Charles Dickens
Weihnachtsmärchen auf 359 Seiten
Sie bekommen anspruchsvolle Weihnachtsliteratur geboten!
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Weihnachtsmärchen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Impressum neobooks
Neue, durchgesehene Ausgabe unter Verwendung der
Übertragungen Von Carl Kolb und Julius Seybt.
Orthographie und Interpunktion wurden dem heutigen Stand
Angepasst. Titel der Originalausgaben: „A christmas carol in
prose. Being a ghoststory of Christmas“ – „The chimes, a goblin
story of some bel s that rang an old year out and a new year in”
– “The cricket on the hearth” – “The battle of life” –
“The haunted man”
Sponsored
by
Santa Claus
16. Auflage
Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt
September 1985
© 1976 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt
Gesamtausstattung: Creativ Shop München
Satz: Satz + Repro Pfaff, Inning
Druck und Bindung: Salzer – Ueberreuter, Wien
Printed in Austria
2
Inhalt
Vorrede 4
Ein Weihnachtslied in Prosa
5
Erste Strophe. Marleys Geist
6
Zweite Strophe. Der erste der drei Geister
21
Dritte Strophe. Der zweite der drei Geister
35
Vierte Strophe. Der letzte der Geister
53
Fünfte Strophe. Der Ausgang der Geschichte
65
Die Zauberglocken
71
Das erste Viertel
72
Das zweite Viertel
90
Das dritte Viertel
106
Das vierte Viertel
121
Das Heimchen am Herd
136
Erstes Gezirp
137
Zweites Gezirp
157
Drittes Gezirp
178
Der Kampf des Lebens
197
Erster Teil
198
Zweiter Teil
215
Dritter Teil
237
Der Verwünschte
255
Erstes Kapitel. Der Empfang der Gabe
256
Zweites Kapitel. Die Verbreitung der Gabe
273
Drittes Kapitel. Die Zurücknahme der Gabe
301
3
Vorrede
Ich habe versucht, in diesem kleinen Geisterbuch den Geist einer
Idee zu wecken, der die Leser nicht übel aunig gegen sich selbst,
gegen andere, gegen die Jahreszeit oder gegen mich machen sol .
Möge er freundlich in ihren Häusern spucken und niemand
wünschen, ihn zu vertreiben.
Ihr
Treuer Freund und Diener
C. D.
Dezember 1843
Ein Weihnachtslied in Prosa
Eine Geistergeschichte der Christnacht
Erste Strophe
Marleys Geist
Marley war tot, damit wollen wir anfangen. Kein Zweifel kann
darüber bestehen. Der Schein über seine Beerdigung ward
unterschrieben von dem Geistlichen, dem Küster, dem
Leichenbestatter und den vornehmsten Leidtragenden. Scrooge
unterschrieb ihn, und Scrooges Name wurde auf der Börse
respektiert, wo er ihn nur hinschrieb. Der alte Marley war so tot
wie ein Türnagel.
Versteht mich recht! Ich will nicht etwa sagen, daß ein Türnagel
etwas besonders Totes für mich hätte. Ich selbst möchte fast zu
der Meinung neigen, daß das toteste Stück Eisen auf der Welt
ein Sargnagel sei. Aber die Weisheit unsrer Altvordern liegt in
den Gleichnissen, und meine unheiligen Hände sollen sie dort
nicht stören, sonst wäre es um das Vaterland geschehen. Man
wird mir also erlauben, mit besonderem Nachdruck zu
wiederholen, daß Marley so tot wie ein Türnagel war.
Wußte Scrooge, daß er tot war? Natürlich wußte er's. Wie sollte
es auch anders sein? Scrooge und er waren, ich weiß nicht seit
wieviel Jahren, Kompagnons.
Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger
Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger
Verwalter, sein einziger Erbe, sein einziger Freund und sein
einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem
traurigen Ereignis nicht so schrecklich mitgenommen, um nicht
selbst am Begräbnistag ein vortrefflicher Geschäftsmann sein und
ihn mit einem unzweifelhaft guten Handel feiern zu können.
Nun bringt mich die Erwähnung von Marleys Begräbnistag
wieder zu dem Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es gibt
keinen Zweifel, daß Marley tot war. Das muß scharf ins Auge
gefaßt werden, sonst kann in der Geschichte, die ich erzählen
will, nichts Wunderbares geschehen. Wenn wir nicht vollkommen
fest überzeugt wären, daß Hamlets Vater tot ist, ehe das Stück
beginnt, so wäre durchaus nichts Merkwürdiges in seinem
nächtlichen Spaziergang bei scharfem Ostwind auf den Mauern
seines eigenen Schlosses.
Nicht mehr, als bei jedem anderen Herrn in mittleren Jahren, der
sich nach Sonnenuntergang rasch zu einem Spaziergang auf
einem luftigen Platz entschließt, zum Beispiel auf dem Sankt-
Pauls-Kirchhof.
Scrooge ließ Marleys Namen nicht ausstreichen. Noch nach
Jahren stand über der Tür des Speichers »Scrooge und Marley«.
Die Firma war unter dem Namen Scrooge und Marley bekannt.
Leute, die Scrooge nicht kannten, nannten ihn zuweilen Scrooge
und zuweilen Marley; aber er hörte auf beide Namen, denn es
galt ihm beides gleich.
galt ihm beides gleich.
Oh, er war ein wahrer Blutsauger, dieser Scrooge! Ein gieriger,
zusammenkratzender, festhaltender, geiziger alter Sünder: hart
und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen
warmen Funken geschlagen hat, verschlossen und
selbstgenügsam und ganz für sich, wie eine Auster. Die Kälte in
seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze
Nase noch 6
spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot,
seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden
Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf
seinen Augenbrauen, auf dem starken struppigen Bart. Er
schleppte seine eigene niedere Temperatur immer mit sich herum:
in den Hundstagen kühlte er sein Kontor wie mit Eis, zur
Weihnachtszeit machte er es nicht um einen Grad mol iger.
Äußere Hitze und Kälte wirkten wenig auf Scrooge. Keine
Wärme konnte ihn wärmen, keine Kälte frösteln machen. Kein
Wind war schneidender als er, kein Schneegestöber
erbarmungsloser, kein klatschender Regen einer Bitte weniger
zugänglich. Schlechtes Wetter konnte ihm nichts anhaben. Der
ärgste Regen, Schnee oder Hagel konnten sich nur in einer Art
rühmen, besser zu sein als er: sie gaben oft im Überfluß, und das
tat Scrooge nie und nimmer.
Niemals kam ihm jemand auf der Straße entgegen, um mit
freundlichen Blicken zu ihm zu sagen:»Mein lieber Scrooge, wie
freundlichen Blicken zu ihm zu sagen:»Mein lieber Scrooge, wie
geht's, wann werden Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler
sprach ihn um eine Kleinigkeit an, kein Kind fragte ihn, wie spät
es sei, kein Mann und keine Frau hat ihn je in seinem Leben nach
dem Weg gefragt. Selbst der Hund des Blinden schien ihn zu
kennen, und wenn er ihn kommen sah, zog er seinen Herrn in
einen Torweg und wedelte dann mit dem Schwanz, als wol te er
sagen: »Gar kein Auge, blinder Herr, ist besser als ein böses
Auge.«
Doch was kümmerte all das den alten Scrooge? Gerade das
gefiel ihm. Allein seinen Weg durch die engen Pfade des Lebens
zu wandern, jedem menschlichen Gefühl zu sagen: »Bleibe mir
fern«; das war es, was Scrooge gefiel.
Einmal, es war von allen guten Tagen im Jahr der beste, der
Christabend, saß der alte Scrooge in seinem Kontor. Draußen
war es schneidend kalt und neblig, und er konnte hören, wie die
Leute im Hof, um sich zu erwärmen, prustend auf und nieder
gingen, die Hände aneinander schlugen und mit den Füßen
stampften. Es hatte eben erst drei Uhr geschlagen, doch war es
schon stockfinster. Den ganzen Tag über war es nicht hel
geworden, und die Kerzen in den Fenstern der benachbarten
Kontore flackerten wie rote Flecken auf der dicken braunen
Luft. Der Nebel drang durch jede Spalte und durch jedes
Schlüssel och und war draußen so dick, daß die
gegenüberliegenden Häuser des sehr kleinen Hofes wie ihre
eigenen Geister aussahen. Wenn man die trübe, dicke, alles
eigenen Geister aussahen. Wenn man die trübe, dicke, alles
verfinsternde Wolke heruntersinken sah, hätte man meinen
können, die Natur wohne dicht nebenan und braue en gros.
Die Tür von Scrooges Kontor stand offen, damit er seinen
Kommis beaufsichtigen konnte, der in einem erbärmlich feuchten,
kleinen Raum, einer Art Burgverlies, Briefe kopierte. Scrooge
hatte nur ein sehr kleines Feuer, aber des Dieners Feuer war um
so viel kleiner, daß es nur wie eine einzige Kohle aussah. Er
konnte aber nicht nachlegen, denn Scrooge hatte den
Kohlenkasten in seinem Zimmer, und jedesmal, wenn der
Kommis mit der Kohlenschaufel in der Hand hereinkam, meinte
sein Herr, es sei wohl nötig, daß sie s ich trennten.
Worauf der Kommis seinen weißen Schal umband und
versuchte, sich an dem 7
Licht zu wärmen, was aber immer fehlschlug, da er ein Mann von
nicht sehr starker Einbildungskraft war.
»Fröhliche Weihnachten, Onkel, Gott erhalte Sie!« rief da eine
heitere Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so
schnel hereingekommen war, daß dieser Gruß das erste war,
was man von ihm bemerkte.
»Pah«, sagte Scrooge, »dummes Zeug!«
Der Neffe war vom schnel en Laufen so warm geworden, daß er
über und über glühte; sein Gesicht war rot und hübsch, seine
über und über glühte; sein Gesicht war rot und hübsch, seine
Augen glänzten und sein Atem rauchte.
»Weihnachten dummes Zeug, Onkel?« sagte Scrooges Neffe.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mein Ernst«, sagte Scrooge. »Fröhliche Weihnachten?
Was für ein Recht hast du, fröhlich zu sein? Was für einen
Grund, fröhlich zu sein? Du bist arm genug.«
»Nun«, antwortete der Neffe heiter, »was für ein Recht haben
Sie, grämlich zu sein? Was für einen Grund, mürrisch zu sein? Sie
sind reich genug.«
Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort darauf bereit
hatte, sagte noch einmal »Pah!« und brummte hinterher
»Dummes Zeug!«
»Seien Sie nicht böse, Onkel«, sprach der Neffe.
»Was sol ich anderes sein«, antwortete der Onkel, »wenn ich in
einer Welt voll solcher Narren lebe? Fröhliche Weihnachten!
Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was ist
Weihnachten für dich anderes, als eine Zeit, in der du
Rechnungen bezahlen sol st, ohne Geld zu haben, eine Zeit, in
der du dich um ein Jahr älter und nicht um eine Stunde reicher
findest, eine Zeit, in der du deine Bücher abschließest und in
jedem Posten durch ein volles Dutzend von Monaten ein Defizit
siehst? Wenn es nach mir ginge«, setzte Scrooge heftig hinzu, »so
müßte jeder Narr, der mit seinem ›Fröhliche Weihnachten‹
herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem
Stechpalmenzweig im Herzen begraben werden.«
»Onkel!« bat der Neffe.
»Neffe«, antwortete der Onkel erbost, »feiere du Weihnachten
nach deiner Art und laß es mich nach meiner feiern.«
»Feiern!« wiederholte Scrooges Neffe. »Aber Sie feiern es ja
nicht.«
»Laß mich ungeschoren«, brummte Scrooge. »Mag es dir
Nutzen bringen. Es hat dir ja immer schon Nutzen gebracht.«
»Es gibt viele Dinge, die mir hätten nützen können und die ich
nicht genutzt habe, das weiß ich«, antwortete der Neffe, »und
Weihnachten ist eins davon.
Aber ich weiß gewiß, daß ich Weihnachten, abgesehen von der
Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und Ursprung
schuldig sind, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als eine
liebe Zeit, als die Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als die
einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne,
da die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen auftun
und die andern Menschen ansehen, als wären sie wirklich
Reisegefährten 8
Reisegefährten 8
nach dem Grabe und nicht eine ganz andere Art von
Geschöpfen, die einen ganz andern Weg gehen. Und daher,
Onkel, wenn es mir auch niemals ein Stück Gold oder Silber in
die Tasche gebracht hat, daher glaube ich doch, es hat mir Gutes
getan, und es wird mir Gutes tun, und ich sage ›Gott segne das
Weihnachtsfest!‹«
Der Diener in dem Burgverlies draußen applaudierte
unwillkürlich; aber im Augenblick darauf fühlte er auch die
Unschicklichkeit seines Betragens, schürte die Kohlen und
löschte dadurch die letzten kleinen Funken unwiederbringlich.
»Wenn Sie da drin mich noch einen einzigen Laut hören lassen«,
sagte Scrooge, »so feiern Sie Ihre Weihnachten mit dem Verlust
Ihrer Stel e. - Du bist ein ganz gewaltiger Redner«, fügte er dann
hinzu, sich zu seinem Neffen wendend. »Es wundert mich, daß
du noch nicht ins Parlament gekommen bist!«
»Seien Sie nicht böse, Onkel. Essen Sie morgen mit uns.«
Scrooge sagte, daß er ihn erst verdammt sehen wol e; ja
wahrhaftig, er sprach sich so deutlich aus.
»Aber warum?« rief Scrooges Neffe. »Warum denn?«
»Warum hast du dich verheiratet?« fragte Scrooge.
»Weil ich mich verliebte.«
»Weil er sich verliebte!« brummte Scrooge, als sei dies das
einzige Ding in der Welt, das noch lächerlicher als eine fröhliche
Weihnacht ist. »Guten Abend!«
»Aber Onkel, Sie haben mich ja auch vorher nie besucht.
Warum sol es da ein Grund sein, mich jetzt nicht zu besuchen?«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Ich brauche nichts von Ihnen, ich verlange nichts von Ihnen,
warum können wir nicht gute Freunde sein?«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie so hartnäckig zu finden.
Wir haben nie einen Zank miteinander gehabt, an dem ich schuld
gewesen wäre. Aber ich habe den Versuch gemacht,
Weihnachten zu Ehren, und ich will meine Weihnachtsstimmung
bis zuletzt behalten. Fröhliche Weihnachten, Onkel!«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
»Und ein glückliches Neujahr!«
»Guten Abend!« sagte Scrooge.
Trotz allem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort.
Trotz allem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort.
An der Haustür blieb er dann stehen, um mit dem Glückwunsch
des Tages den Kommis zu begrüßen, der trotz der Kälte
dennoch wärmer war als Scrooge, denn er gab den Gruß
freundlich zurück.
»Das ist auch so ein Kerl!« brummte Scrooge, der es hörte.
»Mein Kommis, mit fünfzehn Shilling die Woche und Frau und
Kindern, spricht von fröhlichen Weihnachten. Ich gehe nach
Bedlam ins Irrenhaus.«
Der Kommis hatte, als er den Neffen hinaus ließ, zwei andere
Personen eingelassen. Es waren zwei behäbige, wohlansehnliche
Herren, die jetzt, mit dem Hut in der Hand, in Scrooges Kontor
standen. Sie hatten Bücher und Papiere unterm Arm und
verbeugten sich.
9
»Scrooge und Marley, glaube ich«, sagte einer der Herren,
indem er auf seine Liste sah. »Hab ich die Ehre, mit Mr. Scrooge
oder mit Mr. Marley zu sprechen?«
»Mr. Marley ist seit s ieben Jahren tot«, antwortete Scrooge. »Er
starb heute vor sieben Jahren.«
»Wir zweifeln nicht, daß sein überlebender Kompagnon ganz
seine Freigebigkeit besitzen wird«, sagte der Herr, indem er ihm
sein Beglaubigungsschreiben überreichte.
Er hatte ganz recht, denn sie waren wirklich zwei verwandte
Seelen gewesen.
Bei dem ominösen Wort Freigebigkeit runzelte Scrooge die
Stirn, schüttelte den Kopf und gab das Papier zurück.
»An diesem festlichen Tage des Jahres, Mr. Scrooge«, sagte der
Herr, eine Feder ergreifend, »ist es mehr als sonst
wünschenswert, wenigstens einigermaßen für die Armen zu
sorgen, die zu dieser Zeit in großer Bedrängnis leben. Vielen
Tausenden fehlen selbst die notwendigsten Bedürfnisse,
Hunderttausenden die notdürftigsten Bequemlichkeiten des
Lebens.«
»Gibt es keine Gefängnisse?« fragte Scrooge.
»Überfluß an Gefängnissen«, sagte der Herr, die Feder wieder
hinlegend.
»Und die Armenhäuser?« fragte Scrooge. »Bestehen die noch?«
»Allerdings«, antwortete der Herr, »aber doch wünschte ich, sie
brauchten weniger in Anspruch genommen zu werden.«
»Tretmühle und Armengesetz sind in voller Kraft?« sagte
Scrooge.
»Beide haben alle Hände voll zu tun.«
»So? Nach dem, was Sie zuerst sagten, fürchtete ich, es halte sie
etwas in ihrem nützlichen Gang auf«, sagte Scrooge. »Ich freue
mich, das Gegenteil zu hören.«
»In der Überzeugung, daß sie doch wohl kaum imstande sind,
der Seele oder dem Leib der Armen christliche Stärkung zu
geben«, entgegnete der Herr, »sind einige von uns zur
Veranstaltung einer Sammlung zusammengetreten, um für die
Armen Nahrungsmittel und Feuerung anzuschaffen. Und wir
wählen diese Zeit, weil sie vor allen andern eine Zeit ist, da der
Mangel am bittersten gefühlt wird und nur der Reiche sich freut.
Welche Summe darf ich für Sie aufschreiben?«
»Nichts«, antwortete Scrooge.
»Sie wünschen ungenannt zu bleiben?«
»Ich wünsche, daß man mich in Ruhe läßt«, sagte Scrooge. »Da
Sie mich fragen, meine Herren, was ich wünsche, so ist eben dies
meine Antwort. Ich freue mich selbst nicht zu Weihnachten und
habe nicht die Mittel, mit meinem Geld Faulenzern Freude zu
machen. Ich trage meinen Teil zu den Anstalten bei, die ich
genannt habe; s ie kosten genug, und wem es schlecht geht, der
mag dorthin gehen!«
»Viele können nicht hingehen, und viele würden eher sterben.«
»Viele können nicht hingehen, und viele würden eher sterben.«
10
»Wenn sie eher sterben würden«, sagte Scrooge, »so wäre es
gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung dadurch
verminderten. Übrigens, Sie entschuldigen, ich weiß nichts
davon.«
»Aber Sie könnten es wissen«, bemerkte der Herr.
»Es kümmert mich nichts«, antwortete Scrooge. »Es genügt,
wenn ein Mann sein eignes Geschäft versteht und sich nicht in
das anderer Leute mischt. Das meinige nimmt meine ganze Zeit in
Anspruch. Guten Abend, meine Herren!«
Da sie deutlich einsahen, wie vergeblich weitere Versuche sein
würden, zogen sich die Herren zurück. Scrooge setzte sich
wieder an die Arbeit mit einer erhöhten Meinung von sich selbst
und in einer bessern Laune als gewöhnlich.
Nebel und Dunkelheit hatten inzwischen so zugenommen, daß
die Leute mit brennenden Fackeln herumliefen, um den Wagen
vorzuleuchten. Der alte Kirchturm, dessen brummende alte
Glocke sonst unverwandt aus einem alten gotischen Fenster in
der Mauer listig auf Scrooge herabsah, wurde unsichtbar in den
Wolken und schlug die Stunden und Viertel mit einem zitternden
Nachklang, als wenn in dem erfrorenen Kopfe droben die Zähne
klapperten. Die Kälte wurde immer schneidender. In der
klapperten. Die Kälte wurde immer schneidender. In der
Hauptstraße an der Ecke der Sackgasse wurden die
Gasleitungen ausgebessert, und die Arbeiter hatten ein großes
Feuer in einer Kohlenpfanne angezündet. Darum herum drängten
sich einige zerlumpte Männer und Knaben, die über den
Flammen behaglich blinzelnd s ich die Hände wärmten. Aus der
eisernen Pumpe, sich selbst überlassen, floß ungehindert Wasser
aus, aber bald war es zu Eis erstarrt. Der Lichtschimmer der
Läden, in deren Fenstern Stechpalmenzweige und Beeren in der
Lampenwärme knisterten, rötete die bleichen Gesichter der
Vorübergehenden. Die Gewölbe der Geflügel-und
Materialwarenhändler sahen aus wie ein glänzendes, fröhliches
Märchenland, und es schien fast unmöglich, damit den Gedanken
an eine so langweilige Sache wie Kauf und Verkauf zu
verbinden. Der Lord Mayor gab in den innern Gemächern des
Mansion House seinen fünfzig Köchen und Kellermeistern
Befehl, Weihnachten zu feiern, wie es eines Lord Mayors würdig
ist, und selbst der kleine Schneider, den er am Montag vorher
wegen Trunkenheit und blutrünstiger Äußerungen in der
Öffentlichkeit mit fünf Shil ing gestraft hatte, rührte den Pudding
für morgen in seinem Dachkämmerchen, während seine magere
Frau mit dem Säugling auf dem Arm wegging, um das Roastbeef
zu kaufen.
Immer nebliger und kälter wurde es, durchdringend, schneidend
kalt. Wenn der gute, heilige Dunstan die Nase des Gottseibeiuns
nur mit einem Hauch von diesem Wetter gefaßt hätte, anstatt
seine gewöhnlichen Waffen zu gebrauchen, dann hätte er wohl
seine gewöhnlichen Waffen zu gebrauchen, dann hätte er wohl
recht gebrüllt. Der Inhaber einer kleinen, jungen Nase, an der die
hungrige Kälte biß und nagte, wie Hunde an einem Knochen,
legte sich an Scrooges Schlüssel och, um ihn mit einem
Weihnachtsliede zu erfreuen. Aber beim ersten Ton des Liedes
ergriff Scrooge das Lineal mit einer solchen Heftigkeit, daß der
Sänger voll Schrecken entfloh und das Schlüssel och dem Nebel
und dem noch verwandteren Frost überließ.
11
Endlich kam die Feierabendstunde. Unwillig stieg Scrooge von
seinem Sessel und gab dadurch dem harrenden Kommis in dem
Verlies stil schweigend die Einwilligung zum Aufbruch, worauf
dieser sogleich das Licht auslöschte und den Hut aufsetzte.
»Sie wol en morgen den ganzen Tag frei haben, vermute ich«,
sagte Scrooge.
»Wenn es Ihnen recht ist, Sir.«
»Es ist mir durchaus nicht recht«, sagte Scrooge, »und es gehört
sich auch nicht. Wenn ich Ihnen eine halbe Krone dafür abzöge,
würden Sie denken, es geschähe Ihnen Unrecht, nicht wahr?«
Der Kommis antwortete mit einem gezwungenen Lächeln.
»Und doch«, sagte Scrooge, »denken Sie nicht daran, daß mir
Unrecht geschieht, wenn ich einen Tag Lohn bezahle für einen
Unrecht geschieht, wenn ich einen Tag Lohn bezahle für einen
Tag Faulenzen.«
Der Kommis bemerkte, daß es ja nur einmal im Jahr geschähe.
»Eine armselige Entschuldigung, um an jedem fünfundzwanzigsten
Dezember eines Mannes Tasche zu bestehlen«, murrte Scrooge,
indem er seinen Überrock bis an das Kinn zuknöpfte. »Aber ich
vermute, Sie wol en den ganzen Tag frei haben? Seien Sie
wenigstens übermorgen um so früher hier!«
Der Kommis versprach es, und Scrooge ging mit einem
Brummen fort. Das Kontor war im Nu geschlossen, und der
Kommis, dem die langen Enden seines weißen Schals um die
Beine baumelten, schlitterte zu Ehren des Festes in einer Reihe
von Knaben zwanzigmal Cornhill hinunter; dann lief er so schnel
wie möglich in seine Wohnung in Camden Town, um dort
Blindekuh zu spielen.
Scrooge nahm sein einsames, trübseliges Mahl in seinem
gewöhnlichen, einsamen, trübseligen Gasthaus ein, und nachdem
er al e Zeitungen gelesen und sich den Rest des Abends mit
seinem Bankjournal vertrieben hatte, ging er nach Hause zurück,
um zu schlafen. Er wohnte in den Zimmern, die seinem
verstorbenen Kompagnon gehört hatten. Es war eine düstere
Flucht von Zimmern in einem niedrigen, dunklen Gebäude, das in
seinen Hof so ganz und gar nicht hineinpaßte, daß man fast hätte
glauben mögen, es habe sich, als es noch ein junges Haus war
glauben mögen, es habe sich, als es noch ein junges Haus war
und mit andern Häusern Versteck spielte, dorthin verlaufen und
nicht wieder hinausfinden können. jetzt war es alt und öde, weil
niemand dort wohnte als Scrooge und alle andern Örtlichkeiten
als Geschäftsräume vermietet waren. Der Hof war so dunkel,
daß selbst Scrooge, der dort jeden Pflasterstein kannte, seinen
Weg mit den Händen ertasten mußte.
Der Nebel und der Frost bal ten sich so dick und schwer um den
schwarzen alten Torweg des Hauses, als hocke der Wettergeist
in trübem Sinnen auf der Schwelle.
Nun steht es fest, daß an dem Klopfer der Haustür ganz und gar
nichts Besonderes war als seine Größe. Auch steht es fest, daß
ihn Scrooge jeden Abend und jeden Morgen, seitdem er das
Haus bewohnte, gesehen hatte und daß Scrooge so wenig
Phantasie besaß, als irgend jemand in der City von London, mit
Einschluß des Stadtrats - wenn das zu sagen erlaubt ist -, der
Aldermen und der Zünfte. Man vergesse auch nicht, daß
Scrooge, außer heute nachmittag, keine Sekunde an seinen vor
sieben Jahren verstorbenen Kompagnon gedacht 12
hatte. Und dann erkläre mir jemand, warum Scrooge, als er
seinen Schlüssel in das Türschloß steckte, in dem Klopfer, ohne
daß dieser sich vor seinen Augen verändert hätte, keinen
Türklopfer, sondern Marleys Gesicht sah?
Ja, Marleys Gesicht. Es war nicht von so undurchdringlichem
Dunkel umgeben, wie die andern Gegenstände im Hof, sondern
Dunkel umgeben, wie die andern Gegenstände im Hof, sondern
von einem unheimlichen Licht, wie ein verdorbener Hummer in
einem dunklen Keller. Es blickte ihm nicht wild entgegen, oder
zürnend, sondern sah Scrooge an, wie ihn Marley gewöhnlich
angesehen hatte, die gespenstige Brille auf die gespenstige Stirn
hinaufgeschoben. Das Haar stand ihm seltsam zu Berg, wie von
Atem oder heißer Luft gesträubt, und obgleich die Augen weit
offen standen, waren sie doch ohne jede Bewegung. Dies und
die leichenhafte Farbe machten das Gesicht schrecklich: aber
diese Schrecklichkeit schien eher etwas dem Gesicht
Aufgezwungenes zu sein, als ein Teil seines Ausdruckes.
Als Scrooge fest auf die Erscheinung blickte, da sah er wieder
einen Türklopfer!
Es wäre eine Unwahrheit, zu sagen, er sei nicht erschrocken
oder sein Blut habe nicht ein grausendes Gefühl durchzuckt, das
ihm seit seiner Kindheit unbekannt geblieben war. Aber
gewaltsam faßte er sich, faßte mit der Hand abermals nach dem
Schlüssel, drehte ihn um, trat in das Haus und zündete sein Licht
an.
Und doch zögerte er einen Augenblick, bevor er die Tür schloß,
und spähte erst vorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich, mit
dem Anblick von Marleys Zopf erschreckt zu werden. Aber
hinter der Tür war nichts, als die Schrauben, die den Klopfer
festhielten, und so sagte er: »Bah, bah«, und warf sie hinter sich
ins Schloß.
ins Schloß.
Der Schal klang wie ein Donner durch das Haus. jedes Zimmer
oben und jedes Faß in des Weinhändlers Keller unten schien mit
seinem besonderen Echo zu antworten. Scrooge war nicht der
Mann, der sich durch Echos erschrecken ließ. Er schloß die Tür,
ging über den Hausflur und die Treppe hinauf, und zwar langsam,
langsam und beim Hinaufgehen das Licht heller machend.
Man mag behaupten, daß sich's mit einem Sechsspänner eine
stattliche alte Treppenflucht hinauf - oder mitten durch ein neues
Parlamentsdekret hindurchsausen lasse; ich sage aber, daß man
mit einem Leichenwagen, und zwar der Quere nach, mit der
Deichsel nach der Wand und mit der Tür nach dem Geländer zu,
diese Treppe hinaufgekommen wäre, und zwar ganz bequem.
Und das ist vielleicht die Ursache, warum Scrooge glaubte, er
sähe einen Leichenwagen vor sich hinaufdampfen. Ein halbes
Dutzend Gaslampen von der Straße aus hätten den Eingang nicht
hell genug gemacht, und so kann man sich denken, daß es bei
Scrooges kleinem Talglicht ziemlich dunkel blieb.
Scrooge aber ging hinauf und kümmerte sich keinen Pfifferling
um all das.
Dunkelheit ist billig, und das Billige liebte Scrooge. Aber ehe er
seine schwere Tür zumachte, ging er durch die Zimmer, um zu
sehen, ob alles in Ordnung sei.
Er erinnerte sich des Gesichts noch gerade genug, um das zu
Er erinnerte sich des Gesichts noch gerade genug, um das zu
wünschen.
13
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer, alles war, wie es
sein sol te.
Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein kleines
Feuer auf dein Rost, Löffel und Teller bereit und das kleine
Töpfchen Haferschleim (Scrooge hatte den Schnupfen) auf dem
Feuer. Niemand unter dem Bett, niemand im Alkoven, niemand
in seinem Schlafrock, der auf eine ganz verdächtige Weise an der
Wand hing. Die Rumpelkammer wie gewöhnlich. Ein alter
Kaminschirm, alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger
Waschtisch und ein Schüreisen.
Vollkommen zufriedengestellt, machte er die Tür zu, schloß sich
ein und schob noch den Riegel vor, was sonst seine Gewohnheit
nicht war, So gegen Überraschung sichergestel t, legte er seine
Halsbinde ab, zog seinen Schlafrock an und die Pantoffeln, setzte
die Nachtmütze auf und nahm dann vor dem Feuer Platz, um
seinen Haferschleim zu essen.
Es war wirklich ein sehr kleines Feuer, in einer so kalten Nacht
so gut wie gar keins. Er mußte sich dicht daran setzen und sich
darüber hinbeugen, um das geringste Wärmegefühl von dieser
Handvoll Kohlen zu erhaschen. Der Kamin war vor langen
Jahren von einem holländischen Kaufmann gebaut worden und
ringsum mit seltsamen holländischen Fliesen mit Bildern aus der
biblischen Geschichte belegt. Da sah man Kain und Abel,
Pharaos Töchter, die Königin von Saba, Engel durch die Luft auf
Wolken gleich Federbetten herabschwebend, Abraham,
Belsazar, Apostel in See gehend auf Butterschiffen, Hunderte
von Figuren, seine Gedanken zu beschäftigen, und doch kam das
Gesicht Marleys wie der Stab des alten Propheten und
verschlang alles andere. Wenn jede glänzende Fliese weiß
gewesen wäre und die Macht gehabt hätte, aus den vereinzelten
Fragmenten seiner Gedanken ein Bild auf ihre Fläche zu zaubern,
auf jeder wäre ein Abbild von des alten Marley Ges icht
erschienen.
»Dummes Zeug!« brummte Scrooge und schritt durch das
Zimmer.
Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, setzte er sich
wieder. Als er den Kopf in den Stuhl zurücklegte, fiel sein Auge
wie durch Zufall auf eine Klingel, eine alte, nicht mehr gebrauchte
Klingel, die zu einem jetzt vergessenen Zwecke mit einem
Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses in Verbindung
stand. Zu seinem großen Erstaunen und mit einem seltsamen,
unerklärlichen Schauer sah er, wie die Klingel sich zu bewegen
begann: erst bewegte sie sich so wenig, daß sie kaum einen Ton
von sich gab, aber bald schel te sie laut und mit ihr jede andre
Klingel des Hauses.
Das mochte eine halbe Minute gedauert haben, oder eine ganze,
aber es kam ihm vor wie eine Stunde. Die Klingeln hörten
gleichzeitig auf, wie sie gleichzeitig angefangen hatten. Dann
vernahm man ein Rasseln tief unten, als ob jemand über die
Fässer in des Weinhändlers Keller eine schwere Kette schleppe.
jetzt erinnerte sich Scrooge gehört zu haben, daß Gespenster
Ketten schleppen.
Die Kellertür flog mit einem dumpfdröhnenden Knall auf, und
dann hörte er das Klirren viel lauter auf dem Hausflur unten,
dann wie es die Treppe herauf und dann wie es gerade auf seine
Tür zukam.
»Es ist ja dummes Zeug«, sagte Scrooge. »Ich glaube nicht
dran.«
14
Aber er wechselte doch die Farbe, als es nun ohne zu verweilen,
durch die schwere Tür und in das Zimmer kam. Als es hereintrat,
flammte das sterbende Feuer auf, als riefe es: »Ich kenne ihn,
Marleys Geist!«, und die Glut sank wieder zusammen.
Dasselbe Ges icht, ganz dasselbe. Marley mit seinem Zopf,
seiner gewöhnlichen Weste, den engen Hosen und hohen
Stiefeln, deren Troddeln in die Höhe standen, wie sein Zopf, und
ebenso seine Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die
ebenso seine Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die
Kette, die er hinter sich herschleppte, war um seinen Leib
geschlungen. Sie war lang, ringelte sich wie ein Schwanz und war
(Scrooge betrachtete sie sehr genau) aus Geldkassen,
Schlüsseln, Schlössern, Hauptbüchern, Kontrakten und
schweren Börsen aus Stahl zusammengesetzt.
Sein Leib war so durchsichtig, daß Scrooge durch die Weste
hindurch die zwei Knöpfe hinten an seinem Rock sehen konnte.