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2.2 »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« – Zum Werk Soma Morgensterns

»Das Vergessen verlängert das Exil – Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«, dieser Spruch ist als Inschrift in die israelische Holocaust-Gedenkstätte ›Yad Vashem‹ in Jerusalem eingraviert. Hier steht er als Überschrift über dem Kapitel, das einen Überblick über Morgensterns schriftstellerisches Gesamtschaffen geben will. In vielerlei Hinsicht sind diese Worte von leitmotivischem Charakter für Morgensterns Leben wie auch für sein literarisches Schaffen. Sie umreißen mit wenigen Worten das Wesen von Morgensterns literarischem Werk.

Zweifellos kannte Morgenstern den Wortlaut dieser Inschrift und das nicht erst, seit ihn seine mahnende Plazierung nach der Eröffnung von ›Yad Vashem‹ im Februar 1947 international bekannt gemacht hat. Vielmehr dürfte diese Formel Morgenstern seit frühester Jugend geläufig gewesen sein und ihn sein Leben lang begleitet haben. Sie geht zurück auf Rabbi Israel ben Eliezer, genannt Baal Schem Tov, der als Gründer des Chassidismus gilt, jener religiösen Bewegung, in deren Sinn auch Morgenstern erzogen wurde. Die Religiosität, die so nachhaltig Morgensterns Elternhaus und damit auch seine Kindheit geprägt hat, ist auch in seinem weiteren Leben stets ein bestimmender Faktor geblieben, sieht man von der frühen Glaubenkrise in der Gymnasialzeit einmal ab. Fraglos hat sie auch sein Schreiben stark beeinflußt.

Exil und Erinnerungen spielen eine entscheidende Rolle in Morgensterns schriftstellerischem Werdegang. Erst im Exil begann er zu schreiben, schließlich war das Leben in Wien bereits ein erstes Exilerlebnis für den Jurastudenten mit journalistischen Ambitionen, nachdem er im Ersten Weltkrieg Ostgalizien, seine ursprüngliche und eigentliche Heimat, endgültig hatte verlassen müssen. Sein erster Roman entstand zu großen Teilen im Jahr 1934 im Pariser Exil. Die Exilsituation erscheint demnach ein durchaus prägender Faktor für Morgensterns schriftstellerische Tätigkeit gewesen zu sein. Nicht von ungefähr nimmt die Beschreibung seiner Heimat Ostgalizien mit ihren Menschen und Landschaften einen bedeutenden Platz in Morgensterns Romanen ein. Letztlich stellt sich Morgensterns gesamtes schriftstellerisches Werk dem Leser wie eine einzige Reise durch seine Erinnerungen dar. Selbst dort, wo er nicht unmittelbar sein eigenes Leben beschreibt, greift er maßgeblich auf sie zurück. In seinen Romanen verarbeitet er grundlegende Erlebnisse und Eindrücke aus seinem eigenen Leben, läßt die Welt seiner Kindheit in Ostgalizien wiedererstehen. Kapitel 3 der vorliegenden Untersuchung wird sich eingehend mit der Frage auseinandersetzen, in welchem Zusammenhang Exilerfahrung und das Bedürfnis nach deren schriftstellerischer Verarbeitung zueinander stehen.

Sieht man von den beiden frühen Versuchen als Theaterautor ab, begann Morgenstern seine schriftstellerische Tätigkeit als Romanautor. Das Romanschaffen bestimmt vor allem die ersten zwei Jahrzehnte seiner Autorenlaufbahn. Ende der vierziger Jahre vollendete er seinen vierten Roman Die Blutsäule. Erst zwanzig Jahre später, Ende der sechziger Jahre, schrieb er wieder einen Roman, der allerdings auch sein letzter bleiben sollte. Die Jahre dazwischen waren von der Arbeit an den ›autobiographischen Schriften‹ bestimmt, die den zweiten maßgeblichen Teil von Morgensterns Werk bilden.

Im Zentrum des Romanschaffens steht die Trilogie Funken im Abgrund. Morgenstern erzählt in den drei Bänden die Geschichte des jungen assimilierten Wiener Juden Alfred Mohylewski. Alfreds im Ersten Weltkrieg gefallener Vater hatte in jungen Jahren seine ostgalizische Heimat verlassen und war in Wien zum Christentum übergetreten, was zum Bruch mit seinem Bruder, dem ostgalizischen Gutsbesitzer Welwel Mohylewski, führte. Welwel holt seinen Neffen Alfred in die Heimat seines Vaters, nach Ostgalizien, zurück. Der ›Sohn des verlorenen Sohnes‹ findet dort zu seinen jüdischen Wurzeln und zum jüdischen Glauben zurück.

Der vierte Roman, Die Blutsäule, muß nach Morgensterns eigenen Angaben als Abschluß der Trilogie gesehen werden. Morgenstern legt hier ein tiefes Bekenntnis zu seinem jüdischen Glauben ab. Erst die Besinnung auf die Tora, das Kernstück des jüdischen Glaubens, konnte ihn aus der sprachlichen Erstarrung lösen, die ihn nach der Konfrontation mit den Dokumentationen über die an den Juden begangenen Verbrechen der Nationalsozialisten erfaßt hatte. Das scheinbar aussichtslose Dilemma, zum einen alles Deutsche so sehr zu hassen, daß er auch die deutsche Sprache nicht mehr lieben konnte, und zum anderen sich nicht in der Lage zu sehen, in einer anderen Sprache als der deutschen zu schreiben, löste Morgenstern, indem er auf den Sprachduktus der Tora, der fünf Bücher Mose, zurückgriff. Hier fand er zu einer neuen Sprache, einer deutschen Sprache, die bezeugte, daß er sich von der europäischen Kultur gelöst hatte.82 Das Buch sollte geschrieben sein, »as a man writes who has never read any other book but the Bible.«83 Morgenstern bedient sich einer deutschen Sprache, die er nach dem Vorbild der hebräischen Bibelsprache stilisierte. Diese ›heilige Sprache‹ zeichnet sich durch eine für einen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Prosa verfaßten Text ungewöhnliche Schlichtheit aus. Es ist ein gleichnishaftes, ein allegorisches Erzählen. Die Wortwahl mutet häufig altmodisch an – das Vokabular ist der hebräischen Bibel entnommen. So entgeht Morgenstern der Gefahr, bei dem so schwierigen, ja nahezu unartikulierbaren Thema des Holocaust eine Sprache zu benutzen, die im Alltag ganz profane Dinge bezeichnet und die Morgenstern, wie er in seinem Tagebuch schreibt, nicht mehr lieben konnte.84 Auch in der formalen Gestaltung diente die Tora Morgenstern als Vorbild. Die einzelnen Absätze des Textes sind durch Leerzeilen voneinander getrennt und werden so – ähnlich wie in der Bibel – optisch besonders betont.

Das fünfte und gleichzeitig letzte Werk Morgensterns, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist der Fragment gebliebene Roman Der Tod ist ein Flop, auf den im vorhergehenden Kapitel bereits kurz eingegangen wurde. Da Morgensterns Romanschaffen nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist, sei an dieser Stelle lediglich noch auf einige wissenschaftliche Arbeiten verwiesen, die sich näher mit Morgensterns Romanen auseinandersetzen. Obwohl die Forschungsliteratur zu Soma Morgenstern und seinen Werken noch in ihren Anfängen steckt, gibt es vor allem über die Roman-Trilogie bereits einige lesenswerte Arbeiten. So geht Alfred Hoelzel in seinem Artikel über Morgenstern ausführlich auf die Roman-Trilogie und den Folgeroman Die Blutsäule ein.85 Hoelzel schildert nicht nur die genaueren Entstehungsumstände der einzelnen Bände, sondern liefert auch ein detailliertes Resümee der Romanhandlungen, so daß hier auf weiterführende Angaben zum Inhalt dieser Werke verzichtet werden kann.

Nach der Vollendung seines vierten Romans Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth Mitte der fünfziger Jahre widmete sich Morgenstern fast ausschließlich der Aufzeichnung seiner Lebenserinnerungen. Hatte er seine schriftstellerische Laufbahn als Romancier begonnen, dessen Romane immer wieder um das eine Thema kreisen – die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben –, so beendete er sie als Memoirenschreiber, als Berichterstatter einer vergangenen Epoche.

Es steht außer Frage, daß auch Morgensterns Romanwerk stark autobiographische Züge aufweist. Allein schon die Tatsache, daß die Romane überwiegend in Morgensterns ostgalizischer Heimat spielen, zeigt, wie präsent und prägend die eigenen Erinnerungen auch in den Romanen sind. Die Lektüre der Kindheitserinnerungen In einer anderen Zeit, in denen Morgenstern seine Kinder- und Schuljahre in Ostgalizien schildert, erinnert in vielen Details an die Welt, die er in der Roman-Trilogie Funken im Abgrund erschaffen hat. Ja, es geht sogar soweit, daß Personen aus dem näheren Umfeld von Morgensterns Kinder- und Jugendzeit als Vorbilder für seine Romanfiguren Eingang in die Trilogie gefunden haben. So stand zum Beispiel Morgensterns Großonkel Jankel Turner Modell für die Gestalt des Jankel Christiampoler, der als Gutsverwalter von Welwel Mohylewski eine zentrale Rolle in den drei Romanen spielt. Morgenstern selbst weist in seinen Kindheitserinnerungen gleich zweimal auf diese Vorbildfunktion hin. So heißt es dort im Kapitel ›Trauriges Wiedersehn in der Alten Schul‹: »Dieser Großonkel ist mein Modell zu der Gestalt des Jankel Christiampoler, der durch die drei Romane meiner Trilogie leibhaftig fortlebt.«86 An einer anderen Stelle schreibt Morgenstern: »Denn dieser Jankel Turner ist das Vorbild zu meinem Jankel Christiampoler, der der Liebling aller meiner Leser geworden ist.«87 Es sei noch kurz darauf hingewiesen, daß das Schicksal des ›verlorenen Sohnes‹ entfernt an Morgensterns eigene Geschichte erinnert. Der abtrünnig gewordene Bruder von Welwel Mohylewski, Josef, hat wie Morgenstern seinen Willen gegen den Widerstand des strenggläubigen Vaters durchgesetzt und einen säkularen Bildungsweg eingeschlagen. Wie ihr Schöpfer gerät auch die Romanfigur in Konflikt mit ihrem Glauben und fällt von diesem ab.

War eingangs davon die Rede, daß Morgensterns ›autobiographische Schriften‹ im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, so war damit nicht der eben erläuterte autobiographische Aspekt in seinem Romanwerk gemeint. Diese Arbeit befaßt sich vielmehr mit jenen Schriften Morgensterns, die unter dem Arbeitstitel Ein Leben mit Freunden im Rahmen eines großangelegten autobiographischen Planes entstanden sind. Daß er tatsächlich vorhatte, einen umfassenden und abgeschlossenen Bericht seines Lebens zu schreiben, ist unbestritten. So erwähnt er die Arbeit an seiner Autobiographie wiederholt in Briefen an den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem. Beispielsweise schreibt er am 2. November 1970 an Scholem: »Ich bin seit Jahren mit meiner Autobiographie beschäftigt.«88 Und am 21. Dezember 1972 heißt es: »Wie ich Ihnen ebenfalls schon vor Jahren mitgeteilt habe, arbeite ich seit vielen Jahren an meiner Autobiographie.«89 Und auch aus den Texten selbst geht eindeutig hervor, daß sie im Rahmen eines autobiographischen Gesamtvorhabens entstanden sind.

Bei den Werken, die hier unter dem Sammelbegriff ›autobiographische Schriften‹ zusammengefaßt werden sollen, handelt es sich einerseits um die beiden Bände Joseph Roths Flucht und Ende und Alban Berg und seine Idole, die Morgenstern selbst noch für eine Veröffentlichung vorbereitet hatte. Sie waren von Anfang an als eigenständige Publikationen konzipiert. Gleichzeitig wollte ihr Verfasser sie aber auch als Teile seiner Autobiographie verstanden wissen. Sie entstanden im Rahmen des großangelegten autobiographischen Projektes Ein Leben mit Freunden. In beiden Bänden weist Morgenstern ausdrücklich auf den engen Zusammenhang dieser Aufzeichnungen mit seiner Autobiographie hin. Dennoch handelt es sich bei beiden Bänden um zwei autarke, in sich abgeschlossene Werke, die zweifellos stark autobiographischen Charakters sind und aus Morgensterns Idee, seine Memoiren zu verfassen, hervorgegangen sind, aber dennoch nicht als Autobiographie im traditionellen Sinne bezeichnet werden können. Sie entstanden parallel zu der Arbeit an der eigentlichen Autobiographie. Neben den beiden Erinnerungsbänden über die Freunde Joseph Roth und Alban Berg gehören auch die im Band In einer anderen Zeit veröffentlichten Texte zum Komplex der ›autobiographischen Schriften‹.

Als viertes Werk wird der sogenannte Romanbericht Flucht in Frankreich im Kontext der ›autobiographischen Schriften‹ behandelt, selbst wenn dieser auf den ersten Blick nicht unbedingt als dorthin gehörig erscheinen mag. Morgenstern schildert in diesem Werk seine Zeit in französischer Internierungshaft und seine Flucht aus dem Lager von Audièrne. Die vom Herausgeber Ingolf Schulte als Untertitel gewählte Bezeichnung ›Romanbericht‹ vergegenwärtigt die Sonderstellung, die dieser Band in Morgensterns Gesamtwerk einnimmt. Der Gestalt nach ist dieses Werk eine Mischform. Morgenstern ersinnt hier weder eine rein fiktive Romanhandlung – der autobiographische Hintergrund ist hier noch wesentlich ausgeprägter als in Morgensterns anderen Romanwerken –, noch verbleibt er ausschließlich im authentischen Rahmen seiner Memoiren. Er verbindet beide Ebenen – die authentische und die fiktive –, indem er nicht für sich selbst spricht, sondern eine fiktive Figur, ein Alter ego, erfindet, dessen Geschichte der Morgensterns allerdings äußerst ähnlich ist. Ingolf Schultes Terminus ›Romanbericht‹ versucht, eben diese Zwitterstellung zwischen Roman und autobiographischem Bericht zu erfassen.

Im Kontext dieser Arbeit ist der ›Romanbericht‹ Flucht in Frankreich aufgrund seines besonders deutlichen autobiographischen Hintergrundes ebenfalls Gegenstand der Untersuchung und wird gleichermaßen als fester Bestandteil von Morgensterns Lebenserinnerungen behandelt. Diese Zuordnung erscheint gerechtfertigt, da Morgenstern selbst seine Aufzeichnungen über die Zeit in französischer Internierungshaft zum Komplex seiner Lebenserinnerungen gezählt hat. Hierauf läßt folgende Bemerkung aus den Erinnerungen an die Zeit mit Joseph Roth im Pariser Exil schließen: »Ich habe an einer anderen Stelle meiner Erinnerungen genau geschildert, wie es uns [Morgenstern und Serge Dohrn] dort gelungen ist, aus dem Lager [von Audièrne] zu entkommen.«90 Die Schilderung, auf die Morgenstern hier verweist, findet sich in eben jenem Typoskript, das unter dem Titel Flucht in Frankreich veröffentlicht wurde. Morgensterns »autobiographisches Tryptichon«, wie es in einer Rezension seiner Werke in der Frankfurter Zeitung heißt, muß demnach zum ›autobiographischen Quartett‹ erweitert werden.

Gerade rechtzeitig vor Abschluß dieser Arbeit über Soma Morgensterns autobiographisches Werk erschien im Oktober 2001 der elfte und letzte Band der Morgenstern-Werkausgabe, so daß die in ihm enthaltenen Texte Morgensterns noch mit berücksichtigt werden konnten. Der Band versammelt Morgensterns Feuilletons der Jahre 1924 bis 1934, essayistische Texte, Berichte, Manuskriptvarianten und neben zahlreichen Aufzeichnungen aus Notizheften auch die wenigen erhaltenen Tagebuchhefte des Schriftstellers. Vor allem die Tagebücher, wie auch die Einträge in den Notizheften und die sogenannten Briefberichte sind wertvolle Ergänzungen zu Morgensterns Fragment gebliebener Autobiographie und damit unschätzbare Dokumente und Informationsquellen für die vorliegende Arbeit.

Morgenstern war kein passionierter Tagebuchschreiber. Nach Überwindung jener Lebenskrise, die ihn zum Tagebuchschreiben brachte, stellte er es offensichtlich sofort wieder ein. In den fünf Jahren der Krise, von 1945 bis 1950, entstanden insgesamt fünfzehn Hefte, von denen allerdings nur drei erhalten sind: zwei ›Amerikanische Tagebücher‹ aus den Jahren 1949/50 und ein ›Pariser Tagebuch‹ aus dem Jahr 1950, das Morgenstern auf seiner ersten Europareise nach dem Krieg führte. Die übrigen zwölf Hefte sind vermutlich verlorengegangen. Dennoch enthalten auch diese wenigen Hefte wichtige Hinweise, die auf den Entstehungsprozeß von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ schließen lassen, vor allem auf den der beiden Bände über Alban Berg und Joseph Roth.

Hinter dem vom Herausgeber der Edition eingeführten Begriff der ›Briefberichte‹ verbirgt sich eine Reihe von Briefen, in denen Morgenstern ähnlich wie in Alban Berg und seine Idole und Joseph Roths Flucht und Ende Auskunft über weitere prominente Zeitgenossen und Freunde gibt. Es handelt sich hier nicht um Briefe aus der privaten Korrespondenz Morgensterns – die Adressaten kannte er zum Teil gar nicht persönlich –, sondern um Personenporträts, die er auf die besondere Bitte der Adressaten hin verfaßte. Bei den in den Briefen porträtierten Persönlichkeiten der literarischen Prominenz jener Zeit handelt es sich um den deutschen Philosophen Walter Benjamin und die beiden österreichischen Schriftsteller Robert Musil und Ernst Weiß.

Ein Konvolut von dreizehn Briefen, in denen Morgenstern seine Erinnerungen an Walter Benjamin schriftlich festgehalten hat, bildet den umfangreichsten Teil der ›Briefberichte‹. Die Briefe stammen aus den Jahren 1970 bis 1975 und sind an den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem adressiert, mit dem Morgenstern persönlich bekannt war und mit dem er seit Anfang der sechziger Jahre in regelmäßigem Briefkontakt stand. Scholem hatte sich im Juni 1968 mit der Bitte an Morgenstern gewandt, ihm über seine Zeit mit Walter Benjamin in Marseille zu schreiben. Scholem, der als überzeugter Zionist bereits 1923 nach Palästina ausgewandert war, hatte Benjamin im Jahr 1915 kennengelernt und war bis zu dessen Selbstmord im September 1940 eng mit ihm befreundet gewesen. Er war offensichtlich vor allem an Einzelheiten über Benjamins letzte Jahre im französischen Exil interessiert, insbesondere an den genaueren Umständen seines Selbstmordes. So schreibt er am 30. Januar 1973 an Morgenstern: »Er [Brief Morgensterns] kam gestern an und hat mich tief beeindruckt, vom inhaltlichen großen Interesse Ihrer Mitteilungen ganz zu schweigen. Ich bitte Sie herzlich und inständig, in Ihrer Erzählung an mich fortzufahren. Sie retten dadurch Vieles, was ohne Ihre Mitteilungen verloren ginge. Und natürlich ist alles, was gerade die letzte Zeit Benjamins angeht, also Paris 38–40, von besonderem Gewicht.«91

Morgenstern hatte Walter Benjamin Mitte der zwanziger Jahre in Wien durch Theodor Wiesengrund-Adorno kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich Ende der dreißiger Jahre wieder, als beide Emigranten in Paris waren. Dort hatte Morgenstern sich, wie er am 21. Dezember 1972 an Gershom Scholem schreibt, mit Benjamin angefreundet.92 Diese Freundschaft wurde noch vertieft, als sich die beiden nach Morgensterns Flucht aus dem Internierungslager in Marseille wiederbegegneten. Die Freundschaft war freilich nur von kurzer Dauer. Nur zwei Monate nach Morgensterns Ankunft in Marseille Ende Juli 1940 beging Benjamin Selbstmord.

Der zweite Komplex der ›Briefberichte‹ befaßt sich mit Morgensterns Erinnerungen an Robert Musil. Die fünf Briefe aus den Jahren 1973/74 entstanden auf Bitten des deutschen Journalisten und Schriftstellers Karl Corino, der zahlreiche Werke über Robert Musil veröffentlicht hat und sich Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Recherchen für seine Studien zu Robert Musils Vereinigungen an Morgenstern gewandt haben dürfte.93

Wie eng diese ›Briefberichte‹ mit den Erinnerungsbänden an Alban Berg und Joseph Roth zusammenhängen, zeigt der erste und zugleich längste der fünf Briefe an Karl Corino.94 Morgenstern schildert hier, wie er Robert Musil im Jahr 1922 beim Nachmittagstee im Hause des ungarischen Schriftstellers Béla Balázs persönlich kennengelernt hat. Morgenstern und Musil kannten sich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa zweieinhalb Jahre vom Sehen, da beide häufig im Café Herrenhof verkehrten. An jenem Nachmittag bei Bela Balázs begegnete Morgenstern nicht nur Robert Musil zum ersten Mal persönlich, sondern auch dem ungarischen Literaturkritiker Georg Lukács. Zu viert debattierten sie stundenlang über Literatur. Morgenstern schildert diese Debatte nicht nur in besagtem Brief vom November 1973 sondern auch in den Erinnerungen an Alban Berg. Dort erscheint diese Episode in verkürzter und modifizierter Form im Kapitel ›Kaffeeklatsch unter Nachbarn‹.95

Das letzte Exemplar im Komplex der ›Briefberichte‹ ist einem Brief entnommen, den Morgenstern im April 1975 an den Ernst-Weiß-Forscher Peter Engel geschrieben hat. Engel hatte sich zuvor seinerseits mit einer brieflichen Anfrage an Morgenstern gewandt. Morgenstern gibt hier Auskunft über sein Verhältnis zu Ernst Weiß, den er, wie er schreibt, durch Stefan Zweig in Wien kennengelernt hatte und dem er erst im Pariser Exil wiederbegegnet war. Morgensterns Beziehung zu Ernst Weiß war zunächst noch recht reserviert, da Weiß anfänglich Vorbehalte gegenüber Morgensterns Sympathie für Kafka hegte. Weiß hatte offensichtlich schlechte Erfahrungen im Umgang mit Franz Kafka gemacht und nahm Morgenstern dessen unbedingtes Eintreten für Kafka und dessen Werk übel. Nachdem dieses Mißverhältnis aus dem Weg geräumt war, sahen sich Weiß und Morgenstern bis zu dessen Internierung im Mai 1940 fast täglich im Hôtel de la Poste. Morgensterns Brief wurde 1975 in den ›Weiß-Blättern‹, deren Herausgeber Peter Engel zu jener Zeit war, unter dem Titel Erinnerungen an Ernst Weiß veröffentlicht. Darüber hinaus fand er in den von Peter Engel herausgegebenen Essay-Band über Ernst Weiß Eingang.96

Diese insgesamt neunzehn Briefe fügen sich nahtlos in den Komplex der Erinnerungsbände ein und sind wie diese stark autobiographischen Charakters. Sie vervollständigen und ergänzen aber nicht nur die Schilderungen der Bände über Alban Berg und Joseph Roth, sondern bestätigen auch die Richtigkeit der vorgenommenen Zuordnung des Romanberichts Flucht in Frankreich zum Komplex der ›autobiographischen Schriften‹. Vor allem aus den ›Briefberichten‹ über die Zeit mit Walter Benjamin in Marseille erfährt der Leser wertvolle Details über Morgensterns Zeit in französischer Internierungshaft sowie Einzelheiten über seine Flucht aus dem Lager von Audièrne, die eine wichtige Ergänzung zum Romanbericht Flucht in Frankreich darstellen. Nach der erfolgreichen Flucht aus dem Lager von Audièrne begegnete er Walter Benjamin in Marseille ›auf der Straße‹, wie er in oben zitiertem Brief an Gershom Scholem schreibt.97 Bis zu dessen Selbstmord im September 1940 traf Morgenstern regelmäßig mit Benjamin zusammen. Neben Gesprächen, die Morgenstern und Benjamin über ihre aktuelle Lage als Flüchtlinge in Marseille führten, erzählte Morgenstern dem Freund häufig Anekdoten über das Leben im Internierungslager. In den Mitlagerinsassen, die Morgenstern Benjamin gegenüber erwähnt, sind eindeutig Figuren aus seinem Romanbericht Flucht in Frankreich zu erkennen. Daneben läßt Morgenstern in die Berichte immer wieder auch Begebenheiten aus der Vorkriegszeit einfließen – aus den Jahren des Pariser Exils wie auch aus seiner Wiener Zeit. Diese Episoden wiederum komplettieren die in den Erinnerungen an Alban Berg und Joseph Roth versammelten Anekdoten und Darstellungen.

Zum Abschluß dieses einleitenden Kapitels, das den Leser mit Morgensterns Leben und Werk bekannt machen sollte, sei der Vollständigkeit halber noch die bereits existierende Forschungsliteratur vorgestellt, wenn diese auch bislang noch nicht sehr umfangreich ist. Alfred Hoelzels im Sammelband Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933 veröffentlichter Artikel über Morgenstern ist in diesem Zusammenhang bereits erwähnt worden. Daneben entstanden Ende der neunziger Jahre an der Universität Wien die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über Soma Morgenstern und dessen Werk als Reaktion auf die seit 1994 erscheinende Morgenstern-Werkausgabe. Irmgard Anglmayers Diplomarbeit aus dem Jahr 1997 trägt den Titel Soma Morgenstern im Exil. Sie versteht sich als »erste umfangreiche literatur- und sozialgeschichtliche Darstellung der Exiljahre Soma Morgensterns zwischen 1938 und 1976.«98 In diesem Zusammenhang geht es der Autorin in erster Linie darum, »produktionsästhetisch relevante Faktoren in Morgensterns Schaffen aufzuzeigen und seine Rezeptions- und Wirkungsmöglichkeiten zu analysieren.«99 Eine inhaltliche Werkanalyse tritt hier zugunsten des sozialgeschichtlichen Aspektes in den Hintergrund.

1998 reichte Raphaela Kitzmantel ihre Diplomarbeit an der Universität Wien ein, die sich primär mit Morgensterns Erstlingsroman Der Sohn des verlorenen Sohnes auseinandersetzt.100 Im Jahr 2001 legte sie mit ihrer Dissertation Soma Morgenstern. Leben und Schreiben im Schatten der Geschichte die erste umfassende Biographie über Morgenstern vor.101 Raphaela Kitzmantel geht sehr viel detaillierter, als es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung möglich war, der Frage nach: Wer war Soma Morgenstern? Sie folgt nicht nur den einzelnen Stationen von Morgensterns Lebensweg, sondern geht auch ausführlich auf das historische und kulturelle Umfeld von Morgensterns literarischen Arbeiten ein.

Im Jahr 2000 veröffentlichte der amerikanische Germanist Robert Weigel unter dem Titel Zerfall und Aufbruch seine Untersuchungen zur österreichischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert. In diesem Band ist je ein Kapitel Morgensterns Roman-Trilogie Funken im Abgrund und dem Roman Die Blutsäule gewidmet.102 Robert Weigel, der an der Auburn University in Alabama als Professor für deutsche Sprache und Literatur tätig ist, war es auch, der im März 2001 ein internationales Symposium anläßlich Morgensterns fünfundzwanzigsten Todesjahres organisierte. Eine Auswahl der auf diesem Symposium, das vom 22. bis 24. März 2001 an der Auburn University stattgefunden hat, von internationalen Wissenschaftlern gehaltenen Vorträge wurde in dem Band Soma Morgensterns verlorene Welt – Kritische Beiträge zu seinem Werk veröffentlicht, der im Juni 2002 in der Reihe ›New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft‹ bei Peter Lang erschienen ist. Dies ist die jüngste Publikation, die sich mit Morgensterns Werk kritisch und wissenschaftlich auseinandersetzt – und die bislang einzige dieser Art. Robert Weigel formuliert im Vorwort des Bandes die Hoffnung, die dort versammelten Beiträge »mögen eine erste umfassende, würdigende und gleichsam kritische Zusammenschau des Morgensternschen Œuvres vermitteln«103.

Auffallend ist allerdings, daß auch hier wieder eine Gewichtung zugunsten Morgensterns Romanschaffen, vor allem zugunsten der Roman-Trilogie stattfindet. Allein vier der insgesamt zwölf Beiträge, ein Drittel des Bandes, sind der Trilogie Funken im Abgrund gewidmet, den Kindheitserinnerungen In einer anderen Zeit und den Erinnerungen an Alban Berg hingegen nur jeweils ein einziger. Es verwundert vor allem, daß Morgensterns Erinnerungen an Joseph Roth hier so gut wie keine Berücksichtigung finden. Sie werden wenn überhaupt nur am Rande erwähnt und nicht in einem eigenständigen Beitrag behandelt, dabei waren es eben diese Erinnerungen, die im Jahr 1994 als erster Band der Morgenstern-Werkausgabe erschienen sind und die Morgensterns ›Auferstehung‹ in der deutschsprachigen Literaturlandschaft eingeleitet haben. Selbst wenn es sich hier nur um eine Auswahl von Vorträgen handelt, die auf dem Symposium gehalten wurden, kann von einer »umfassenden […] Zusammenschau des Morgensternschen Œuvres« nicht die Rede sein.

Abschließend sind an dieser Stelle noch eine Reihe zum Teil recht ausführlicher und umfangreicher Rezensionen in der Tagespresse zu erwähnen, die als Reaktion auf das Erscheinen der einzelnen Bände der Werkausgabe veröffentlicht wurden. Die Artikel werden im einzelnen im Literaturverzeichnis im Schlußteil dieser Arbeit aufgeführt.104 Es handelt sich hierbei allerdings nur um eine Auswahl von Artikeln, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Schwerpunktmäßig wurden vor allem Rezensionen aufgeführt, die sich mit den vier Bänden der Morgenstern-Werkausgabe befassen, die Morgensterns autobiographisches Werk repräsentieren und die den Hauptgegenstand dieser Untersuchung darstellen.

Bevor in Kapitel 4 Morgensterns ›autobiographische Schriften‹ als ein Beispiel exilliterarischer Produktion ins Zentrum der Untersuchung rücken, soll im folgenden Kapitel zunächst die literaturwissenschaftliche Basis erläutert werden, auf der die vorliegenden Ausführungen gründen: der Bereich der Exil-Forschung. Vor dem historischen und literaturtheoretischen Hintergrund der sogenannten Exilliteratur – namentlich jener Literatur, die während oder in unmittelbarer Folge der nationalsozialistischen Herrschaft verfaßt worden ist und zu deren Vertretern auch Morgenstern gehört – wird insbesondere die gattungsspezifische Erscheinungsform der Exil-Autobiographie vorgestellt.