Oliver Twist

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Oliver Twist
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Is reading Artur Ziajkiewicz
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Oliver Twist
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Is reading Staff Audiolibros Colección
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Oliver Twist
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LUNATA
Oliver Twist

Oliver Twist

© 1939 Charles Dickens

Originaltitel Oliver Twist;

or, The Parish Boy’s Progress

Aus dem Englischen von Julius Seybt

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Anmerkungen

Kapitel 1
Handelt von dem Ort, an dem Oliver Twist geboren wurde, und von den seine Geburt begleitenden Umständen

Eine Stadt, die ich aus gewissen Gründen nicht näher bezeichnen will, der ich aber auch keinen erdichteten Namen beilegen möchte, besitzt unter anderen öffentlichen Gebäuden gleich den meisten anderen Städten, sie mögen groß oder klein sein, von altersher ein Armenhaus, und in diesem wurde an einem Tage, dessen genaues Datum für den Leser kein besonderes Interesse hat, das Mitglied der sterblichen Menschheit geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels angegeben ist.

Lange Zeit, nachdem der Wundarzt des Kirchspiels ihn in diese Welt der Mühen und Sorgen befördert hatte, blieb es äußerst zweifelhaft, ob er lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es war nämlich tatsächlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, Oliver dahin zu bringen, daß er sich der Aufgabe, Atem zu holen, selbst unterzog – einem mühsamen Geschäfte, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer notwendigen Lebensbedingung gemacht hat; eine Zeitlang lag er nach Luft schnappend auf einer kleinen Matratze aus Schafwolle und schien sich in der Schwebe zwischen dieser und jener Welt zu befinden, wobei die Wage sich entschieden zugunsten der letzteren neigte. Wenn Oliver während dieser kurzen Zeit von sorglichen Großmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Doktoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben; allein es war niemand in seiner Nähe, außer einer alten Frau, die sich infolge des ungewohnten Genusses von Bier in einer etwas angeheiterten Stimmung befand, und dem Kirchspielwundarzt, der die Geburtshilfe kontraktmäßig leistete. Oliver und die Natur fochten also die Sache zwischen sich ganz allein aus, und die Folge davon war, daß nach kurzem Kampfe Oliver atmete, nieste und endlich den Insassen des Armenhauses die Tatsache ankündigte, daß dem Kirchspiele eine neue Last aufgebürdet worden sei, indem er ein so lautes Geschrei erhob, wie man es füglicherweise von einem neugeborenen Knaben erwarten konnte.

Als Oliver diesen ersten Beweis von der freien und selbständigen Tätigkeit seiner Lungen gab, bewegte sich die geflickte Decke, die nachlässig über die eiserne Bettstelle gebreitet war; das bleiche Antlitz einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Pfühle, und eine schwache Stimme brachte mühsam die Worte hervor: »Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.«

Der Wundarzt, der vor dem Kamine saß und seine Hände abwechselnd an dem Feuer wärmte und rieb, erhob sich bei den Worten der jungen Frau, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Tone, als man ihm zugetraut haben würde: »O, Sie dürfen jetzt nicht vom Sterben sprechen.«

»Der Herr segne ihr gutes Herzchen, nein!« unterbrach ihn die Wärterin, indem sie eine grüne Glasflasche, von deren Inhalt sie in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gekostet hatte, rasch in die Tasche steckte. »Der Herr segne ihr gutes Herzchen; wenn sie erst so alt geworden ist wie ich und dreizehn Kinder gehabt hat und alle sind tot bis auf zwei, die zusammen mit mir im Armenhause sind, so wird sie schon auf andere und vernünftigere Gedanken kommen; der Herr segne ihr gutes Herzchen. Bedenken Sie nur, Frauchen, was es heißt, Mutter eines so süßen kleinen Lämmchens zu sein.«

Diese tröstlichen Worte schienen ihre Wirkung zu verfehlen. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Der Wundarzt reichte es ihr, sie küßte es, heftig erregt, mit den kalten weißen Lippen auf die Stirn, fuhr mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück – und starb.

»'s ist aus mit ihr,« sagte der Wundarzt nach einigen vergeblichen Bemühungen, sie wieder zum Leben zurückzubringen.

»Das arme Kind!« sagte die Wärterin, indem sie den Pfropfen der grünen Flasche aufhob, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niederbeugte, um das Kind aufzunehmen. »Armes Kind!«

»Sie brauchen nicht zu mir zu schicken, wenn das Kind schreit,« fuhr der Wundarzt fort, während er kaltblütig seine Handschuhe anzog. »Es wird wahrscheinlich sehr unruhig sein; geben Sie ihm dann ein wenig Hafergrütze.«

Er setzte den Hut auf, trat aber noch einmal an das Bett und sagte: »Die Mutter sah gut aus; woher kam sie?«

»Sie wurde gestern Abend gebracht,« erwiderte die Wärterin, »auf Befehl des Direktors. Man hatte sie auf der Straße liegend gefunden, und sie muß ziemlich weit hergewandert sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen; aber woher sie kam, oder wohin sie wollte, das weiß niemand.«

Der Wundarzt beugte sich über die Verblichene, hob die rechte Hand derselben empor und bemerkte kopfschüttelnd: »Die alte Geschichte; kein Trauring, wie ich sehe. Hm! gute Nacht!«

 

Er ging zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie sich noch einmal an der grünen Flasche erlabt hatte, auf einen Stuhl in der Nähe des Feuers und begann das Kind anzukleiden. Bis zu diesem Augenblicke hätte man nicht sagen können, ob es das Kind eines Edelmanns oder eines Bettlers sei; das dürftige, verwaschene Kinderzeug des Armenhauses bezeichnet indes sogleich seine gegenwärtige und zukünftige Stellung in der Welt, sein ganzes Schicksal, als Kirchspielkind – Waise des Armenhauses, halb verhungert und unter Mühe und Plackerei, verachtet von allen, bemitleidet von niemand, durch die Welt geknufft und gestoßen zu werden.

Oliver schrie mit kräftiger Stimme; hätte er wissen können, daß er eine Waise war, überliefert der zärtlichen Fürsorge von Kirchenältesten und Kirchenvorstehern, so würde er vielleicht noch lauter geschrien haben.

Kapitel 2
Handelt von Oliver Twists Heranwachsen und kümmerlicher Ernährung sowie von einer Sitzung des Armenkollegiums

Während der nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer einer systematischen Gaunerei und Betrügerei. Er wurde aufgepäppelt. Die elende und verlassene Lage der kleinen Waise wurde von der Behörde des Armenhauses pflichtschuldigst der des Kirchspiels gemeldet. Die letztere forderte von der ersteren würdevoll einen Bericht darüber ab, ob sich nicht in »dem Hause« eine Frauenperson befände, die dem Kinde seine natürliche Nahrung reichen könnte. Die Behörde des Armenhauses beantwortete die Anfrage untertänigst mit nein, und daraufhin faßte die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluß, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Filialarmenhaus bringen zu lassen, wo zwanzig bis dreißig andere kleine Übertreter der Armengesetze unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau, welche für jeden derselben wöchentlich sieben und einen halben Penny erhielt, aufwuchsen, ohne zu gut genährt oder zu warm gekleidet und verzärtelt zu werden. Mit sieben und einem halben Penny läßt sich nicht viel beschaffen, und die Matrone war klug und erfahren. Sie wußte, wie leicht sich Kinder den Magen überladen können und was ihnen dient, ebenso genau aber auch, was ihr selbst gut war; sie verwendete daher einen beträchtlichen Teil des für die Kinder Bestimmten in ihrem eignen Nutzen, fand demnach in der tiefsten noch eine tiefere Tiefe und bewies somit, daß sie es in der Experimentalphilosophie wirklich weit gebracht hatte.

Jedermann kennt die Geschichte eines anderen Experimentalphilosophen, nach dessen ruhmwürdiger Theorie ein Pferd imstande war, ohne Nahrung zu leben, und der jene so vortrefflich demonstrierte, daß er sein eignes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte, und ohne Frage ein äußerst mutiges, kräftiges und gar nicht fressendes Tier aus ihm gemacht haben würde, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten komfortablen vollkommenen Hungertage gestorben wäre. Die mehrerwähnte Matrone wendete dasselbe System nicht selten mit gleichem Unglücke auf die Kirchspielkinder an, deren nicht wenige vor Kälte oder Hunger, oder weil sie einen Fall getan oder sich verbrannt hatten, starben und zu ihren Vätern in jener Welt, die sie in dieser nicht gekannt, versammelt wurden, wenn sie sie eben mit vieler Mühe so weit gebracht hatte, daß sie von der möglichst geringen Quantität möglichst schwacher Nahrungsmittel leben konnten.

Stellten die Direktoren unangenehme Untersuchungen über den Verbleib eines Kindes an oder taten die Geschworenen lästige Fragen, so schützten das Zeugnis und die Aussage des Wundarztes und des Kirchspieldieners gegen diese Zudringlichkeiten. Der erstere hatte stets die Leichen geöffnet und nichts darin gefunden (was sehr natürlich zuging), und der letztere beschwor stets, was dem Kirchspiel angenehm war, und gab damit einen großen Beweis von Selbstaufopferung und Hingebung. Das Armenkollegium besuchte von Zeit zu Zeit die Filialanstalt und schickte tags zuvor den Kirchspieldiener, um seine Ankunft zu verkünden. Und dann sahen die Kinder stets gut und reinlich aus, und was konnte man mehr verlangen?

Es war nicht zu verlangen, daß die in der Filiale herrschende Hausordnung ein allzu üppiges Gedeihen der Kinder beförderte, und so war auch Oliver Twist an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schwächliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind, von sehr geringem Leibesumfange; doch wohnte in ihm ein gesunder, kräftiger Geist, der auch, dank der strengen Diät des Hauses, hinreichenden Raum hatte, sich auszudehnen. Oliver feierte seinen Geburtstag im Kohlenkeller in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die nach einer tüchtigen Tracht Schläge hier mit ihm eingesperrt worden waren, weil sie sich erkühnt hatten, hungrig zu sein, als Frau Mann, die gutherzige Pflegerin, durch die Erscheinung Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der dem Gartenpförtchen zuschritt, in Schrecken gesetzt wurde.

»Du meine Güte, sind Sie es, Mr. Bumble?« rief sie ihm aus dem Fenster, anscheinend hoch erfreut, entgegen. – »Susanne, bring' gleich den Oliver und die andern beiden Buben herauf und wasch' sie. Ach, Mr. Bumble, wie lange haben Sie sich nicht sehen lassen!«

Mr. Bumble war ein wohlbeleibter und dazu cholerischer Mann, und so rüttelte er, anstatt auf diese freundliche Begrüßung in höflicher Weise zu antworten, wütend an der kleinen Pforte und gab ihr dann einen Stoß, wie ihn nur ein Kirchspieldiener versetzen konnte.

»Herr des Himmels!« rief Mrs. Mann, indem sie aus dem Zimmer stürzte – denn die drei Knaben waren inzwischen entfernt worden –, »daß ich es auch dieser lieben Kinder wegen vergessen mußte, daß die Tür von innen verriegelt ist. Treten Sie ein, Sir, bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble! Haben Sie die Güte.«

Obgleich diese Einladung von einem freundlichen Lächeln begleitet war, das sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht haben würde, besänftigte es den Kirchspieldiener doch keineswegs.

»Nennen Sie das einen respektvollen oder schicklichen Empfang, Mrs. Mann,« fragte Bumble, indem er seinen Stab fester in die Hand nahm, »wenn Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Gartenpforte warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten in Betreff der Parochialkinder hierher kommen?«

»Ich kann Sie versichern, Mr. Bumble, daß ich nur ein paar der lieben Kinder bei mir hatte, wegen deren Sie so freundlich sind, herzukommen,« erwiderte Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit.

Mr. Bumble hegte eine hohe Meinung von seiner oratorischen Begabung und seiner Wichtigkeit. Er hatte die eine bewiesen und die andere gewahrt. Er war in milderer Stimmung.

»Nun, nun, Mrs. Mann,« sagte er, »es mag sein, wie Sie sagen, es mag sein. Lassen Sie mich hinein, Mrs. Mann; ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas zu sagen.«

Mrs. Mann nötigte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Stuhl an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Stab auf den Tisch vor ihm. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte freundlich auf den dreieckigen Hut und lächelte. Ja, er lächelte. Kirchspieldiener sind auch nur Menschen, und Mr. Bumble lächelte.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, was ich Ihnen sagen will,« bemerkte Mrs. Mann mit bezaubernder Liebenswürdigkeit. »Sie wissen, Sie haben einen weiten Weg hinter sich; wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«

»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen,« versetzte Mr. Bumble, indem er mit seiner rechten Hand in würdevoller, aber freundlicher Weise abwinkte.

»Ich denke, Sie werden mir schon den Gefallen tun,« sagte Mrs. Mann, die den Ton der Weigerung und die diese begleitende Gebärde bemerkt hatte. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem Schluck kalten Wassers und einem Stück Zucker.«

Mr. Bumble hustete.

»Nur ein ganz kleines Gläschen,« wiederholte Mrs. Mann in dringendem Tone.

»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.

»Nun, es ist das, von dem ich etwas im Hause zu halten verpflichtet bin, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind, Mr. Bumble,« entgegnete Mrs. Mann, während sie ein Eckschränkchen öffnete und eine Flasche und ein Glas herausnahm. »Es ist Genever, ich will Sie nicht hintergehen, Mr. Bumble. Es ist Genever.«

»Geben Sie den Kindern Kaffee, Mrs. Mann?« fragte Bumble, der mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgte.

»Ach, gesegne es ihnen Gott, ich tue es, so kostspielig es auch sein mag,« versetzte die Wärterin. »Ich könnte sie vor meinen leiblichen Augen nicht leiden sehen, Sir, Sie wissen es ja.«

»Nein,« sagte Mr. Bumble beistimmend; »nein, Sie könnten es nicht. Sie sind eine menschlich denkende Frau, Mrs. Mann.« (Hier setzte sie das Glas vor ihn hin.) »Ich werde sobald wie möglich Gelegenheit nehmen, es dem Kollegium gegenüber zu erwähnen, Mrs. Mann.« (Er zog das Glas näher zu sich heran.) »Sie empfinden wie eine Mutter.« (Er ergriff das Glas.) »Ich – ich trinke mit Vergnügen auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann«; und er trank es zur Hälfte aus.

»Und nun zu den Geschäften!« rief der Kirchspieldiener, indem er eine lederne Brieftasche hervorzog. »Der Knabe, der halb auf den Namen Oliver Twist getauft wurde, ist heut neun Jahre alt.«

»Des Himmels Segen über das liebe Herzchen!« rief Mrs. Mann aus und mußte die Augen mit der Schürze abtrocknen.

Mr. Bumble fuhr fort: »Trotz ausgebotener Belohnung von zehn Pfund, ja nachher von zwanzig Pfund – trotz der übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels, sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater ausfindig zu machen oder seiner Mutter Wohnung, Namen oder Stand in Erfahrung zu bringen.«

»Wie geht es denn aber zu, daß er einen Namen hat?« fragte die Waisenmutter.

Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und erwiderte »Ich erfand ihn.«

»Sie, Mr. Bumble!«

»Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findlinge nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – Swubble: ich benannte ihn. Dieser war ein T – Twist: ich gab ihm abermals den Namen. Der nächste, der kommen wird, wird Unwin heißen, der nächstfolgende Vilkins. Ich habe Namen im Vorrat von A bis Z; und wenn ich beim Z angekommen bin, fang' ich beim A wieder an.«

»Sie sind wirklich ein Gelehrter, Mr. Bumble!«

»Mag sein, mag sein, Mrs. Mann. Doch genug davon. Oliver ist jetzt zu alt geworden zum Hierbleiben, das Kollegium hat beschlossen, ihn zurückzunehmen, ich bin selbst gekommen, ihn abzuholen; – wo ist er?«

Mrs. Mann eilte hinaus und erschien gleich darauf mit Oliver wieder, der unterdes gewaschen und bestens gekleidet war.

»Mach 'nen Diener vor dem Herrn, Oliver,« sagte sie.

Oliver verbeugte sich tief vor dem Kirchspieldiener auf dem Stuhle und dem dreieckigen Hut auf dem Tische.

»Willst du mit mir gehen, Oliver?« redete ihn Mr. Bumble in feierlichem Tone an.

Oliver war im Begriff, zu antworten, daß er auf das bereitwilligste mit jedermann fortgehen würde, hob aber zufällig die Augen zu Mrs. Mann empor, die hinter des Kirchspieldieners Stuhl getreten war und mit grimmigen Mienen die Faust schüttelte. Er wußte nur zu gut, was das bedeutete.

»Geht sie auch mit?« fragte er.

»Das ist unmöglich; sie wird aber bisweilen kommen und dich besuchen,« erwiderte Bumble.

Das war kein großer Trost für Oliver; allein er hatte trotz seiner Jugend Verstand genug, sich anzustellen, als verließe er das Haus nur sehr ungern; ohnehin standen ihm die Tränen infolge des Hungers und soeben erfahrener harter Züchtigung nahe genug. Mrs. Mann umarmte ihn wiederholt und gab ihm, was er am meisten bedurfte, ein großes Stück Butterbrot, damit er im Armenhause nicht zu hungrig anlangte. Die Sache war natürlich abgemacht. Sein Butterbrot in der Hand, verließ er die Stätte, wo kein Strahl eines freundlichen Blickes das Dunkel seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Und doch brach er in Tränen kindlichen Schmerzes aus, als das Gartentor sich hinter ihm schloß. Verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Freunde, die er in seinem Leben gekannt hatte; und zum erstenmal, seit dem Erwachen seines Bewußtseins, empfand er ein Gefühl seiner Verlassenheit in der großen weiten Welt. Mr. Bumble schritt kräftig vorwärts; der kleine Oliver trabte neben ihm her und fragte am Ende jeder Meile, ob sie nicht bald »da« sein würden. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble sehr kurze und mürrische Antworten; denn die zeitweilige Milde, die der Genuß von Genever und Wasser in manchen Gemütern erzeugt, war längst verflogen, und er war wiederum Kirchspieldiener.

 

Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses gewesen und hatte kaum ein zweites Stück Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte. Er erklärte ihm, daß heut Abend eine Sitzung des Armenkollegiums stattfände und daß er sofort vor diesem zu erscheinen habe.

Oliver, der keine allzu klare Vorstellung von dem hatte, was ein Armenkollegium zu bedeuten habe, war von dieser Mitteilung wie betäubt und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte jedoch keine Zeit, über diesen Punkt nachzudenken; denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stab einen Schlag auf den Kopf, um ihn aufzuwecken, und einen anderen über den Rücken, um ihn munter zu machen. Dann befahl er ihm, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Oben am Tische saß in einem Armstuhl, der höher war als die übrigen, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte.

»Mache dem Kollegium eine Verbeugung,« sagte Bumble. Oliver zerdrückte zwei oder drei Tränen in seinen Augen, und da er kein Kollegium, sondern nur den Tisch sah, so machte er vor diesem eine wohlgelungene Verbeugung.

»Wie heißt du, Junge?« begann der Herr auf dem großen Stuhle.

Oliver zitterte, denn der Anblick so vieler Herren brachte ihn gänzlich außer Fassung; Bumble suchte ihn durch eine kräftige Berührung mit dem Kirchspieldienerstab zu beleben, und er fing an zu weinen. Er antwortete daher leise und zögernd, worauf ihm ein Herr in weißer Weste zurief, er wäre ein dummer Junge, was ein vortreffliches Mittel war, ihm Mut einzuflößen.

»Junge,« sagte der Präsident, »höre, was ich dir sage. Du weißt doch, daß du eine Waise bist?«

»Was ist denn das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.

»Er ist in der Tat ein dummer Junge – ich sah es gleich,« sagte der Herr mit der weißen Weste sehr bestimmt.

»Du wirst doch wissen,« nahm der Herr wieder das Wort, der zuerst gesprochen hatte, »daß du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«

»Ja, Sir,« antwortete Oliver, bitterlich weinend.

»Was heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste; und es war in der Tat höchst auffallend, daß Oliver weinte. Was konnte er denn für eine Veranlassung dazu haben?

»Ich hoffe doch, daß du jeden Abend dein Gebet hersagst,« fiel ein anderer Herr in barschem Tone ein, »und für diejenigen, die dir zu essen geben und für dich sorgen, betest, wie es sich für einen Christenmenschen ziemt.«

»Ja, Sir,« stotterte Oliver.

»Wir haben dich hierher bringen lassen,« sagte der Präsident, »damit du erzogen werden und ein nützliches Geschäft lernen sollst. Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen.«

Für die Vereinigung dieser beiden Wohltaten in der einfachen Beschäftigung des Wergzupfens machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners eine tiefe Verbeugung und ward dann eiligst in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einem rauhen, harten Bette in den Schlaf weinte. Welch ein ehrenvolles Licht fällt hierdurch auf die milden Gesetze Englands! Sie gestatten den Armen, zu schlafen!

Armer Oliver! Als er so in glücklicher Unbewußtheit seiner ganzen Umgebung schlafend dalag, dachte er nicht daran, daß das Kollegium an ebendemselben Tage zu einer Entscheidung gelangt war, die den größten Einfluß auf seine künftigen Geschicke ausüben sollte. Die Sache verhielt sich nämlich folgendermaßen: Die Mitglieder des Kollegiums waren sehr weise, den Dingen auf den Grund gehende, philosophisch gebildete Männer, und als sie dazu kamen, ihre Aufmerksamkeit dem Armenhause zuzuwenden, fanden sie mit einem Male, was gewöhnliche Sterbliche niemals entdeckt hatten. Den Armen gefiel es darin nur zu gut! Es war ein regelrechter Unterschlupfsort für die ärmeren Klassen, ein Gasthaus, in dem man nichts zu bezahlen hatte – ein Ort, an dem man das ganze Jahr hindurch auf öffentliche Kosten das Frühstück, das Mittagessen, den Tee und das Abendbrot einnehmen konnte – ein Elysium aus Ziegeln und Mörtel, in dem nur gescherzt und gespielt, aber nicht gearbeitet wurde. »Oho,« sagte das Kollegium, »wir sind die richtigen Männer, um hier Ordnung zu schaffen!« So ordneten sie denn an, daß alle Armen die Wahl haben sollten (denn sie wollten um alles in der Welt niemand zwingen), langsam in oder rasch außer dem Hause zu verhungern. In dieser Absicht schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen über die in großen Zwischenräumen erfolgenden Lieferungen von kleinen Mengen Hafermehl ab und gaben täglich drei Portionen eines dünnen Mehlbreis aus; außerdem wurde zweimal wöchentlich eine Zwiebel und des Sonntags eine halbe Semmel gereicht.

Die ersten sechs Monate nach der Aufnahme Oliver Twists war das System in vollem Gange. Das Gemach, in welchem die Knaben gespeist wurden, war eine Art Küche, und der Speisemeister, unterstützt von ein paar Frauen, teilte ihnen aus einem kupfernen Kessel am unteren Ende ihre Haferbreiportionen zu, einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wo sie auch noch ein nicht eben zu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht gewaschen zu werden, denn sie wurden mit den Löffeln der Knaben so lange poliert, bis sie wieder vollkommen blank waren; und auch an den Löffeln und Fingern blieben Speisereste niemals hängen. Kinder pflegen eine vortreffliche Eßlust zu besitzen. Oliver und seine Kameraden hatten drei Monate die Hungerdiät ausgehalten, vermochten sie nun aber nicht länger mehr zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Knabe, dessen Vater ein Garkoch gewesen, erklärte den übrigen, daß er, wenn er nicht täglich zwei Näpfe Haferbrei bekomme, fürchten müsse, über kurz oder lang seinen Bettkameraden, einen kleinen, schwächlichen Knaben, aufzuessen. Seine Augen waren verstört und rollten wild. Die halbverhungerte Schar glaubte ihm, hielt einen Rat, loste darum, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle, und das Los traf Oliver Twist.

Der Abend kam, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgefüllt und ein breites Gebet über der schmalen Kost gesprochen. Die letztere war verschwunden, die Knaben flüsterten untereinander, winkten Oliver, und die zunächst Sitzenden stießen ihn an. Der Hunger ließ ihn alle Bedenklichkeiten und Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hin und sagte, freilich mit ziemlichem Beben: »Bitt' um Vergebung, Sir, ich möchte noch ein wenig.«

Der wohlgenährte, rotwangige Speisemeister erblaßte, starrte den kleinen Rebellen wie betäubt vor Entsetzen an und mußte sich am Kessel festhalten. Die Frauen waren vor Erstaunen, die Knaben vor Schreck sprachlos. »Was willst du?« fragte der Speisemeister endlich mit schwacher Stimme. Oliver wiederholte unter Furcht und Zittern seine Worte, und nunmehr ermannte sich der Speisemeister, schlug ihn mit dem Löffel auf den Kopf und rief laut nach dem Kirchspieldiener.

Das Armenkollegium war eben versammelt, als Mr. Bumble in großer Erregung hereinstürzte und, zu dem Herrn auf dem hohen Stuhle gewandt, sagte: »Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr gefordert.«

Das Kollegium war starr. Entsetzen über eine solche Frechheit malte sich auf allen Gesichtern.

»Mehr!« erwiderte Mr. Limbkins. »Fassen Sie sich, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht, daß er mehr gefordert hat, nachdem er die von dem Direktorium festgesetzte Portion verzehrt hatte?«

»Jawohl, Sir,« entgegnete Bumble.

»Denken Sie an mich, Gentlemen,« sagte der Herr mit der weißen Weste, »der Knabe wird dereinst gehängt werden.«

Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver wurde auf Befehl des Kollegiums sofort eingesperrt und am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an die Außenseite des Tores geklebt, in dem jedermann, der Oliver Twist zu sich nehmen wollte, die Summe von fünf Pfund zugesprochen wurde – mit anderen Worten, man bot Oliver Twist um fünf Pfund an jedermann aus, sei es Mann oder Frau, der einen Lehrling oder Laufburschen brauchte, gleichviel wer und in welchem Handwerke oder Geschäfte.