Die Vertraulichkeit zwischen Wolf Larsen und mir nimmt zu – wenn man mit Vertraulichkeit Beziehungen zwischen Herrn und Diener oder besser noch zwischen König und Hofnarr bezeichnen kann. Ich bin ihm nichts als ein Spielzeug, und er schätzt mich nicht mehr als ein Kind das seine. Meine Aufgabe ist, ihn zu unterhalten, und solange ich das tue, ist alles gut; langweile ich ihn aber oder überkommt ihn eine seiner düsteren Launen, so werde ich sofort wieder vom Kajütentisch in die Kombüse gejagt und muss mich noch glücklich preisen, wenn ich mit dem Leben und mit heilen Gliedern davonkomme.
Allmählich erkenne ich immer mehr die Einsamkeit des Mannes. Nicht einer an Bord, der ihn nicht hasst und fürchtet, nicht einer, den er nicht verachtet. Die ungeheure Kraft, die in ihm ruht und nie eine würdige Verwendung gefunden hat, scheint ihn zu verzehren. So würde Luzifer sein, wäre der stolze Geist zur Gesellschaft seelenloser, langweiliger Geister verbannt. Die Einsamkeit ist schon schlimm an sich, noch schlimmer aber ist, dass ihn die ursprüngliche Schwermut seiner Rasse bedrückt. Seit ich ihn kenne, verstehe ich die alten skandinavischen Mythen besser. Die weißhäutigen, blonden Wilden waren aus demselben Stoff gemacht wie er. Die Leichtfertigkeit lachlustiger Lateiner hat keinen Teil an ihm. Lacht er, so ist es nur eine Laune, nichts als reißende Wildheit. Aber er lacht selten; zu oft ist er schwermütig. Und es ist eine Schwermut, die ebenso tief wurzelt wie seine Rasse selbst. Sie ist ihr Erbteil, diese Schwermut, die sein Geschlecht nüchtern, rein und fanatisch sittsam gemacht, und die in ihrer letzten Ausstrahlung ihren Höhepunkt in der reformierten Kirche der Engländer gefunden hat.
In der Tat: die Religion in ihren düstersten Formen war die letzte Folgerung dieser Schwermut. Aber der Ersatz, den eine solche Religion schenkt, ist Wolf Larsen versagt. Sein brutaler Materialismus lässt keinen Raum dafür. So bleibt ihm, wenn ihn seine düstere Stimmung überkommt, nichts übrig, als teuflisch zu sein. Wäre er nicht ein so entsetzlicher Mensch, ich könnte zuweilen Mitleid mit ihm haben, wie zum Beispiel vor drei Tagen, als ich morgens überraschend in seine Kajüte trat, um die Wasserflasche zu füllen. Er sah mich nicht. Sein Kopf war in den Händen vergraben, seine Schultern zuckten krampfhaft, und als ich mich leise zurückzog, hörte ich ihn stöhnen: »Gott! Ach Gott!« Nicht etwa, dass er Gott angerufen hätte, es war ein Wort, das an niemand gerichtet war, ihm aber aus tiefster Seele kam.
Bei Tisch fragte er die Jäger nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen, und abends taumelte er halbblind in der Kajüte herum.
»Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen, Hump«, sagte er, als ich ihm in seine Koje half. »Und ich habe auch noch nie Kopfschmerzen gehabt, außer in der Zeit, als mein Kopf heilte, nachdem ich mir aus Unvorsichtigkeit ein sechs Zoll großes Loch mit dem Ankerspill hineingeschlagen hatte.«
Drei Tage dauerten die entsetzlichen Kopfschmerzen, und er litt, wie ein wildes Tier leidet, und wie man auf diesem Schiffe zu leiden scheint: klaglos, mitleidlos, ganz allein.
Als ich aber heute Morgen seine Kajüte betrat, um sein Bett zu machen und aufzuräumen, fand ich ihn wohlauf und mitten in der Arbeit. Tisch und Koje waren mit Plänen und Berechnungen übersät. Mit Zirkel und Winkel zeichnete er eine große Skala auf einen großen Bogen Pauspapier.
»Hallo, Hump!« begrüßte er mich heiter. »Ich mache gerade die letzten Striche. Wollen Sie sehen?«
»Was ist das?« fragte ich.
»Eine Anleitung für Seeleute, die Zeit erspart und Navigieren zu einem Kinderspiel macht«, antwortete er heiter. »Von heute an ist jedes Kind imstande, ein Schiff zu steuern. Keine verwickelten Berechnungen mehr! Alles, was man braucht, ist ein Stern am Himmel in dunkler Nacht, um sofort zu wissen, wo man ist. Sehen Sie, ich lege die Pauspapierskala auf diese Sternenkarte und lasse sie sich um den Nordpol drehen. Auf der Skala habe ich die absoluten Höhenkreise und die Peilungslinien verzeichnet. Ich habe nichts weiter zu tun, als sie auf einen bestimmten Stern einzustellen, die Skala zu drehen, bis sie sich den Zahlen unten auf der Karte gerade gegenüber befindet, und: Eins, zwei, drei! Da haben wir die genaue Lage des Schiffes!«
In seiner Stimme war ein triumphierender Klang, und seine Augen, die an diesem Morgen klar und blau wie die See waren, funkelten.
»Sie müssen viel von Mathematik verstehen«, sagte ich. »Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
»Ich hab’ nie eine Schule von innen gesehen – leider. Hab’ alles selbst ausgraben müssen.
Und warum, glauben Sie, hab’ ich die Sache hier gemacht?« fragte er unvermittelt. »In der Hoffnung, meine Spur im Sande der Zeit zu hinterlassen?« Er lachte sein schreckliches, höhnisches Lachen. »Keineswegs. Ich will es mir patentieren lassen und Geld damit verdienen, um die Nächte zu durchprassen, während andere arbeiten. Das ist meine Absicht. Aber die Geschichte hat mir auch Freude gemacht.«
»Schaffensfreude«, bemerkte ich.
»So müsste es wohl heißen. Wieder eine Ausdrucksweise für die Freude des Lebens, weil es lebt und wirkt, für den Triumph der Bewegung über die Materie, des Lebendigen über das Tote, für den Stolz der Hefe, weil sie Hefe ist und kriecht.«
Ich hob die Hände in hilflosem Protest gegen seinen eingewurzelten Materialismus und machte mich daran, die Koje in Ordnung zu bringen. Er fuhr fort, Linien und Ziffern auf die transparente Skala zu zeichnen. Es war eine Aufgabe, die äußerste Genauigkeit erforderte, und ich musste bewundern, wie er seine Kraft zügelte und der nötigen Feinheit und Aufmerksamkeit anpasste.
Als ich das Bett gemacht hatte, überraschte ich mich dabei, wie ich ihn fasziniert ansah. Er war sicher schön – schön als Mann. Und immer wieder wunderte ich mich, dass sein Antlitz nicht die Spur von Verderbnis oder Lasterhaftigkeit zeigte. Es war das Gesicht eines Mannes, der kein Unrecht tat. Ich möchte nicht missverstanden werden: Ich meine, es war das Gesicht eines Mannes, der nichts tat, was er nicht vor seinem Gewissen verantworten konnte, oder – der überhaupt kein Gewissen hatte. Ich neige dazu, letzteres zu glauben. Er war ein prachtvoller Atavismus, ein Mensch, so primitiv, wie die Welt ihn vor Entwicklung der Moral gesehen. Er war nicht unmoralisch, sondern ganz morallos.
Wie gesagt, er war schön als Mann. Sein glattrasiertes Gesicht ließ jeden Zug hervortreten, und es war rein und scharf geschnitten wie eine Kamee. Sonne und Meer hatten die ursprünglich helle Haut zu einem dunklen Bronzeton gebräunt, der von Kampf und Streit zeugte und sowohl Wildheit wie Schönheit noch erhöhte. Seine Lippen waren voll, aber doch von der Herbheit, die sonst dünnen Lippen eigen ist. Mund, Kinn und Kinnbacken zeugten ebenfalls von Festigkeit und Härte, gepaart mit männlicher Wildheit und Unbezähmbarkeit – ebenso die Nase. Es war die Nase eines Menschen, der geboren war, zu erobern und zu herrschen. Sie erinnerte an einen Adlerschnabel. Sie wäre fast griechisch oder römisch gewesen, war aber einen Schatten zu massig für das eine und eine Spur zu zart für das andere. Und während das alles die verkörperte Wildheit und Stärke war, schienen die Linien von Augen und Brauen gleichsam veredelt durch die Schwermut in der Tiefe seiner Seele, und die Züge erhielten dadurch eine Größe und Vollkommenheit, die ihnen sonst gefehlt hätten.
Ich überraschte mich also dabei, wie ich untätig dastand und ihn studierte. Wie sehr der Mann mich doch interessierte! Wer war er? Was war er? Wie war er zu dem geworden, der er war? Alle Fähigkeiten schien er zu besitzen, alle Möglichkeiten – warum war er denn nichts geworden als der einfache Kapitän eines Robbenfängers mit einem Ruf furchteinflößender Brutalität unter den Seeleuten und Jägern?
Meine Neugier musste sich Luft machen.
»Warum haben Sie nichts Großes auf dieser Welt vollbracht? Mit Ihrer immensen Kraft hätten Sie jede Höhe erklimmen können. Ohne Gewissen oder moralische Instinkte, wie Sie sind, hätten Sie die Welt unterjochen und beherrschen können. Und statt dessen sind Sie, auf der Höhe des Lebens, in einem Alter, da der Abstieg schon beginnt, der Führer eines Schoners und jagen Robben, um die Eitelkeit und Putzsucht der Weiber zu befriedigen, schwelgen, um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen, in einer Gemeinheit, die alles andere eher als herrlich ist. Mit all Ihrer wunderbaren Kraft haben Sie nichts vollbracht? Gab es nichts, das Sie hielt, das Sie halten konnte? Warum? Besaßen Sie keinen Ehrgeiz? Sind Sie Versuchungen erlegen? Warum?«
Bei Beginn meines Ausbruchs hatte er die Augen erhoben und folgte mir willig, bis ich fertig war und nun, atemlos und erschrocken, vor ihm stand. Er wartete einen Augenblick, als suchte er nach Worten, und sagte dann:
»Hump, kennen Sie das Gleichnis vom Sämann, der ausging, um zu säen? Sie werden sich erinnern, dass einige Samenkörner auf steinigen Boden fielen, wo es nur wenig Erde gab, und sogleich keimten, weil sie so dicht unter der Oberfläche lagen. Als aber die Sonne kam, verdorrten sie und welkten dahin, weil sie keine Wurzeln hatten. Und einige Körner fielen zwischen Dornensträucher, und die erstickten sie.«
»Nun?« fragte ich.
»Nun?« fragte er, ein wenig gekränkt. »Ich war ein solches Samenkorn.«
Er senkte den Kopf auf die Zeichnung und setzte seine Arbeit fort. Ich beendete die meine und hatte schon die Tür geöffnet, um zu gehen, als er mich wieder ansprach: »Hump, wenn Sie eine Karte von Norwegen nehmen, werden Sie an der Westküste einen Einschnitt finden, der Romsdals Fjord genannt wird. Im Bannkreise dieser Bucht wurde ich geboren. Aber nicht als Norweger. Ich bin Däne. Mein Vater und meine Mutter waren Dänen, und wie sie in dies raue Fleckchen Erde gekommen waren, weiß ich nicht. Ich habe nie etwas darüber gehört. Hiervon abgesehen, ist nichts Geheimnisvolles an der Geschichte. Sie waren arme, unwissende Leute. Alle ihre Vorfahren waren so gewesen – Küstenbauern, die ihre Söhne seit undenklichen Zeiten auf die Wogen zu säen pflegten. Mehr ist nicht zu berichten.«
»Doch«, wandte ich ein. »Es ist mir immer noch rätselhaft.«
»Was soll ich Ihnen noch erzählen?« fragte er mit einem neuen Klang von Wildheit in der Stimme. »Von dem kümmerlichen Leben eines Kindes? Von dem kargen Dasein der Fischer? Dass ich aufs Meer hinausfuhr, als ich kaum kriechen konnte? Von meinen Brüdern, die, einer nach dem anderen, zur See gingen und nie wiederkehrten? Von mir selber, der ich im reifen Alter von zehn Jahren Kajütsjunge auf Küstenfahrern war und weder lesen noch schreiben konnte? Von schlechter Kost und noch schlechterer Behandlung – Püffe und Schläge waren mir Bett und Frühstück, ersetzten Worte, und Furcht, Hass und Schmerz waren meine einzigen Seelenregungen. Ich erinnere mich nicht gern daran. Selbst jetzt noch werde ich toll, wenn ich daran denke. Aber es gab Schiffer, die ich hätte töten können, als ich meine Manneskraft erlangt hatte, wenn das Schicksal mich nicht in andere Meere geführt hätte. Als ich wiederkehrte, waren diese Schiffer leider tot, nur einen traf ich – er war seinerzeit Steuermann gewesen; als ich ihn jetzt wiedertraf, war er Schiffer; als ich ihn verließ, ein Krüppel, der nie wieder gehen wird.«
»Aber Sie lesen Spencer und Darwin und haben dabei nie eine Schule von innen gesehen – wo haben Sie lesen und schreiben gelernt?« fragte ich.
»In der englischen Handelsmarine. Kajütsjunge mit zwölf, Schiffsjunge mit vierzehn, Leichtmatrose mit sechzehn, Vollmatrose und Koch mit siebzehn, unendlicher Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit, ohne Hilfe, ohne Verständnis. Ich tat alles aus eigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik, Naturwissenschaft, Literatur und ich weiß nicht, was alles. Und wozu? Herr und Besitzer eines Robbenschoners auf der Höhe meines Lebens, wo, wie Sie sagen, der Abstieg beginnt. Jammervoll, nicht wahr? Als die Sonne kam, war ich verdorrt, und weil ich keine Wurzeln geschlagen hatte, welkte ich hin.«
»Aber die Geschichte berichtet von Sklaven, die sich zum Purpur emporschwangen«, schaltete ich ein.
»Und die Geschichte berichtet von günstigen Gelegenheiten, durch welche diese Sklaven sich emporschwangen«, entgegnete er bitter. »Kein Mensch kann eine günstige Gelegenheit schaffen. Alles, was die großen Männer taten, war, dass sie die Gelegenheit erkannten, wenn sie kam. Der Korse erkannte sie. Ich habe ebenso große Träume geträumt wie der Korse. Ich würde die Gelegenheit erkannt haben, aber sie kam nie. Die Dornen schossen hoch und erstickten mich. Und ich kann Ihnen sagen, Hump, dass Sie mehr von mir wissen, als sonst irgendein Lebender außer meinem Bruder.«
»Und was ist der? Wo ist er?«
»Kapitän des Dampfers ›Macedonia‹, Robbenfänger«, lautete die Antwort. »Wir werden ihn aller Wahrscheinlichkeit nach an der japanischen Küste treffen. Die Leute nennen ihn Tod Larsen.«
»Tod Larsen!« rief ich unwillkürlich. »Gleicht er Ihnen?«
»Kaum. Er ist ein Stück Vieh ohne Kopf. Er hat all meine – – meine – –«
»Tierheit!« schob ich ein.
»Ja – Dank für das Wort – all meine Tierheit, aber er kann weder lesen noch schreiben.«
»Und hat nie über das Leben philosophiert«, fügte ich hinzu.
»Nein«, antwortete Wolf Larsen mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Traurigkeit. »Und er ist glücklich, da er sich nicht um das Leben kümmert. Er hat zu viel damit zu tun, es zu leben, als dass er darüber grübeln könnte. Mein Fehler war, dass ich je ein Buch aufgeschlagen habe.«
Die ›Ghost‹ hat den südlichsten Punkt des Bogens erreicht, den sie durch den Stillen Ozean beschreibt, und beginnt jetzt, den Kurs nach Norden, dem Gerücht nach, auf eine einsame Insel zu setzen, um die Wasserfässer zu füllen. Dann geht es die japanische Küste entlang, und die Jagd beginnt. Die Jäger haben ihre Büchsen und Schrotflinten nachgesehen und schießen sich jetzt ein, bis sie mit ihren Leistungen zufrieden sind; Puller und Bootssteurer haben Sprietsegel verfertigt, Riemen und Dollen mit Leder und Strohgeflecht umwunden, damit sie geräuschlos an die Robben herankommen können; die Boote sind gebrauchsfertig.
Nebenbei: Leachs Arm ist gut verheilt, wenn er auch die Narbe sein ganzes Leben behalten wird. Thomas Mugridge lebt in Todesangst vor ihm und wagt kaum, nach Eintritt der Dunkelheit das Deck zu betreten. In der Back geht es recht ungemütlich her. Louis erzählt mir, unter den Matrosen ginge das Gerücht, dass zwei von ihnen, die geschwatzt haben sollen, von ihren Kameraden tüchtig verprügelt worden seien. Er schüttelt bedenklich den Kopf über Johnson, der Puller in seinem Boot ist. Johnson soll sich des Verbrechens schuldig gemacht haben, dass er seine Meinung zu frei geäußert hat und ein paarmal mit Wolf Larsen wegen der Aussprache seines Namens aneinandergeraten ist. Johansen hat er neulich eines Nachts mittschiffs verprügelt, und seitdem nennt der Steuermann ihn bei seinem rechten Namen. Aber es kann natürlich nicht die Rede davon sein, dass Johnson es auch Wolf Larsen auf diese Weise einbläut.
Louis hat mir auch mehr von Tod Larsen berichtet, und was er erzählt, stimmt mit der kurzen Beschreibung des Kapitäns überein. Wir werden Tod Larsen vermutlich an der japanischen Küste treffen. »Und da kannst du dich auf ein Unwetter gefasst machen«, prophezeit Louis, »denn sie hassen sich wie die Wolfsbrut, die sie ja auch sind.« Tod Larsen befehligt den einzigen Robbendampfer der ganzen Flotte, die ›Macedonia‹, die vierzehn Boote trägt, während die übrigen Fahrzeuge nur je sechs haben. Es heißt, sie habe Kanonen an Bord, und es laufen wilde Gerüchte um über seltsame Beutezüge und Expeditionen des Schiffes, von Opiumschmuggel nach den Staaten und Waffenschmuggel nach China bis zu Sklavenhandel und offener Seeräuberei. Und ich muss Louis glauben, denn ich habe ihn noch nie auf einer Lüge ertappt, und er ist ein lebendiges Lexikon in Bezug auf alles, was mit Robbenjagd und Robbenjägern zusammenhängt.
Wie auf dem Vorschiff und in der Kombüse, so geht es auch im ›Zwischendeck‹ und auf dem Achterdeck dieses wahren Höllenschiffes zu. Die Leute kämpfen wie wilde Tiere. Die Jäger erwarten jeden Augenblick eine Schießerei zwischen Smoke und Henderson, deren alter Streit noch nicht beigelegt ist, während Wolf Larsen sagt, dass er, wenn er dazu käme, den Überlebenden töten würde. Er sagt ohne Umschweife, dass seine Stellungnahme in dieser Sache nichts mit Moral zu tun habe, und dass die Jäger sich seinetwegen gern alle gegenseitig totschlagen und auffressen könnten, wenn er sie nicht so nötig zur Jagd brauchte. Wenn sie sich nur ruhig verhalten wollen, bis die Jagd vorbei ist, verspricht er ihnen einen königlichen Karneval. Dann kann sich ihr Groll austoben, die Überlebenden können die Toten ins Meer werfen und sich eine Geschichte ausdenken, wie sie verunglückt sind. Ich glaube, selbst die Jäger entsetzen sich über seine Kaltblütigkeit. So gefährliche Burschen sie auch sind: ihn fürchten sie. Thomas Mugridge bezeigt mir eine hündische Unterwürfigkeit, aber meine geheime Furcht vor ihm schläft nie. Mit meinem Knie geht es viel besser, wenn es auch zuweilen noch längere Zeit schmerzt, und mein Arm, den Wolf Larsen gepackt hatte, wird nach und nach wieder gebrauchsfähig. Im übrigen befinde ich mich in glänzender körperlicher Verfassung und fühle das. Meine Muskeln werden fester und nehmen an Umfang zu. Meine Hände jedoch bieten einen jämmerlichen Anblick. Sie sind mit Brandblasen übersät, Niednägel haben sich gebildet, und die Nägel sind abgebrochen, schmutzig und von wildem Fleisch überwuchert. Dazu leide ich an Furunkeln, wohl eine Folge der Kost, denn ich habe noch nie etwas mit dieser Plage zu tun gehabt. Vor einigen Abenden hatte ich das Vergnügen, Wolf Larsen in der Bibel lesen zu sehen, von der ein Exemplar in der Seemannskiste des toten Steuermanns gefunden worden war. Ich war gespannt, welche Ausbeute der Kapitän von dieser Lektüre haben konnte, und er las mir aus dem Prediger Salomo vor. Ich hätte mir einbilden können, dass er, als er vorlas, seine eigenen Gedanken aussprach, und seine Stimme, die tief und traurig durch die kleine Kajüte hallte, nahm mich gefangen und hielt mich fest. Ungebildet mag er sein, aber sicher weiß er der Bedeutung des geschriebenen Wortes Ausdruck zu verleihen. Ich höre ihn noch, höre die tiefe Schwermut in seiner Stimme vibrieren, als er las:
»Ich sammelte mir auch Silber und Gold und teure Schätze von Königen und den Ländern, ich schaffte mir Sänger und Sängerinnen und, die Lüste der Menschensöhne, viele Frauen.
Und ich ward groß und schaffte mehr als jedweder, der vor mir in Jerusalem gewesen, auch meine Weisheit verblieb bei mir.
Als ich mich aber wandte auf alle meine Werke, die meine Hände geschaffen, und auf die Mühe, die ich aufgewendet, um zu schaffen, siehe: alles nichtig und Haschen nach Wind und kein Erfolg unter der Sonne. Alles wie allen. Ein Begebnis ist dem Gerechten und dem Frevler, dem Guten und Reinen und dem Unreinen, dem, der opfert, und dem. der nicht opfert, wie der Gute, so der Sünder, der leicht schwört wie wer einen Schwur scheut.
Dies ist ein Übel in allem, was unter der Sonne geschieht, dass Ein Begebnis allen ist, und des füllet sich der Menschensöhne Herz mit Bösem, und Wahn ist in ihrem Herzen während ihres Lebens, und nach diesem geht es zu den Toten!
Denn wer ist ausgenommen? Allen Lebenden ist Hoffnung, denn es ist besser um einen lebendigen Hund als um den toten Löwen.
Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, aber die Toten wissen nicht das geringste, und ihnen ist kein Lohn mehr, denn ihr Andenken wird vergessen. Sowohl ihre Liebe als ihr Hass als ihr Eifer ist längst verloren, und keinen Anteil haben sie mehr auf immer an allem, was unter der Sonne geschieht.
Da haben Sie’s, Hump«, sagte er, schloss das Buch über seinen Fingern und blickte mich an. »Der Prediger, der König über Israel in Jerusalem, dachte wie ich. Sie nennen mich einen Pessimisten. Ist dies nicht der schwärzeste Pessimismus? ›Alles ist nichtig und Haschen nach Wind‹, ›kein Erfolg unter der Sonne‹, ›Ein Begebnis für alle‹, für den Toren wie für den Weisen, für den Reinen wie den Unreinen, den Sünder und den Heiligen, und dies Begebnis ist der Tod, etwas Böses, wie er sagt. Denn der Prediger liebte das Leben und wollte nicht sterben, und so sagte er, dass ein lebendiger Hund besser sei als ein toter Löwe. Er zog Eitelkeit und Qual dem Schweigen und der Unbeweglichkeit des Grabes vor. Und das tue ich auch. Krabbeln ist gemein, aber nicht zu krabbeln, wie Erde und Stein zu sein, ist ein abscheuerregender Gedanke. Abscheuerregend für das Leben in mir, das Leben, dessen Essenz Bewegung, die Fähigkeit, sich zu bewegen, und das Bewusstsein dieser Fähigkeit ist. Das Leben selbst befriedigt nicht, aber vorauszuschauen auf den Tod ist noch unbefriedigender.«
Meine Einwände, mein Widerspruch waren vergebens. Er überschüttete mich förmlich mit Argumenten.
»So ist das Leben nun einmal. Das Leben wird sich stets empören, wenn es spürt, dass es aufhören soll. Der Prediger nannte das Leben und das Lebenswerk eitel und qualvoll, ein Übel; aber den Tod, das Aufhören von Eitelkeit und Qual, nannte er ein noch größeres Übel. Kapitel auf Kapitel klagt er über dies ›Begebnis‹, das allen ohne Ausnahme widerfährt. Und so geht es mir, und so geht es Ihnen, ja, selbst Ihnen, denn Sie empörten sich gegen den Tod, als Köchlein das Messer für Sie wetzte. Sie fürchteten den Tod, und das Leben in Ihnen, aus dem Sie bestehen und das stärker ist als Sie, wollte nicht sterben. Sie haben von dem Instinkt der Unsterblichkeit gesprochen. Ich spreche vom Instinkt des Lebens, der umso stärker wird, je näher der Tod kommt, und der, wenn der Tod vor der Tür steht, den Instinkt der Unsterblichkeit überwältigt. So ist es Ihnen ergangen – das können Sie nicht leugnen –, weil ein verrückter Cockneykoch das Messer wetzte.
Jetzt fürchten Sie ihn. Und Sie fürchten mich. Das können Sie nicht leugnen. Wenn ich Sie bei der Kehle packte, so« – und seine Hand umkrallte meinen Hals, und der Atem stockte mir –, »und begänne, das Leben aus Ihnen herauszupressen, so und so, dann würde Ihr Unsterblichkeitsinstinkt verglimmen, Ihr Lebensinstinkt würde aufflackern, und Sie würden für Ihre Rettung kämpfen. Ich sehe die Todesangst in Ihren Augen. Sie fuchteln mit den Armen in der Luft herum. Sie bieten Ihre ganze winzige Kraft für den Kampf ums Leben auf. Ihre Hand packt meinen Arm – sie fühlt sich so leicht an wie ein ruhender Schmetterling. Ihre Brust keucht, Ihre Zunge streckt sich zum Halse heraus, Ihre Haut wird schwarz, Ihre Augen verschwimmen: ›Leben! Leben! Leben!‹ schreien Sie. Und Sie schreien, weil Sie leben wollen – hier und jetzt, nicht hinterher. Sie zweifeln an Ihrer Unsterblichkeit, nicht wahr? Haha! Sie sind ihrer nicht sicher. Sie wollen es nicht darauf ankommen lassen. Nur dieses Leben ist Ihnen etwas Sicheres. Ach, es wird immer dunkler. Die Finsternis des Todes, das Ende des Seins. des Fühlens, der Bewegung, die sich in Ihnen sammelt, sinkt auf Sie hernieder, erhebt sich um Sie. Ihre Augen werden starr, brechen. Meine Stimme klingt schwach und fern. Sie sehen mein Gesicht nicht. Aber noch kämpfen Sie unter meinem Griff. Sie stoßen mit den Füßen um sich. Ihr Körper krümmt und windet sich wie eine Schlange. Ihre Brust arbeitet und keucht. Leben, leben – –«
Ich hörte nichts mehr. Das Bewusstsein war ausgelöscht durch die Finsternis, die er so anschaulich beschrieben hatte. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, während er, eine Zigarre rauchend, mich nachdenklich mit dem bekannten forschenden Ausdruck in seinen Augen betrachtete.
»Nun, habe ich Sie überzeugt?« fragte er. »Hier trinken Sie. Ich möchte Sie einiges fragen.«
Ich schüttelte verneinend den Kopf. »Ihre Argumente sind zu zwingend«, brachte ich mit großer Anstrengung aus meiner schmerzenden Kehle heraus.
»In einer halben Stunde wird Ihnen wieder gut sein«, versicherte er mir. »Und ich verspreche Ihnen, dass ich keine handgreiflichen Beweisgründe mehr gebrauchen werde. Stehen Sie auf. Sie können sich auf einen Stuhl setzen.«
Und mit dem Spielzeug, das ich diesem Ungeheuer war, wurde die Unterhaltung über den Prediger und andere Dinge wieder aufgenommen. Die halbe Nacht saßen wir wach.