ihr bestand ein System hierarchischen Wohlwollens. Unser örtlicher Magnat war Sir Willoughby Denby, der für die Bewässerung subtropischer Landstriche, für den Anbau von Baumwolle, die in den Webereien von Manchester benötigt wurde, und für die Bedürfnisse der Menschheit im allgemeinen aufs trefflichste wirkte. Ein Mann von rötlicher Gesichtsfarbe und recht wohlbeleibt, pflegte er auf einem kräftigen kleinen Pferd durch das Dorf zu reiten. Mehr gegen Devizes zu, lagen die Besitztümer und die Einflußsphäre des Lord Penhartingdon, eines Bankiers und Archäologen, mütterlicherseits ein Blettsworthy. Von Downton bis Shaftesbury und nach der andern Seite hin bis Wincanton saßen Blettsworthys auf ihren Erbgütern.

In dieser wohlwollenden Welt, die der Gott meines Onkels und seine eigene Güte im Hochland von Wiltshire aufgebaut hatten, wuchs ich vom Kind zum Jüngling heran, und der dunkle Einschlag des mütterlichen Blutes in mir, eines zu Traurigkeit neigenden und doch abenteuerlichen Blutes, floß unbemerkt durch meine Adern. Vielleicht war ich für einen Blettsworthy ein wenig zu geschwätzig und sprachbegabt. Anfänglich hatte ich eine Gouvernante, eine Miss Duffield aus Boars Hill bei Oxford; sie war die Tochter eines Freundes meines Onkels, ein blondes junges Mädchen, das ihn innig verehrte und mich mit gutem Erfolg im Französischen und im Deutschen unterrichtete. Dann kam ich als Wochenpensionär in die ausgezeichnete Schule zu Imfield, für die Sir Willoughby Denby so viel getan hatte: Er hatte sie mit Gottes und des Kirchenverwaltungsrates Hilfe neu aufleben lassen und reich dotiert. Sie war außerordentlich modern für jene Tage: Wir hatten Zimmerhandwerkskurse, betrieben an Pflanzen und Froschlaich experimentelle Biologie und lernten babylonische und griechische Geschichte anstatt griechischer Grammatik. Mein Onkel gehörte dem dieser Schule vorstehenden Kollegium an und kam von Zeit zu Zeit, um uns einen Vortrag zu halten.