Zärtlich ist die Nacht

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Zärtlich ist die Nacht
Font:Smaller АаLarger Aa

Zärtlich ist die Nacht

F. Scott Fitzgerald

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Zweites Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Drittes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Viertes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Fünftes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Impressum

Erstes Buch
I

Im Frühling 1917, als Doktor Richard Diver zum erstenmal nach Zürich kam, war er sechsundzwanzig Jahre alt, ein schönes Alter für einen Mann, ja eigentlich der Höhepunkt der Junggesellenjahre. Selbst während des Krieges war es ein schönes Alter für Dick, der bereits zu wertvoll war und eine zu große Kapitalsanlage darstellte, um als Kanonenfutter zu dienen. In späteren Jahren wollte es ihm scheinen, als sei er auch aus dieser Freistatt nicht leichten Kaufes davongekommen, doch wurde er sich über diesen Punkt nie ganz schlüssig – 1917 lachte er über diesen Gedanken und sagte zu seiner Entschuldigung, der Krieg berühre ihn überhaupt nicht. Die Verfügung seiner örtlichen Behörde lautete dahin, daß er sein Studium in Zürich beenden und promovieren solle, wie er es vorhatte.

Die Schweiz war eine Insel, auf der einen Seite von den donnernden Wogen bei Goertz, auf der anderen von der Brandung an der Somme und der Aisne umtobt. Vorläufig schienen sich mehr interessante Fremde als Kranke in den Kantonen aufzuhalten, doch war das lediglich eine Vermutung – die Männer, die in den kleinen Cafés in Bern und Genf miteinander flüsterten, konnten ebensogut Diamantenhändler oder Geschäftsreisende sein. Jeder indessen hatte die langen Züge mit Blinden, Einbeinigen und Sterbenden gesehen, die zwischen den glitzernden Seen von Konstanz und Neuchâtel aneinander vorbeifuhren. In Bierhallen und Schaufenstern hingen bunte Plakate, auf denen gezeigt wurde, wie die Schweizer 1914 ihre Grenzen verteidigten; Kampfgeist atmende junge und alte Männer starrten von den Bergen auf Franzosen und Deutsche hinab, die nur in ihrer Vorstellung existierten; der Zweck dieser Plakate war, dem schweizerischen Herzen die Gewißheit zu geben, daß es an dem allgemeinen Kampfrausch jener Tage teilhatte. Als das Morden anhielt, verblichen die Plakate, und kein Land war überraschter als die Schwesterrepublik, als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten.

Doktor Diver hatte bis dahin den Krieg nur am Rande erlebt. 1914 war er ein Oxford Rhodes-Student aus Connecticut. Er kehrte nach Hause zurück, um das letzte Jahr in John Hopkins zu studieren, wo er promovierte. 1916 ging er nach Wien, aus dem Gefühl heraus, der große Freud könne, wenn er sich nicht beeile, eventuell einer Fliegerbombe zum Opfer fallen. Damals schon war Wien eine tote Stadt, aber es gelang ihm, genügend Kohle und Petroleum aufzutreiben, um in seinem Zimmer in der Damenstiftsgasse zu sitzen und an den Broschüren zu schreiben, die er später vernichtete, die jedoch, als er sie von neuem schrieb, das Gerüst zu dem Buch bildeten, das er 1920 in Zürich veröffentlichte.

Die meisten von uns haben eine Zeit in ihrem Leben, die ihnen besonders lieb ist und besonders heroisch erscheint; für Dick Diver war es diese Zeit. Schon darum, weil er keine Ahnung hatte, daß er bezaubernd war, daß die Zuneigung, die er gab und hervorrief, unter gesunden Menschen ungewöhnlich ist. In seinem letzten Jahr in New Haven nannte ihn jemand gesprächsweise »Dick im Glück« – der Name ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Dick im Glück, du alter Döskopp«, flüsterte er sich zu, wenn er vor dem letzten brennenden Holzscheit in seinem Zimmer auf und nieder ging. »Du hast das Glück beim Schopf gefaßt. Niemand wußte etwas davon, bevor du kamst.«

Zu Beginn des Jahres 1917, als es schwierig wurde, Kohlen zu bekommen, benutzte Dick als Heizmaterial fast hundert Lehrbücher, die sich bei ihm angesammelt hatten, und bei jedem einzelnen, das er den Flammen überantwortete, freute er sich innerlich über die Feststellung, daß er selbst einen Auszug dessen darstellte, was die Bücher enthielten, und daß er es fünf Jahre später zusammenfassend würde wiedergeben können, sofern sich eine Wiedergabe lohnte. Dies setzte er durch manche Stunde fort, wenn nötig mit einem Teppich um die Schultern, durchtränkt vom sanften Seelenfrieden des Studierenden, der von allen Dingen der Welt dem himmlischen Frieden am nächsten kommt. Doch sollte er, wie nun gezeigt werden wird, ein Ende haben.

Daß er noch eine Zeitlang vorhielt, verdankte er seinem Körper, den er in New Haven beim Rundlauf und jetzt durch das Schwimmen in der winterlich kalten Donau gestählt hatte. Mit Elkins, dem zweiten Sekretär der Gesandtschaft, teilte er sein Zimmer, zwei hübsche Mädchen besuchten sie zuweilen – doch war weder von ihnen noch von der Gesandtschaft zuviel zu spüren. Die Berührung mit Ed Elkins weckte in ihm zum erstenmal schwache Zweifel am Wert seines eigenen Denkens; er konnte nicht sehen, daß es sich grundlegend von Elkins' Art zu denken unterschied – Elkins, der alle New Havener Außen- und Mittelläufer der letzten dreißig Jahre namentlich aufzählen konnte.

 

»– Und, ›Dick im Glück‹ kann nicht einer von diesen schlauen Burschen sein; er muß weniger intakt sein, einen kleinen Knacks haben. Und wenn's das Leben nicht für ihn tut, ist es auch kein Ersatz, sich eine Krankheit, ein gebrochenes Herz oder einen Minderwertigkeitskomplex zu holen, obwohl es hübsch sein muß, an etwas Zerbrochenem herumzudoktern, bis es besser ist als die ursprüngliche Form.«

Er machte sich über seine Gedankengänge lustig, nannte sie gleisnerisch und »amerikanisch« – sein Kriterium für undurchdachtes Wortemachen war, daß er es als amerikanisch empfand. Und doch wußte er, daß er seine Intaktheit mit Unvollkommenheit würde bezahlen müssen.

»Das Beste, was ich dir wünschen kann, mein Kind«, so sagt die Fee Schwarzdorn in Thackerays ›Die Rose und der Ring‹, »ist ein wenig Unglück.«

In gewissen Stimmungen zerpflückte er seine eigenen Gedankengänge: »Konnte ich etwas dafür, daß Pete Livingstone am Wahltag im Umkleideraum saß, als ihn alle wie eine Stecknadel suchten? Und ich wurde gewählt, obwohl ich so wenig Leute kannte? Er war gut und richtig, und ich hätte statt seiner im Umkleideraum sitzen müssen. Vielleicht hätte ich's, wenn ich geglaubt hätte, Chancen bei der Wahl zu haben. Aber in all den Wochen kam Mercer dauernd in mein Zimmer. Ich nehme an, ich wußte ganz gut, daß ich Aussichten hatte, ganz gut. Aber es wäre mir recht geschehen, wenn ich meine Suppe hätte auslöffeln müssen und einen Konflikt heraufbeschworen hätte.«

Nach den Vorlesungen an der Universität pflegte er diesen Punkt mit einem jungen intellektuellen Rumänen zu erörtern, der ihm versicherte: »Wir haben keinen Beweis dafür, daß Goethe jemals einen ›Konflikt‹ im modernen Sinne gekannt hat oder ein Mann wie Jung, zum Beispiel. Du bist kein romantischer Philosoph – du bist Wissenschaftler: Gedächtnis, Kraft, Charakter – besonders Vernunft. Die Schwierigkeit für dich wird darin bestehen, Selbstkritik zu üben. Ich lernte einmal einen Mann kennen, der zwei Jahre am Gehirn eines Gürteltiers arbeitete, in der Meinung, er werde über kurz oder lang mehr über das Gehirn des Gürteltiers wissen als jeder andere. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß er dabei den menschlichen Bereich aus dem Auge verlor – das Thema war zu fernliegend. Und richtig, als er die Arbeit an die medizinische Zeitschrift einschickte, wurde sie abgelehnt – eine Abhandlung von einem anderen über dasselbe Thema war gerade angenommen worden.«

Dick ging nach Zürich, mit weniger Achillesfersen, als zur Ausstattung eines Tausendfüßlers benötigt werden, aber mit einer Unmenge von Illusionen – Illusionen über ewigwährende Kraft und Gesundheit und über das eingeborene Gute im Menschen; Illusionen über eine Nation, über die Lügen von Generationen von Grenzlandmüttern, die ihren Kindern vorsingen mußten, daß keine Wölfe vor der Hütte lauerten. Nachdem er promoviert hatte, erhielt er den Befehl, sich zu einer Neurologeneinheit zu verfügen, die in Bar-sur-Aube aufgestellt wurde. In Frankreich war die Arbeit zu seinem Ärger mehr verwaltungstechnisch als praktisch. Als Ausgleich fand er genügend Zeit, seinen kurzen Leitfaden zu beenden und Material für sein nächstes Werk zu sammeln. Im Frühling 1919 wurde er entlassen und ging nach Zürich zurück.

Das Vorhergehende klingt nach Biographie, der die Befriedigung des sicheren Wissens fehlt, daß der Held – wie der in seinem Kramladen in Galena herumlungernde Grant – zu einem verwickelten Schicksal berufen ist. Zur Beruhigung sei es gesagt: Dick Divers kritisches Stadium hebt nunmehr an.

II

Es war ein feuchter Apriltag mit schrägen Wolken über dem Albishorn und trägem Wasser tiefer unten. Zürich sieht einer amerikanischen Stadt nicht unähnlich. Dick hatte die ganze Zeit seit seiner Ankunft vor zwei Tagen etwas vermißt und merkte jetzt, es war das Gefühl, das er in engen französischen Gassen gehabt hatte, das Gefühl, daß es weiter nichts gebe. In Zürich gab es eine Menge außer Zürich – die Dächer leiteten die Blicke hinauf zu Kuhweiden mit Glockengeläut, die sich ihrerseits weiter oben in Bergspitzen verwandelten – so war das Leben ein senkrechter Anstieg zu einem Postkartenhimmel. Die Alpenländer, die Heimat des Spielzeugs, der Drahtseilbahnen, der Karussells und des Kuhreigens, waren nichts zum Heimischfühlen wie Frankreich, wo einem französische Weinranken auf der Erde über die Füße wachsen.

In Salzburg hatte Dick einst den aufgesetzten Wert eines gekauften und geliehenen Musik Jahrhunderts empfunden; einmal, als er sich im Universitätslaboratorium in Zürich vorsichtig zur Rinde eines Gehirns vorgetastet hatte, war er sich eher wie ein Spielzeugmacher vorgekommen als wie der Wirbelsturm, der vor zwei Jahren durch die alten roten Gebäude von Hopkins gerast war, ungehindert durch die Ironie der gewaltigen Christusstatue in der Eingangshalle.

Dennoch hatte er sich entschlossen, noch zwei Jahre in Zürich zu bleiben, denn er unterschätzte keineswegs den Wert des Spielzeugmachens, den Wert unendlicher Genauigkeit und unendlicher Geduld.

Heute ging er aus, um Franz Gregorovius in Dohmlers Klinik am Zürichsee zu besuchen. Franz, der als Pathologe in der Klinik wohnte, von Geburt Waadtländer und ein paar Jahre älter war als Dick, erwartete ihn an der Straßenbahn-Haltestelle. Er hatte etwas von Cagliostros dunklem, prächtigem Aussehen, das im Gegensatz zu seinen Augen stand, die denen eines Heiligen glichen. Er war der dritte in der Reihe der Gregoroviusse – sein Großvater war Kraepelins Lehrer gewesen, zu einer Zeit, als die Psychiatrie gerade aus dem Dunkel der Zeiten hervortrat. Charakterlich war er stolz, leidenschaftlich und gutmütig – er hielt sich für einen Hypnotiseur. Wenn sich auch das ursprüngliche Genie der Familie ein wenig erschöpft hatte, würde Franz doch zweifellos ein guter Kliniker werden.

Auf dem Weg zur Klinik sagte er: »Erzähl mir von deinen Erfahrungen im Krieg. Bist du auch so verändert wie die andern? Du hast dasselbe alterslose amerikanische Gesicht wie früher.«

»Ich hab' nichts vom Krieg gemerkt«, sagte Dick. »Du mußt es aus meinen Briefen gesehen haben.«

»Das macht nichts – wir haben einige Bombenschocks hier, die nur von weitem einen Fliegerangriff gehört haben. Ein paar sind da, die nur davon in der Zeitung lasen.«

»Das hört sich ziemlich unsinnig an.«

»Vielleicht, Dick. Aber wir sind eine Klinik für reiche Leute – wir benutzen das Wort Unsinn nicht. Sei mal ganz offen, kommst du zu mir oder zu dem Mädchen?«

Sie blickten sich von der Seite an; Franz lächelte hintergründig.

»Natürlich habe ich die ersten Briefe gelesen«, sagte er in dienstlichem Baß. »Als die Veränderung begann, hat mich mein Zartgefühl davon abgehalten, noch weitere zu öffnen. In Wirklichkeit war es ja dein Fall geworden.«

»Es geht ihr also gut?« fragte Dick.

»Tadellos. Ich betreue sie, wie ich überhaupt die Mehrzahl der englischen und amerikanischen Patienten betreue. Sie nennen mich Doktor Gregory.«

»Ich werde dir erklären, welche Bewandtnis es mit dem Mädchen hat«, sagte Dick. »Tatsache ist, daß ich sie nur ein einziges Mal gesehen habe. Als ich herauskam, um mich von dir zu verabschieden, kurz bevor ich nach Frankreich ging. Es war das erstemal, daß ich meine Uniform trug, und ich fühlte mich in ihr sehr fehl am Platze – grüßte gemeine Soldaten und lauter so Zeug.«

»Warum hast du sie heute nicht an?«

»Ha! Ich bin doch vor drei Wochen entlassen worden. Hier ist der Weg, auf dem ich das Mädchen zufällig traf. Als ich dich verlassen hatte, ging ich zu deinem Haus am See, um mein Rad zu holen.«

»– zu den Zedern hin?«

»– ein wunderbarer Abend, weißt du – der Mond stand über dem Berg –«

»Dem Kreuzegg.«

»– Ich holte eine Pflegerin und ein junges Mädchen ein. Ich hielt das Mädchen nicht für eine Patientin; ich fragte die Pflegerin nach den Abfahrtszeiten der Straßenbahn, und wir gingen nebeneinander her. Das Mädchen war mit das hübscheste Ding, das ich je gesehen hatte.«

»Sie ist es noch.«

»Sie hatte noch nie eine amerikanische Uniform gesehen, und wir unterhielten uns und dachten uns nichts dabei.« Er hielt inne, da er einen Ausblick wiedererkannte, und fuhr dann fort: »Du mußt bedenken, Franz, daß ich noch nicht so abgebrüht bin wie du. Wenn ich eine so wunderschöne Schale sehe, kann ich nicht umhin, über das, was darin steckt, betrübt zu sein. Das war alles – bis die Briefe kamen.«

»Es war das beste, was ihr passieren konnte«, sagte Franz dramatisch, »ein Zusammentreffen, vom Zufall beschert. Darum habe ich dich abgeholt, obwohl es ein sehr besetzter Tag ist. Ich möchte, daß du zu mir ins Büro kommst und lange mit mir sprichst, bevor du sie siehst. Ich habe sie nämlich nach Zürich geschickt, um Einkäufe zu machen.« Seine Stimme klang gestrafft vor Begeisterung. »Ich habe sie sogar ohne Pflegerin geschickt, mit einer weniger stabilen Patientin. Ich bin unendlich stolz auf diesen Fall, den ich mit deiner zufälligen Hilfe behandelt habe.«

Das Auto war am Ufer des Zürichsees entlanggefahren und dann in eine fruchtbare Landschaft mit Viehweiden und sanften Hügeln voller Chalets eingebogen. Die Sonne schwamm in einem blauen Himmelsmeer, und plötzlich war es ein Schweizer Tal, wie man es sich schöner nicht denken konnte, mit lieblichen Klängen und Gemurmel und dem guten, frischen Duft nach Gesundheit und Frohsinn.

Professor Dohmlers Anstalt bestand aus drei alten und zwei neuen Gebäuden und lag zwischen einer kleinen Anhöhe und dem Ufer des Sees. Bei ihrer Gründung, zehn Jahre zuvor, war sie die erste moderne Klinik für Geisteskrankheiten gewesen; auf den ersten Blick hätte kein Laie eine Zufluchtsstätte für die Gebrochenen, Defekten, Gemeingefährlichen dieser Welt in ihr gesehen, wenngleich zwei Gebäude von verdächtig hohen, weinbewachsenen Mauern umgeben waren. Ein paar Männer harkten in der Sonne Stroh zusammen. Als sie durch die Parkanlagen fuhren, kamen sie hier und da an einer Krankenschwester vorbei, die mit wippender weißer Flügelhaube neben einem Patienten herging.

Nachdem er Dick in sein Büro geführt hatte, entschuldigte sich Franz auf eine halbe Stunde. Allein geblieben, durchschritt Dick den Raum und versuchte, sich Franzens Persönlichkeit aus der Unordnung auf seinem Schreibtisch, aus seinen Büchern und den Büchern, die seinem Vater und Großvater gehört und die sie geschrieben hatten, zu rekonstruieren; auch aus einer riesigen, rötlich kolorierten Photographie des ersteren, die, schweizerischer Sitte folgend, an der Wand hing. Es roch nach Rauch im Zimmer; Dick stieß das französische Fenster auf und ließ einen Streifen Sonnenlicht herein. Unversehens wandten sich seine Gedanken der Patientin, dem jungen Mädchen, zu.

Er hatte ungefähr fünfzig Briefe von ihr bekommen, die sie während eines Zeitraumes von acht Monaten an ihn geschrieben hatte. Im ersten hatte sie, sich entschuldigend, erklärt, sie habe aus Amerika gehört, daß Mädchen an unbekannte Soldaten schrieben. Sie habe Namen und Adresse von Doktor Gregory erhalten und hoffe, er werde nichts dagegen haben, wenn sie ihm zuweilen ein paar Zeilen mit guten Wünschen schicken würde, etc. etc.

Bis dahin war es leicht, den Ton zu erkennen – er stammte aus »Daddy Long-Legs« und »Molly-Make-Believe«, munter-sentimentalen Briefsammlungen, die sich in den Staaten großer Beliebtheit erfreuten. Aber dann hörte die Ähnlichkeit auf.

Die Briefe zerfielen in zwei Kategorien, von denen die erste, bis zur Zeit des Waffenstillstandes ungefähr, einen ausgesprochen pathologischen Charakter trug, wogegen die zweite, die sich von jenem Zeitpunkt bis zur Gegenwart erstreckte, durchaus normal war und einen schön herangereiften Charakter verriet. Auf diese späteren Briefe hatte Dick in den letzten langweiligen Monaten in Bar-sur-Aube schließlich mit Ungeduld gewartet, aber auch aus den früheren Briefen hatte er sich mehr zusammengereimt, als Franz wohl vermutet hätte.

Mon Capitaine:

Als ich Sie in Ihrer Uniform sah, fand ich Sie so schön. Dann dachte ich: Je m'en fiche! auf französisch und auch auf deutsch. Sie fanden mich ebenfalls hübsch, aber das kenne ich von früher und habe es lange ertragen. Wenn Sie wieder mit solchem niederträchtigen und verbrecherischen Benehmen herkommen, das so gar nicht dem entspricht, was man mir beigebracht hat, als gentlemanlike anzusehen, möge Ihnen der Himmel gnädig sein. Immerhin, Sie scheinen ruhiger zu sein als die anderen, ganz sanft, wie eine große Katze. Ich habe immer nur Jungen gern gehabt, die ziemliche Schwächlinge waren. Sind Sie ein Schwächling? Irgendwo gab es welche.

 

Entschuldigen Sie dies alles, das ist der dritte Brief, den ich Ihnen schreibe, und ich werde ihn sofort abschicken, sonst werde ich ihn nie abschicken. Ich habe auch sehr viel über den Mondschein nachgedacht, und ich könnte eine Menge Zeugen beibringen, wenn ich bloß hier heraus könnte.

Es ist mir gesagt worden, Sie seien Arzt, aber solange Sie eine Katze sind, ist es etwas anderes. Mein Kopf tut so weh, darum entschuldigen Sie; dieser Spaziergang einer gewöhnlichen mit einer weißen Katze ist, glaube ich, eine Erklärung dafür. Ich spreche drei Sprachen, mit Englisch vier, und ich glaube bestimmt, ich könnte mich als Dolmetscherin nützlich machen; wenn Sie nur in Frankreich so etwas vermitteln würden, glaube ich bestimmt, ich könnte alles zwingen, wenn jeder mit Riemen gefesselt würde, wie es am Mittwoch geschah. Jetzt ist es Sonnabend, und Sie sind weit weg, vielleicht tot.

Kommen Sie eines Tages zu mir zurück; denn ich werde immer hier sein auf diesem grünen Hügel. Wenn mir nicht erlaubt wird, an meinen Vater zu schreiben, den ich von Herzen geliebt habe.

Entschuldigen Sie dies. Ich bin heute gar nicht ich selbst. Ich werde schreiben, wenn ich mich besser fühle.

Cheerio

Nicole Warren.

Entschuldigen Sie dies alles.

Captain Diver:

Ich weiß, daß Selbstbetrachtung bei einem so hochgradig nervösen Stadium wie dem meinigen nicht gut ist, aber ich möchte, daß Sie wissen, wie es mit mir steht. Voriges Jahr, oder wann das in Chicago war, als ich so wurde, konnte ich nicht mit Dienstboten sprechen oder auf die Straße gehen; ich wartete ständig auf jemand, der mir Auskunft geben sollte. Es war die Pflicht dessen, der Bescheid wußte. Ein Blinder muß geführt werden. Nur wollte mir niemand alles sagen – sie sagten mir nur die Hälfte, und ich war schon zu verwirrt, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Ein Mann war nett – ein französischer Offizier, und er wußte Bescheid. Er gab mir eine Blume und sagte, sie sei »plus petite et moins entendue«. Wir waren Freunde. Dann nahm er sie mir weg. Ich wurde kränker, und niemand war da, der es mir erklären konnte. Sie hatten ein Lied über Jeanne d'Arc, das pflegten sie mir vorzusingen, aber das war pure Niedertracht – es hat mich bloß zum Weinen gebracht, denn damals war mein Kopf noch in Ordnung. Sie machten auch Anspielungen auf Sport, aber damals machte ich mir nichts daraus. Also an dem Tag ging ich zu Fuß den Michigan Boulevard entlang, weiter und weiter, kilometerweit, und schließlich folgten sie mir im Auto, aber ich wollte nicht einsteigen. Schließlich zogen sie mich hinein, und da waren Krankenschwestern. In der Folgezeit wurde mir alles klar, weil ich fühlen konnte, was in anderen vorging. Nun wissen Sie, wie es um mich steht. Und kann es denn gut für mich sein, daß ich hierbleibe, wo die Ärzte beständig Dinge zur Sprache bringen, über die ich doch gerade hier hinwegkommen sollte? Darum habe ich heute meinem Vater geschrieben und ihn gebeten, herzukommen und mich wegzuholen. Es freut mich, daß es Sie interessiert, die Leute zu untersuchen und wegzuschicken. Das muß viel Spaß machen.

Und aus einem anderen Brief:

Sie könnten eigentlich Ihre nächste Untersuchung schwimmen lassen und mir einen Brief schreiben. Man hat mir soeben einige Schallplatten geschickt, damit ich meine Lektionen nicht vergesse; ich habe sie alle zerbrochen, darum will die Schwester nicht mit mir sprechen. Sie waren englisch, so daß die Schwestern sie nicht verstanden hätten. Ein Arzt in Chicago sagte, ich simuliere, aber in Wahrheit meinte er, ich sei eins von Sechslingen, und er hatte noch nie eins gesehen. Aber damals war ich stark damit beschäftigt, verrückt zu sein, darum war es mir gleichgültig, was er sagte; wenn ich stark damit beschäftigt bin, verrückt zu sein, ist es mir gewöhnlich gleichgültig, was man sagt, und wenn ich eine Million Mädchen wäre.

Damals am Abend sagten Sie mir, Sie würden mir beibringen, wie man spielt. Also, ich glaube, Liebe ist das einzige, was von Bedeutung ist oder von Bedeutung sein sollte. Auf alle Fälle freue ich mich, daß Ihr Interesse an den Untersuchungen Sie ausfüllt.

Tout à vous

Nicole Warren.

Andere Briefe waren darunter, deren hilflose Zäsuren dunklere Rhythmen verbargen.

Sehr geehrter Hauptmann Diver:

Ich schreibe Ihnen, weil sonst keiner da ist, an den ich mich wenden kann, und mir scheint, wenn diese absurde Situation jemand einleuchtet, der so krank ist wie ich, so sollte sie erst recht Ihnen einleuchten. Die Geisteskrankheit ist behoben, aber abgesehen davon bin ich völlig niedergebrochen und gedemütigt, und vielleicht wollte man das. Meine Familie hat mich schändlich vernachlässigt, es hat keinen Zweck, sie um Hilfe oder Mitleid zu bitten. Ich habe genug davon, und ich richte nur meine Gesundheit zugrunde und vergeude meine Zeit, wenn ich mir einbilde, daß das, was in meinem Kopf los ist, heilbar ist.

Ich bin hier anscheinend in einer Art Irrenhaus, einfach, weil niemand es für richtig hielt, mir über alles die Wahrheit zu sagen. Wenn ich nur gewußt hätte, was vorging, so wie ich es jetzt weiß, ich glaube, ich hätte es ertragen, denn ich bin ganz hübsch stark; aber die es hätten tun sollen, hielten es nicht für richtig, mich aufzuklären.

Und jetzt, wo ich Bescheid weiß und einen solchen Preis für mein Wissen bezahlt habe, sitzen sie da mit ihren Hundeaugen und sagen, ich solle das glauben, was ich früher geglaubt habe. Besonders einer tut das, aber jetzt weiß ich Bescheid.

Ich bin immerzu einsam, weit weg von Freunden und Verwandten jenseits des Ozeans, und ich wandere halb betäubt durch die Gegend. Wenn Sie mir eine Stellung als Dolmetscherin verschaffen könnten (ich spreche Französisch und Deutsch wie meine Muttersprache, ganz gut Italienisch und etwas Spanisch) oder im Roten-Kreuz-Lazarett oder als Lazarettzug-Schwester, obgleich ich dafür ausgebildet werden müßte, würden Sie mir eine große Wohltat erweisen.

Und dann wieder:

Da Sie meine Erklärung dessen, was los ist, nicht annehmen wollen, könnten Sie mir zum mindesten erklären, was Sie denken; denn Sie haben das gütige Gesicht einer weißen Katze und nicht den komischen Blick, der hier Mode zu sein scheint. Dr. Gregory gab mir ein Photo von Ihnen, nicht so schön, wie Sie in Ihrer Uniform sind, aber Sie sehen jünger darauf aus.

Mon Capitaine:

Es war schön, Ihre Postkarte zu erhalten. Ich freue mich sehr, daß Sie soviel Interesse daran haben, Krankenschwestern zu disqualifizieren – oh, ich habe Ihre Zeilen sehr gut verstanden. Ich dachte nur vom ersten Moment unserer Bekanntschaft an, daß Sie anders wären.

Lieber Capitaine:

Heute denke ich so und morgen so über die Sache. Das ist es, woran ich in Wirklichkeit leide, außer an einem rasenden Trotz und einem Mangel an Gleichmaß. Ich würde jeden Psychiater willkommen heißen, den Sie vorschlagen. Hier liegen sie in ihren Badewannen und singen: »Spiel in deinem eignen Hinterhof«, als ob ich einen Hinterhof zum drin spielen hätte oder als wenn für mich irgendeine Hoffnung darin liegen könnte, rückwärts oder vorwärts zu schauen. Sie haben es wieder in dem Bonbonladen versucht, und ich habe mit dem Gewicht nach dem Mann geworfen und ihn beinahe getroffen, aber sie hielten mich fest.

Ich werde ihnen nicht mehr schreiben. Meine Stimmung ist zu wechselnd.

Dann ein Monat ohne Briefe. Und dann plötzlich die Veränderung.

– Ich komme langsam ins Leben zurück ...

– Heute die Blumen und die Wolken ...

– Der Krieg ist zu Ende, und ich wußte kaum, daß Krieg war ...

– Wie gut Sie gewesen sind! Sie müssen sehr weise sein hinter Ihrem Gesicht einer weißen Katze; allerdings sehen Sie auf dem Bild, das mir Doktor Gregory gab, nicht so aus ...

– Heute bin ich nach Zürich gefahren, ein merkwürdiges Gefühl, wieder mal eine Stadt zu sehen.

– Heute waren wir in Bern, es war so hübsch mit den Uhren.

– Heute sind wir so hoch hinaufgekraxelt, daß wir Asphodill und Edelweiß gefunden haben ...

Danach kamen die Briefe seltener, aber er beantwortete sie alle. In einem hieß es:

Ich wünschte, jemand würde sich in mich verlieben, wie es die Jungen vor Jahren taten, bevor ich krank war. Doch ich glaube, es werden noch Jahre vergehen, ehe ich an so etwas denken kann.

Aber als Dicks Antwort sich aus irgendeinem Grunde verzögerte, kam ein heftiger Ausbruch von Besorgnis – Besorgnis einer Liebenden: »Vielleicht habe ich Sie gelangweilt« und »Ich fürchte, ich bin zu weit gegangen« und »Nachts habe ich immerzu gedacht, Sie wären krank.«

Tatsächlich war Dick an Influenza erkrankt. Als er genesen war, fiel alles außer der rein formalen Seite seiner Korrespondenz der darauffolgenden Mattigkeit zum Opfer, und kurz danach wurde die Erinnerung an die Briefschreiberin in den Hintergrund gedrängt durch die lebendige Gegenwart einer Telefonistin aus Wisconsin im Hauptquartier von Bar-sur-Aube. Sie hatte rote Lippen wie ein Gesicht auf einem Plakat und war in den Offiziersmessen obszönerweise unter dem Namen »das Schaltbrett« bekannt.

Franz kam, durchdrungen von seiner eigenen Wichtigkeit, ins Büro zurück. Dick dachte, er würde wahrscheinlich ein guter Kliniker werden, denn der klangvolle oder abgerissene Tonfall, mit dem er Pflegepersonal wie auch Patienten in Zucht hielt, entsprang nicht seinem Nervensystem, sondern einer ungeheuren, aber harmlosen Eitelkeit. Seine wirklichen Gefühle waren geordneter, und er behielt sie für sich.

»Nun zu dem Mädchen, Dick«, sagte er. »Natürlich will ich etwas über dich hören und dir von mir erzählen, aber zuerst zu dem Mädchen, weil ich schon so lange darauf gewartet habe, dir von ihr zu berichten.«

Er suchte und fand in einer Kartothek ein Bündel Papiere, aber nachdem er sie schnell durchgesehen hatte, fand er, daß sie ihm im Wege waren, und legte sie auf seinen Schreibtisch. Statt dessen erzählte er Dick die Geschichte.