Read the book: «DER ABGRUND JENSEITS DES TODES», page 2

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Doch nachdem sie Johannes getroffen hatte, hatte Nadine nicht mehr so viel Angst davor, diesen Weg zu gehen. Nicht wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Diagnose gehört und wie betäubt dem Getöse gelauscht hatte, mit dem ihre heile Welt in sich zusammengefallen war. Denn nun war sie nicht mehr allein. Jetzt würde sie den Weg gemeinsam mit Johannes gehen. Ihrem Geschenk des Himmels, nachdem der Teufel ihr zuvor eine bösartige Überraschung in Gestalt des Tumors präsentiert hatte.

Nadine wurde bewusst, dass sie inzwischen wieder erheblich mehr Hoffnung auf einen guten Ausgang dieser Geschichte hatte.

Noch ehe die niederschmetternden Worte des Arztes verhallt gewesen waren, hatte sie sich bereits überlegt, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, weiterzuleben und weiterzukämpfen, wenn die Chancen auf einen Sieg so gering, ja beinahe aussichtslos waren. Wieso dem Leid nicht sofort ein Ende bereiten, indem sie sich vor ein Auto oder die U-Bahn warf? Damit ersparte sie sich viel Schmerz und unnötige Qualen.

Doch diese morbiden Gedanken waren längst vergessen. Denn mit jemandem wie Johannes an ihrer Seite lohnte es sich zu kämpfen. Auch wenn der Kampf möglicherweise von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

»Gut«, sagte Johannes und zwinkerte ihr zu. »Dann lass uns losfahren.«

»Wohin fahren wir überhaupt?«

Er schüttelte den Kopf, während er den Motor anließ. »Das erfährst du noch früh genug.«

»Kannst du mir nicht wenigstens einen winzig kleinen Tipp geben?«, bettelte Nadine und schnallte sich an.

Johannes dachte darüber nach, während er einen Blick in den Seitenspiegel warf und losfuhr. »Tut mir leid«, sagte er dann und sah sie mit einem Ausdruck des Bedauerns an. »Aber alles, was ich dir sagen könnte, würde zu viel verraten und die Überraschung verderben. Du musst einfach noch ein bisschen Geduld haben. Nur dreißig Minuten, dann sind wir da.«

»Geduld war noch nie meine Stärke«, sagte Nadine und seufzte. »Als ich ein Kind war, konnte ich es an Weihnachten und an meinem Geburtstag nicht abwarten, bis ich endlich meine Geschenke bekam. Dabei ging es weniger darum, dass ich die Geschenke früher haben wollte, sondern eher darum, endlich zu erfahren, um was es sich handelte. Deshalb machte ich mich immer schon Tage vorher auf die Suche und durchstöberte das ganze Haus, um die verpackten Geschenke zu finden. Anfangs fand ich sie auch meistens. Bis meine Eltern anfingen, sie bei Nachbarn oder Bekannten zu deponieren, und erst im allerletzten Moment ins Haus holten.« Nadine schüttelte den Kopf und schmunzelte bei der schönen Erinnerung.

»Aber damit hast du dir doch jedes Mal die Überraschung verdorben.«

»Nein«, widersprach Nadine. »Denn als ich die Geschenke fand und auspackte, war es auch eine Überraschung. Nur eben zum falschen Zeitpunkt.«

Johannes nickte. »Das stimmt auch wieder. Aber heute wirst du dich ausnahmsweise gedulden müssen. Ich bin in dieser Hinsicht unerbittlich.«

»Na schön. Dann will ich die Überraschung nicht verderben und dich nicht weiter löchern. Nicht dass du dich am Ende aus Versehen doch noch verplapperst.«

»Keine Angst, das wird schon nicht geschehen. Ich kann nämlich, wenn’s drauf ankommt, schweigen wie ein Grab.«

Sie hielt ihr Versprechen und drang nicht weiter in ihren Begleiter. Stattdessen übte sie sich in Geduld, auch wenn ihr das schwerfiel. Während Johannes den Wagen durch die Straßen lenkte, sprachen sie über unzählige belanglose Dinge. Und so verging die Zeit wie im Flug. Sie achtete nicht darauf, wohin sie fuhren. Irgendwann bemerkte Sie allerdings, dass sie die letzten Ausläufer der Großstadt hinter sich ließen und aufs Land fuhren, über das sich wie ein schwarzes Leichentuch die Nacht herabgesenkt hatte.

Nadine verzog das Gesicht. Nicht wegen des Kopfschmerzes, der vom Analgetikum halbwegs im Zaum gehalten wurde. Sondern wegen ihres morbiden Vergleichs. Wieso musste sie die Nacht ausgerechnet mit einem Leichentuch vergleichen? Abgesehen davon gab es keine schwarzen Leichentücher, oder etwa doch? Vermutlich war Mr. Tumor an all diesen morbiden Gedanken schuld. Oder die Nähe des Todes, die sie seit der Diagnose verstärkt zu spüren glaubte. Als würde der Sensenmann bereits hinter ihr stehen, die Klinge seines Arbeitsgeräts schärfen und ihr grinsend über die Schulter blicken. Sie erschauderte.

Aber ganz egal, was auch immer für diese neuartige Morbidität verantwortlich war, Nadine beschloss, in Zukunft derartige Vergleiche zu unterlassen. Auch wenn es nur in Gedanken geschah. Es wurde nämlich Zeit, wieder positiver zu denken und hoffnungsvoller auf die Zeit zu blicken, die noch vor ihr lag. Schließlich hatte sie mit Johannes an ihrer Seite jetzt allen Grund dazu.

»Sind wir bald da?«, fragte sie mit verstellter Stimme, um das nervige Quengeln eines Kindes zu imitieren.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Johannes, ohne über ihren Scherz zu lachen.

Nadine wandte den Kopf und sah ihn an. Er lächelte nicht einmal, sondern machte einen angespannten und ernsthaften Eindruck. Und obwohl im Auto eine angenehme Temperatur herrschte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Außerdem leckte er sich immer wieder nervös die Lippen.

Ihre gute Stimmung verflog ebenso rasch, wie sie entstanden war. Nadine hatte das Gefühl, in das finstere Loch aus Angst und Selbstmitleid zurückzufallen, aus dem sie sich erst vor wenigen Minuten mühsam herausgekämpft hatte.

Was war hier los? Warum war Johannes so nervös, wo sie sich allmählich dem Ziel ihrer Fahrt näherten?

Als ahnte Mr. Tumor, dass der Augenblick günstig war, um wieder die Oberhand zu gewinnen, wurde der Schmerz in ihrem Kopf intensiver. Die Wirkung der Tablette, die sie zu Hause geschluckt hatte, ließ allmählich nach. Zum Glück hatte sie in weiser Voraussicht die angebrochene Blisterverpackung mitgenommen, sodass sie im Notfall nachladen konnte.

Als Johannes abbremste, richtete Nadine ihren Blick durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie fuhren auf einer schmalen Landstraße, auf der um diese Zeit außer ihnen niemand unterwegs war. Dann zweigte rechts ein Schotterweg ab. Ohne zu blinken, bog Johannes ab und fuhr auf der unbefestigten Strecke weiter.

»Wir sind gleich da«, sagte er, als spürte er ihre Angst. Er wandte kurz den Blick und schenkte ihr ein Lächeln. Doch es sah nicht echt, sondern erzwungen aus.

Nach mehreren hundert Metern tauchte auf der linken Seite ein einsames Gehöft auf. Es bestand aus einem Bauernhaus, einer windschiefen Scheune und einem dritten Gebäude, das früher möglicherweise als Stall gedient hatte. Allerdings machte alles einen verlassenen Eindruck, als wäre es schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden. Und es brannte auch nirgends Licht.

Nadine runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Überraschung an diesem gottverlassenen Ort auf sie warten sollte.

»Lass dich von seinem Äußeren nicht täuschen«, sagte Johannes, der ihre Irritation gespürt haben musste. Doch ihr kam es eher so vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und sie erschauderte. »Von innen sieht es ganz anders aus.«

»Und hier wartet die Überraschung auf mich, von der du gesprochen hast?«

»Natürlich. Sonst hätte ich dich doch nicht hierher gebracht.« Er verließ den Weg und fuhr auf den Hof des Anwesens, der ebenfalls gekiest war. In der Nähe des Wohnhauses brachte er den Wagen zum Stehen. Er schaltete den Motor aus und löschte die Scheinwerfer. Sofort wurde es stockdunkel. Dichte Wolken verbargen den Schein des Mondes und der Sterne.

Nadines Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, während die Angst nach ihrem Herzen griff. Hatte sie etwa doch einen schweren Fehler begangen, als sie einem Mann vertraut hatte, den sie kaum kannte? Aber wie hatte sie sich so in ihm täuschen können?

»Warte eine Sekunde. Ich mache Licht.« Johannes schaltete die Innenbeleuchtung an.

Nadine legte die rechte Hand auf ihr Herz, das rasend schnell schlug. Doch die Angst, die sie in der Finsternis kurzzeitig ergriffen hatte, verflog rasch, als sie seinen bedauernden Gesichtsausdruck und die echte Sorge in seinen Augen sah.

»Tut mir leid«, sagte er, sobald er erkannt hatte, dass die Dunkelheit ihr Angst eingejagt hatte.

»Und was passiert jetzt?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Überraschung musste greifbar nahe sein. Und so erfüllte sie allmählich wieder die Vorfreude auf das, was Johannes für sie vorbereitet hatte.

»Zuerst trinken wir zur Einstimmung ein Glas Sekt.«

»Sekt?« Nadine sah sich suchend im Innern des Wagens um.

»Ich hab die Flasche und die Gläser in einem Korb im Kofferraum, um zu verhindern, dass du sie zu früh entdeckst. Einen Moment, ich bin gleich wieder da.«

Er schnallte sich ab und öffnete die Tür. Dann stieg er aus und schlug die Autotür zu. Nadine beobachtete durch die Scheiben, wie er zum Kofferraum ging. Sie hörte, wie die Heckklappe geöffnet wurde, die ihr anschließend die Sicht auf ihn nahm.

Da sie ihn nicht mehr sehen konnte, lauschte sie auf die Geräusche, die an ihr Ohr drangen. Sie stellte sich dabei vor, was er tat, während sie ebenfalls den Sicherheitsgurt löste und sich bequemer hinsetzte. Sie hörte, wie der Korken aus der Flasche entfernt wurde. Dann ertönte ein Klirren, als die Flasche beim Einschenken gegen einen Glasrand stieß. Anschließend hörte sie eine Weile nichts mehr, während er vermutlich die Gläser füllte und warten musste, bis sich der Schaum legte und er nachfüllen konnte.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, tauchte Johannes wieder neben der Fahrertür auf. Er hatte die Kofferraumklappe offen gelassen, weil er in jeder Hand ein gefülltes Sektglas hielt. Eins der Gläser stellte er aufs Dach, um die Tür öffnen zu können. Er beugte sich nach innen und reichte ihr das andere Glas.

»Vorsichtig«, warnte er sie. »Es ist leider etwas zu voll geworden.«

Nadine nahm das Glas, das ganz nass war, weil ein Teil der Flüssigkeit übergelaufen war. Sie hielt es so, dass die Tropfen nicht auf ihrer Hose, sondern auf der Fußmatte landeten.

Johannes holte sein eigenes Glas, das nicht annähernd so voll war, vom Wagendach. Er nahm wieder hinter dem Steuer Platz und schloss die Tür.

»Prost«, sagte er und streckte ihr sein Glas entgegen.

Die Gläser stießen mit einem dumpfen Klirren gegeneinander. Der Sekt in Nadines Glas schwappte über. Die klebrige Flüssigkeit lief über ihre Finger und tropfte auf die Ablage zwischen den Vordersitzen. »Ups!«

»Macht nichts.«

»Worauf trinken wir überhaupt?«

»Darauf, dass sich unsere Wege gekreuzt und unsere Schicksale ineinander verflochten haben. Und auf die Opfer, die wir allesamt zu erbringen bereit sind.«

Welche Opfer?

Doch da setzte Johannes sein Glas an und nahm einen großen Schluck. Nadine behielt die Frage für sich und folgte rasch seinem Beispiel. Sie hatte Durst und leerte das halbe Glas in einem Zug, bevor sie es wieder absetzte. Der Sekt schmeckte erstaunlich gut. Ihrer Meinung nach war es keiner von der billigen Sorte.

»Und jetzt trinken wir auf dich und das, was dich in diesem Leben noch erwartet«, sagte Johannes, ohne ihr eine Pause zu gönnen. Er stieß sein Glas erneut gegen ihres. Wenigstens konnte jetzt nichts mehr überlaufen.

Sie trank aus und spürte bereits, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Die unzähligen Bläschen in der Flüssigkeit sorgten dafür, dass er wesentlich rascher in ihrem Blutkreislauf verteilt wurde. Außerdem hatte sie kaum etwas gegessen. Und vermutlich vertrug sich der Sekt auch nicht unbedingt mit dem Schmerzmittel, das seine Wirkung wahrscheinlich noch verstärkte. Wenn sie die Packungsbeilage gelesen hätte, wüsste sie jetzt, wie sich der Konsum von Alkohol auf das Analgetikum auswirkte. Andererseits war es auch nicht so wichtig. Schließlich hatte sie nicht vor, heute noch ein Fahrzeug zu lenken oder irgendwelche Maschinen zu bedienen. Davor wurde in den Beipackzetteln von Medikamenten oft ausdrücklich gewarnt.

Der Schmerz in ihrem Kopf wurde wieder intensiver, als hätte der Sekt den bis dahin schlummernden Mr. Tumor aufgeweckt.

Johannes nahm ihr das leere Glas aus der Hand. Er stellte es zusammen mit seinem eigenen auf die Mittelkonsole.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Erneut hatte Nadine das Gefühl, etwas Lauerndes aus seiner Stimme herauszuhören. Sie richtete ihre Augen auf ihn. Ihre Sicht war verschwommen. Es war, als würde sie ihn durch eine beschlagene Scheibe ansehen. Außerdem schienen sich ihre Augen nicht mehr synchron zueinander zu bewegen, sondern wie bei einem Chamäleon in unterschiedliche Richtungen zu blicken.

»Wasch …?« Ihre Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper in ihrem Mund und übergroß an, sodass sie nicht mehr richtig sprechen konnte.

»Im Sekt war Flunitrazepam«, sagte er unvermittelt.

Sie versuchte angestrengt, ihn deutlicher zu erkennen, und blinzelte, um ihre Sicht zu klären. Doch es wurde eher noch schlechter. Außerdem wurde ihr jetzt auch schwindelig. Sie hatte das Gefühl, der Wagen, in dem sie saßen, würde sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreis drehen, als säßen sie in einem bescheuerten Karussell.

»Waschn … Flumi …?«

»Flu…ni…tra…ze…pam«, korrigierte Johannes. Er machte fünf Wörter daraus, indem er es Silbe für Silbe überdeutlich aussprach. »Das ist ein geruch- und geschmackloses Sedativum. Alkohol kann seine Wirkung verstärken. Außerdem kann es zu Gedächtnislücken führen. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen.«

Nadine schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die zunehmende Benommenheit abschütteln.

Geruch- und geschmacklos? Sedativum? Gedächtnislücken? Was faselte er da nur?

Johannes sah auf die Uhr im Armaturenbrett des Wagens. »Die volle sedative Wirkung des Mittels sollte in spätestens fünfzehn Minuten einsetzen.«

»Wa…rum?« Es kostete Nadine unendlich viel Mühe, auch nur dieses eine Wort halbwegs verständlich auszusprechen.

»Warum?«, wiederholte Johannes in einem ebenso fragenden Tonfall, als wüsste er die Antwort darauf selbst nicht. »Hmm. Lass mich kurz überlegen. Es würde vermutlich zu lange dauern und zu weit führen, dir alle Einzelheiten zu erläutern. Abgesehen davon, dass du es in deinem gegenwärtigen Zustand ohnehin nicht verstehen würdest. Aber so viel kann ich dir zumindest verraten: Du wurdest von Gott auserwählt, ein gewaltiges Opfer zu bringen, um die Menschheit vor der ewigen Verdammnis zu retten. Darauf kannst du stolz sein. Denn indem Gott dafür sorgte, dass sich unsere Wege im richtigen Moment kreuzten, wird dein unvermeidlicher Tod durch den Tumor in deinem Kopf nicht vergebens sein. Stattdessen wird er allen gläubigen Christen dienen.«

Er sprach in Rätseln. Sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte. Er hatte schon einmal von einem Opfer gesprochen. Aber was meinte er damit?

Johannes seufzte, als hätte er erkannt, dass Nadine ihn nicht verstand oder an ihm und seinen lauteren Absichten zweifelte.

»Es ist auch zu deinem eigenen Besten«, sagte er so eindringlich wie ein Versicherungsvertreter, der eine Unterschrift unter ein überteuertes Rundum-Sorglos-Versicherungspaket haben wollte. »Denkst du vielleicht, mir macht es Spaß, dich zu quälen und zu töten? Natürlich nicht! Aber wir müssen alle ein Opfer bringen. Auch ich! Außerdem würde dich der Tumor ohnehin früher oder später umbringen. Aus diesem Grund bist du das perfekte Opfer. Der Tod, den ich dir schenke, wird dich von deinen Qualen erlösen.«

Töten!

Das Wort hallte wie ein Donnerschlag durch Nadines benebelten Verstand. Alles andere, was er gesagt hatte, hatte sie nicht mehr verstanden. Doch dieses eine Wort war zu ihr durchgedrungen und hatte sie geradezu elektrisiert.

Er will mich töten! Aber warum?

Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie noch selbst mit dem Gedanken gespielt, ihrem Leben ein rasches Ende zu bereiten, bevor der Tumor sie langsam und qualvoll umbrachte. Aber jetzt, nachdem sie wieder neue Hoffnung geschöpft hatte, wollte sie nicht mehr sterben. Denn auch wenn die Erfolgsaussichten verschwindend gering waren, bestand immerhin die Chance, dass die Kombination aus Bestrahlung und Chemo dem Tumor den Garaus machte.

Nadine blinzelte und sah wieder etwas klarer. Noch wirkte das Sedativum mit dem unaussprechlichen Namen nicht hundertprozentig, sondern machte sie nur benommen und schwindelig. Doch je länger sie wie ein verängstigter Hase im Scheinwerferlicht verharrte, desto hilfloser würde die Droge sie machen. Bis sie schließlich das Bewusstsein verlor und Johannes mit ihr machen konnte, was er wollte. Also musste sie sofort handeln, wenn sie überhaupt noch eine Chance haben wollte, ihr Leben zu retten.

Neue Energie erfüllte sie, als ihr Körper aufgrund ihrer Panik eine große Menge Adrenalin ausschüttete. Zum Glück war sie nicht mehr angeschnallt, sonst wäre ihre Flucht gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Sie langte nach dem Türgriff, öffnete die Tür und ließ sich kurzerhand aus dem Auto fallen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, sich im Zeitlupentempo zu bewegen, als befände sie sich unter Wasser oder auf der Oberfläche des Mondes. Deshalb rechnete sie damit, dass Johannes sie mit Leichtigkeit packen und zurück ins Auto zerren würde. Doch das geschah nicht. Vielleicht war es ihr tatsächlich gelungen, ihn mit ihrer Aktion zu überrumpeln.

Nadine landete auf dem Kies, der sich schmerzhaft in ihre rechte Wange bohrte. Aber sie hatte keine Zeit, darüber zu klagen. Außerdem war der Schmerz in ihrem Kopf, den der von der Leine gelassene Mr. Tumor erzeugte, viel heftiger.

Sie rappelte sich auf und kam ächzend und stöhnend auf die Beine, indem sie sich an der offenen Tür festklammerte.

Nadine wandte den Kopf und sah in den Wagen. Johannes beobachtete sie. Allerdings machte er keine Anstalten, ihr zu folgen. Er sah sie voller Mitleid an, als bedauerte er es zutiefst, sie in diesem erbärmlichen Zustand sehen zu müssen.

Sie hasste ihn dafür. Das ungewohnte Gefühl war so stark, dass sie erschauderte. Wie hatte sie ihn nur für gefühlvoll und freundlich halten können? Und wie hatte sie zu ihm ins Auto steigen und es zulassen können, dass er ihr eine Droge verabreichte, obwohl sie ihn kaum kannte? Er war nicht nett und einfühlsam. Trotz all seines scheinheiligen Geredes von Gott und Geschenken des Himmels. Denn in Wahrheit wollte er sie kaltblütig umbringen, auch wenn er diesen Umstand mit beschönigenden Worten zu verschleiern versuchte.

Er ist ein Monster!

Ihr wurde bewusst, dass sie kostbare Zeit verschwendete. Zeit, die sie nicht hatte, weil die Uhr tickte, während das Sedativum sich in ihrem Körper ausbreitete und allmählich seine volle Wirkung entfaltete.

Nadine wandte sich um. Sie löste ihre Hand von der Tür und rannte los. Das war zumindest ihr Plan gewesen. Doch aus dem Rennen wurde schon mal nichts. Sie schaffte es gerade einmal, in langsamem Schritttempo einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei schwankte sie hin und her wie ein Seemann auf dem Deck eines Windjammers bei Windstärke 10. Erneut setzte heftiges Schwindelgefühl ein und sorgte dafür, dass die Umgebung sich um sie drehte und der Boden unter ihren Füßen Wellen warf. Beinahe wäre sie gestrauchelt und hingefallen. Doch trotz all dieser Widrigkeiten schaffte sie es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben.

Nach ein paar Metern tauchte die Bretterwand der windschiefen Scheune vor ihr auf. Sie presste beide Hände dagegen und blieb schnaufend stehen, um sich zu orientieren. Sie dachte kurz darüber nach, in der Scheune Zuflucht zu suchen und sich dort zu verstecken. Aber ihr wurde klar, dass sie dann in der Falle säße, weil es vermutlich keinen anderen Ausgang gab. Besser, sie umrundete das Gebäude und lief in seinem Sichtschutz auf das dunkle Feld dahinter. Sobald sie in der Dunkelheit untergetaucht wäre, könnte Johannes sie nicht mehr so leicht finden. Selbst wenn sie das Bewusstsein verlor und hinfiel. Denn da es nicht kalt war, bestand zumindest nicht die Gefahr, dass sie beim Schlafen im Freien erfror. Und sobald die Wirkung des Sedativums abebbte und sie wieder zu sich kam, konnte sie zur Straße laufen, wo sie hoffentlich jemanden fand, der sie mitnahm.

Es war kein guter Plan, das wusste sie. Und es gab genügend Details, die schiefgehen konnten. Aber unter den gegenwärtigen Umständen und angesichts ihres stetig schlechter werdenden Zustands war es das Beste, was sie sich in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ausdenken konnte.

Als sie ihre Flucht fortsetzte und sich an der Scheunenwand entlang ihren Weg ertastete, hörte sie hinter sich die Fahrertür aufgehen.

Er kommt!

Der Gedanke versetzte sie in Panik. Sie versuchte unwillkürlich, schneller zu laufen, ohne dabei über die eigenen Füße zu stolpern. Die wurden zunehmend unzuverlässiger. Sie taten nicht immer das, was sie wollte, und behinderten sich auch noch gegenseitig.

Johannes hingegen schien keine Eile zu haben. Sie war höchstens zehn Meter von ihm entfernt. Er hätte nur einen kurzen Sprint hinlegen müssen und sie im Nullkommanichts eingeholt. Doch er war sich seiner Sache anscheinend todsicher und ließ sich Zeit.

Das machte sie wütend. Dass er überhaupt nicht damit rechnete, dass sie entkommen könnte. Dass er seelenruhig abwartete, bis die volle Wirkung der Droge einsetzte, um sie dann nur noch einsammeln zu müssen. Denn das bedeutete im Endeffekt, dass ihr Fluchtversuch von Anfang an aussichtslos gewesen war. Genauso gut hätte sie im Auto sitzen bleiben und abwarten können, bis die Lichter ausgingen.

Doch sie gab trotzdem nicht auf!

Beinahe hätte sie darüber gelacht. Hätte sie gewusst, was für eine Kämpferin in ihr steckte, hätte die Krebsdiagnose sie nicht so schockiert und verzweifeln lassen. Vermutlich wäre dann alles ganz anders gekommen, und sie wäre jetzt nicht in dieser beschissenen Lage.

»Du kannst mir nicht entkommen.«

Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte. Allerdings klang es nicht so, als wäre er nähergekommen, sondern als stünde er noch immer neben der offenen Fahrertür des Wagens. Außerdem hatte sie keine Schritte auf dem Kies gehört.

Sie reagierte nicht auf seine Worte. Wie auch, wenn sie kaum in der Lage war, verständlich zu sprechen?

Endlich erreichte sie die Ecke der Scheune und verschwand sogleich dahinter. Jetzt konnte er sie wenigstens nicht mehr sehen. Außerdem war es hier stockfinster, weil die Innenbeleuchtung des Autos nicht bis hierher reichte. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance. Nämlich dann, wenn es ihr gelang, in der Dunkelheit unterzutauchen und weit genug zu laufen, sodass er sie nicht fand.

»Die Wirkung des Sedativums wird von Sekunde zu Sekunde stärker. Und je mehr du dich anstrengst und gegen dein unvermeidliches Schicksal ankämpfst, desto schneller wird der Wirkstoff in deinem Körper verteilt.«

Klugscheißer!

Plötzlich hörte sie das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies. Er folgte ihr in gemächlichem Tempo.

Es war so dunkel, dass sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Die Scheunenwand neben ihr war alles, was ihr zur Orientierung diente. Ansonsten war es, als spielte sie Blindekuh.

Nadine ging taumelnd weiter. Eine Hand streifte über die Holzwand links neben ihr. Die andere hatte sie vor sich ausgestreckt, falls unerwartet ein Hindernis auftauchte.

»Warum gibst du nicht einfach auf und fügst dich in dein unabänderliches Schicksal? Damit würdest du es nicht nur mir, sondern auch dir selbst wesentlich leichter machen. Sieh es einfach so wie ich. Als Dienst an der Menschheit, den Gott von dir verlangt.«

Johannes’ Stimme klang in der Dunkelheit bereits so nahe, als stünde er direkt hinter ihr. Dabei hatte er noch nicht einmal die Ecke der Scheune erreicht.

Plötzlich tauchte tatsächlich ein Hindernis vor ihr auf. Doch es war so niedrig, dass sie es nicht mit der vorgestreckten Hand ertastete, sondern stattdessen mit dem Schienbein dagegen prallte. Sie schrie vor Schmerz, fiel nach vorn und landete im hohen Gras, das neben der Scheune wuchs. Sie wusste nicht, was sie zu Fall gebracht hatte. Aber was auch immer es gewesen war, es hatte ihr Hosenbein aufgerissen und ihr einen blutigen Kratzer am Knie beschert. Sie spürte warmes Blut unter ihren Fingern, als sie danach tastete.

Nadine wollte sofort wieder aufstehen und weitergehen. Doch dazu fehlte ihr die Kraft. Außerdem war das Schwindelgefühl inzwischen so heftig, dass sie kaum noch sagen konnte, wo links und rechts oder oben und unten war. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als auf dem grasbedeckten Boden liegen zu bleiben und nach Luft zu schnappen. Währenddessen vereinten sich die Schmerzen in ihrem Kopf und ihrem Bein zu einer einzigen qualvollen Agonie.

Das Knirschen des Kieses war verstummt. Stattdessen hörte sie jetzt Gras rascheln, als Johannes sich ihr näherte.

»Ich sagte doch, dass du nicht entkommen kannst.« Trotz seiner mörderischen Absichten war seine Stimme sanft. Seine Worte waren auch nicht bösartig gemeint, sondern klangen allenfalls tadelnd. Er hörte sich an wie ein Vater, der seine geliebte Tochter maßregelt, weil sie nicht auf ihn gehört hat und deshalb auf die Nase gefallen ist.

Nadine war zu kraftlos, um ihm zu antworten. Ihr Bewusstsein wurde in einem Strudel herumgewirbelt, als wäre in ihrem Verstand ein Stöpsel entfernt worden. Ihr inneres Ich drohte jeden Moment in den finsteren, bodenlosen Abfluss gerissen zu werden. Sie kämpfte dagegen an. Dabei wusste sie längst, dass sie verloren hatte.

Ich werde sterben!

Nicht durch den Tumor in ihrem Kopf, der ihr bislang wie das größte Unglück erschienen war, das ihr jemals widerfahren war. Sondern ausgerechnet durch den Mann, der ihr eine Zeitlang neue Zuversicht und neuen Lebensmut geschenkt hatte.

Pervers!

»Wehr dich nicht länger dagegen!« Johannes war neben ihr in die Hocke gegangen. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrer erhitzten Stirn. Und obwohl er zu ihrem Mörder werden würde, tröstete sie die Berührung durch ein anderes mitfühlendes menschliches Wesen.

Ihre Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings. Es kam ihr allerdings eher so vor, als wären sie tonnenschwer. Deshalb gelang es ihr auch nicht länger, die Augen offenzuhalten.

»Schlaf jetzt!«

Seine sanfte Stimme begleitete sie, als ihr Bewusstsein in den Abgrund sauste und wie eine Kerzenflamme im Wind erlosch.

Nadine hatte damals mit dem Leben abgeschlossen und gedacht, sie würde nicht mehr erwachen. Als sie entgegen ihren Erwartungen dennoch wieder zu sich kam, lag sie in einem Gefängnis, das sie an eine übergroße Holzkiste erinnerte, und war mit Eisenketten an die Wand gefesselt.

Was immer Johannes mit ihr vorhatte, es sollte allem Anschein nach kein rascher Tod werden. Aber was er letztendlich genau plante und wie das Opfer aussah, das sie bringen sollte, hatte er ihr bislang nicht verraten. Stattdessen hüllte er sich hartnäckig in Schweigen, wenn er in ihr Verlies kam, um den Eimer auszuleeren oder ihr regelmäßig Wasser und seltener Zwieback zu bringen. Er erwiderte ihre anfangs fragenden und anklagenden, später resignierenden und hoffnungslosen Blicke mit Augen, die weiterhin sanft und mitfühlend waren. Doch er sprach kaum noch mit ihr. Es erschien ihr beinahe so, als wollte er ihre Beziehung von nun an so unpersönlich wie möglich gestalten, um sie am Ende umso leichter töten zu können.

II

Ihr heutiges Erwachen glich einem Sprung in eiskaltes Wasser, denn es kam jäh und war schmerzhaft.

Es war kein sanftes Hinübergleiten vom Schlaf ins Bewusstsein, wie sie es in ihrem früheren Leben so oft erlebt hatte. Stattdessen handelte es sich, wie immer in letzter Zeit, um eine geradezu schockartige Rückkehr in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit voller Schmerz und Qual, den infernalischen Zwillingen, die neuerdings ihre ständigen Begleiter waren. Ihnen konnte sie nur während des Schlafens für kurze Zeit entrinnen.

Nadine hob ächzend den Kopf. Sie sah sich blinzelnd und mit sparsamen Bewegungen um. Mittlerweile kostete sogar die kleinste Regung enorme Kraft, die sie kaum noch besaß, und intensivierte zudem die ständigen Schmerzen. Sie sah allerdings auf den ersten Blick, dass sich an ihrer Situation nichts geändert hatte.

Wie auch? Sie war längst davon überzeugt, dass nur noch ein Wunder biblischen Ausmaßes sie retten konnte.

Sie war noch immer in dem winzigen fensterlosen Verschlag gefangen, der einer übergroßen Kiste glich. Sämtliche Wände und der Zugang bestanden aus unbehandelten Holzbrettern. Die einzigen beiden Einrichtungsgegenstände waren eine schmutzige Matratze, die nach Nadines Schweiß und Körperausscheidungen stank, und ein Plastikeimer in der Ecke, in den sie ihre Notdurft verrichten konnte. An den durchdringenden Gestank nach Exkrementen hatte sie sich längst gewöhnt. Sie nahm ihn schon gar nicht mehr bewusst wahr. Allerdings fand sie inzwischen kaum noch die Kraft, die kurze Strecke bis zum Eimer zu überwinden. Dabei stand er nur einen halben Meter von ihrer Schlafstatt entfernt. Mehr Spielraum ließen ihr die Ketten ohnehin nicht, die an metallenen Schellen um ihre Hand- und Fußgelenke befestigt waren. Anfangs waren die Schellen zu eng gewesen und hatten ihre Haut wund gescheuert; doch seit Beginn ihrer Gefangenschaft hatte sie extrem viel Gewicht verloren. Dennoch konnte sie die Fesseln nicht abstreifen. Außerdem hätte es ihr ohnehin nichts genutzt. Der Mann, der sie gefangen hielt, vergaß nie, die Tür zu verriegeln, nachdem er gekommen war, um den Eimer auszuleeren oder ihr Wasser oder ein wenig Zwieback zu bringen. Allerdings musste Johannes den Eimer inzwischen nicht mehr allzu oft leeren, da sie nur noch selten Stuhlgang hatte.

Johannes.

Der Name ihres Peinigers irrlichterte durch ihren Verstand, löste jedoch keine Reaktion aus. Selbst dafür fehlte ihr inzwischen die Kraft. Außerdem hatte sie längst resigniert und aufgegeben. Ihr Lebenswille war buchstäblich erloschen.