Seewölfe Paket 27

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7.

Zuerst war da ein leises feines Knistern zu hören. Es ertönte von weiter oben, war aber noch nicht zu definieren. Es hörte sich an, als würden Büsche niedergewalzt.

Aus dem Knistern wurde ein Knacken, ein leises Krachen und schließlich ein Rumpeln.

Der Profos, der immer noch das dünne Seil in der Hand hielt, blickte nach oben. Auch Dan und Ferris sahen hoch, neugierig anfangs, doch dann tödlich entsetzt.

Von oben rollte ein etwa tonnenschweres Monstrum durch die Rinne. Es war eine riesige Walze aus Holz, die die Rinne bis zu den Seitenwällen ausfüllte. Die große Walze war mit mehr als armlangen hölzernen Stacheln gespickt. Sie wirkte wie ein riesiger Seeigel. Spitz und ungemein scharf sahen die Stacheln aus, auf denen sich das hölzerne Monstrum fortbewegte. Dem Gesetz der Schwerkraft folgend, bewegte es sich talwärts durch die Rinne, wobei es immer schneller wurde.

Das Rumpeln wurde lauter und bedrohlicher. Gleichzeitig erklang auch wieder der nervtötende Ton der Muscheltrompete als höllische Musik zu dem rollenden Stachelkörper.

Berührte das Monstrum Büsche oder Pflanzen, dann wurden sie erbarmungslos niedergewalzt und von den spitzen Stacheln durchbohrt.

Und das Ding rollte und rollte, rumpelnd und alles zermalmend rückte es unaufhörlich näher.

„Mein Gott“, sagte der Profos entsetzt. Mit großen Augen starrte er auf das monströse Stachelding. In kürzester Frist würde es sie alle drei überrollen.

Gehetzt sahen sie sich nach einem Fluchtweg um, doch es gab keinen. An den Stacheln gelangten sie nicht vorbei, das war unmöglich, denn die Walze füllte die Rinne restlos aus und ließ keine Zwischenräume übrig.

Nach rechts oder links konnten sie ebenfalls nicht ausweichen. Da gab es nur hohe glatte Wälle aus Basaltgestein, die nicht zu erklimmen waren.

Und das Ding aufhalten? Das war ebenfalls ausgeschlossen. Das Gewicht des rumpelnden Ungeheuers war zu schwer, und da waren die scharfen Stacheln, mehr als hundert an der Zahl, mit denen der Körper über und über gespickt war.

Gehetzt sahen sie sich um. Es war nicht leicht angesichts der tödlichen Bedrohung die Nerven zu behalten.

„Eine wahrhaft teuflische Falle“, sagte Dan. Die gesunde Bräune seines Gesichtes war einer fahlen Blässe gewichen.

„Zurück!“ schrie er. „Zurück nach unten! Schnell, beeilt euch!“

Lange Zeit zum Überlegen blieb nicht mehr, zumal der schwere Körper mit jedem Yard schneller wurde. Er begann jetzt schon zu hüpfen und nahm dadurch an Geschwindigkeit zu.

Carberry sah sich im Geist bereits von diesem Ding überrollt. Sie konnten rennen, wie sie wollten, die Walze würde schneller sein, sie aufspießen, mit sich schleppen, wobei sich die hölzernen Dornen bei jeder Umdrehung fester in ihre Körper bohren würden. Bis die Walze unten anlangte, waren sie nur noch rohe Fleischklumpen.

Im Innenhof der Festung hatte man das Rumpeln ebenfalls vernommen und dann die Walze gesehen, die sich wie ein monströses Ungeheuer immer schneller durch die Rinne bewegte.

Niemand konnte den drei Arwenacks helfen.

Hasard erkannte, daß sie wie gelähmt dastanden und nicht wußten, wie sie der Gefahr entrinnen sollten. Dann hörte er Dan O’Flynns wilden Schrei.

„Hinunter mit euch!“ brüllte Hasard, so laut er konnte. „Verdammt, bleibt nicht stehen! Lauft um euer Leben!“

Fassungslos und entsetzt sahen die anderen, wie Leben in die drei Gestalten kam. Carberry löste sich aus seiner Erstarrung. Ferris Tucker drehte sich um und raste los. Auch Dan O’Flynn setzte sich in Bewegung.

Es ging buchstäblich um Sekunden, in denen die Männer um ihr Leben liefen. Hinter ihnen bewegte sich mit nervtötendem Krach der riesige Seeigel. Er hüpfte auf und nieder, wenn die Stacheln über Unebenheiten polterten. Der Krach der rollenden Walze wurde fast unerträglich.

Der Profos schwitzte Blut und Wasser. Er vergaß vor Angst sogar das Fluchen. Auch er hatte sich umgedreht und das Genick eingezogen. Sein Gesicht war verzerrt. Schweißbäche rannen ihm in die Augen.

Er lief und lief und bewegte sich mit abenteuerlichem und halsbrecherischem Tempo durch die Rinne nach unten.

Ferris Tucker glitt aus und überschlug sich. Die anderen sandten ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, als das Ding direkt hinter Carberry herrollte.

Ferris überschlug sich noch ein paarmal. Er spürte die Schmerzen nicht, er versuchte nur, wieder auf die Beine zu kommen, was ihm auch gelang. Dan O’Flynn war dicht neben ihm. Auch ihm rann der Schweiß in die Augen. Seine Lungen japsten nach Luft, er war völlig ausgepumpt und erschöpft.

Kurz darauf geriet der Profos ins Straucheln. Er konnte sein wahnsinniges Tempo nicht mehr abbremsen, überschlug sich ebenfalls und schlitterte durch die Rinne. Die hüpfende und tanzende Todeswalze befand sich höchstens noch zehn Yards hinter ihm. Sie tat einen mächtigen Satz. Es krachte und bebte, als die Rinne erschüttert wurde. Einer der spitzen Dorne brach berstend ab und flog wie ein Pfeil an die Mauer.

Hasard spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er war zur absoluten Hilflosigkeit verdammt und konnte keinen Finger rühren.

Als Carberry liegenblieb, schloß er krampfhaft die Augen, um nicht mitansehen zu müssen, wie der Profos von der primitiven Maschine getötet wurde.

Carberry wollte gerade wieder hochschnellen, da war das Monstrum heran. Er konnte nichts mehr tun, gar nichts. Er warf sich platt auf den Boden, verkrallte die Hände im Gestein und riß den Mund auf, als sich die Stacheln auf ihn zubewegten. Er sah sie als riesengroße Speere, als eine einzige Masse scharfgeschliffener Speerspitzen, die ihn hundertfach durchbohren würden.

Da gab der Profos auf – zum ersten Male in seinem Leben. Er konnte nichts mehr tun, nicht mehr seinen Gegner packen, er konnte nur noch auf seinen Tod warten – und der würde fürchterlich sein.

Hart stieß er die Luft aus und wünschte sich, daß er in den Boden kriechen und sich verstecken könnte.

Die Dornenwalze geriet wieder über eine Unebenheit. Ihr Tempo war jetzt so schnell geworden, daß wieder einige Stacheln abbrachen. In diesem Augenblick war sie über dem Profos.

Carberry spürte einen wilden grellen Schmerz in der linken Schulter. Über ihm war ein Geräusch, als ginge die ganze Welt in Bersten und Krachen unter. Kreischend bewegte sich das Ungeheuer weiter und tat den nächsten Satz, der es fast yardhoch in die Luft hob. Unaufhaltsam rollte die tödliche Lawine weiter.

Als Carberry – mit den Nerven total am Ende – aufblickte, sah er das Monstrum weiterrollen. Es jagte jetzt Ferris und Dan, die in wilden Sprüngen durch die Rinne hetzten.

Von unten hörte er den Seewolf etwas rufen, aber er nahm es nicht wahr. Er verstand nicht, daß er noch lebte, daß ihn das Ding nicht durchbohrt und mitgeschleift hatte. Dann sah er, daß ihm von der linken Schulter Blut bis auf die linke Hand lief.

Erst da begriff er vage, daß ihm der kurze Satz der Walze das Leben gerettet hatte. Nur einer der Stacheln hatte ihn erwischt.

Er erhob sich in sitzende Stellung und sah wie durch einen dichten Schleier Gestalten rennen und brüllen. Unter ihm hatten sich die Arwenacks in einem dichten Halbkreis versammelt, und er hörte immer wieder Hasards Stimme, die jetzt deutlicher klang.

„Springt durch die Luft, sobald ihr den Rand erreicht!“

Er erhob sich taumelnd und sah zu, was weiter geschah. Er merkte nicht einmal, daß er am ganzen Körper zitterte. Er spürte auch den anfangs brennenden Schmerz nicht mehr. Er betete nur noch mit zuckenden Lippen, daß Dan und Ferris es schafften. Es waren nur noch ein paar lausige Yards, ein paar verdammte Schritte, die über Leben und Tod entschieden. Wenn jetzt einer von ihnen strauchelte …

Dann sah er mit großer Erleichterung, daß Dan mit einem wilden Satz über den Rand der Rampe sprang. Er breitete die Arme aus und segelte ins Nichts, jedenfalls schien das so.

Auch Ferris sprang in blinder Panik mit ausgebreiteten Armen. Er sauste wie eine Kanonenkugel durch die Luft.

Die beiden Männer rasten mitten in ihre Kameraden hinein, die sie auffingen, zur Seite stießen und dann nach allen Seiten davonstoben. Wie brüllende und tobende Derwische flitzten sie nach links und rechts davon und warfen sich in Deckung.

Die Stachelwalze donnerte mit mörderischer Wucht an den aufragenden und nach innen gewölbten Rand der Rampe. Dort wurde sie abrupt aufgehalten.

Ein Stoß erfolgte, der das ganze Insellabyrinth schwanken und beben ließ. Dann flogen die Stacheln nach allen Seiten davon. Die Arwenacks wurden mit einem Schauer aus Holzteilchen überregnet. Es knirschte noch einmal heftig, ein letzter Ruck ging durch die Walze, die jetzt mit zerborstenen Stacheln am Rand lag.

Danach herrschte eine unwirkliche geisterhafte Stille. Hasards Mannen wirkten wie erstarrt.

Als der Profos unten anlangte, herrschte immer noch Schweigen. Sie sahen ihn an wie einen, der von den Toten auferstanden war, und sie konnten es immer noch nicht glauben.

„Verdammter Scheiß“, keuchte Carberry. „Das war mal ein feines Spielchen. Wirklich aufregend und abwechslungsreich.“ Er stand da und pumpte Luft in seine Lungen, während der Kutscher sich ihm näherte und seine Schulter betrachtete. Auch ihm stand das blanke Entsetzen noch im Gesicht.

Hasard schloß sekundenlang die Augen, um das höllische Bild zu verdrängen. Dann holte er tief Luft.

„Mein Gott, haben wir ein Glück gehabt“, flüsterte er.

In die Arwenacks kam langsam wieder Leben. Sie hatten den Schreck einigermaßen überwunden.

 

„Das muß sich der Satan selbst ausgedacht haben“, sagte Dan. „Ein teuflisches Ding. Da lag so verlockend ein Tau, und es hatte den Anschein, als sei es zur Erleichterung angebracht. Aber als Ed daran zog, erschien der Teufel persönlich.“

„Vielleicht hab ich den Satan am Schwanz gepackt“, knurrte Carberry. „Wenn ich das Rübenschwein jemals erwische, das die unfreundliche Seegurke da oben angebracht hat, weiß Gott, dem drehe ich den Hals um, daß er für den Rest seines Lebens rückwärts läuft.“

„Du hast mehr als Glück gehabt“, sagte der Kutscher. „Das ist zwar eine hundsgemeine Verletzung, aber nur eine Fleischwunde. Ich lege dir jetzt einen Hemdstreifen darüber und binde ihn fest. Nachher werde ich die Wunde säubern und richtig verbinden.“

„Pah“, sagte Carberry abwinkend. „Das juckt mich überhaupt nicht. Das ist nicht der Rede wert.“ Er schob den Kutscher lässig beiseite.

„Kann ja sein, daß die Holzstacheln vergiftet sind“, sagte der Kutscher sehr höflich, weil der Profos alles bagatellisierte. Er glaubte zwar nicht daran, denn die Stacheln allein reichten aus, um zu töten.

„Oh, dann juckt es mich vielleicht doch“, sagte Carberry kleinlaut.

„Wir kehren an Bord zurück“, entschied Hasard. „Uns allen ist der Schreck mächtig in die Knochen gefahren. Wir können ein wenig ausruhen und bei der nächsten Flut noch einmal nachsehen.“

Doch die Überraschung war damit noch nicht beendet. Die Muscheltrompete erklang wieder, und dann glaubten sie auch eine Stimme zu hören, ein Stimmchen eher, das zart und klagend klang. Es schien direkt unter ihren Füßen zu sein.

8.

Sie sahen sich ungläubig an, als das zarte Rufen wieder erklang.

„Es muß in diesem Schacht sein.“ Der Kutscher deutete nach unten, wo sich im Boden die steingefaßten Schächte befanden.

Dan und Ferris standen da und hatten die Hände ins Kreuz gepreßt. Der Aufprall in der Rinne und das mehrmalige Überschlagen hatten Hautabschürfungen hinterlassen. Alle Knochen taten ihnen weh.

„Ich sehe einmal nach“, sagte Hasard entschlossen.

Er ließ sich die Fackel geben und zwängte sich mühsam in den engen Schacht, bis er festen Grund verspürte. Von oben waren jetzt nur noch seine schwarzen Haare mit den silberfarbenen Schläfen zu sehen.

Der Seewolf bückte sich und hielt die Fackel vor sich. Sie versengte ihm fast das Gesicht, so eng war es.

Vor ihm befand sich ein waagerechter Gang aus Basalt, der etwa zehn Yards weit in das Gestein getrieben worden war. Der Gang war zwei Yards breit, aber so niedrig, daß er nur auf den Knien weiterrutschen konnte. Von oben hörte er die Stimmen verzerrt klingen. Dann war unmittelbar der Ton der Muscheltrompete zu hören. Er war viel lauter als vorhin und erklang aus der Richtung, wo eine schwere Steinplatte den Gang jählings abschloß. Dahinter schien es einen winzigen Raum oder ein Gewölbe zu geben.

„Hören Sie mich?“ vernahm er zu seinem Erstaunen eine Stimme, die Spanisch mit starkem Akzent sprach. „Ich befinde mich hinter diesem Felsblock, aber ich kann ihn nicht bewegen.“

Hasard schluckte, als er die Frauenstimme hörte. Daß sie Spanisch sprach, fiel ihm im ersten Moment gar nicht auf.

„Ja, ich höre Sie“, antwortete er verblüfft. „Warten Sie, ich werde versuchen, den Stein zu bewegen.“

Er war immer noch völlig überrascht und fand keine Erklärung für die Anwesenheit einer Frau. Dafür hörte er die Stimme wispern.

„Ich bin Raia“, sagte die Unbekannte. „Ich wollte Sie warnen vor dem Fluch der Geister von Nan Madol.“

Hasards Verblüffung wuchs immer mehr. Er wollte jetzt aber keine weiteren Fragen stellen. Das konnte alles bei Tageslicht geklärt werden. Aber was hieß hier: der Fluch der Geister von Nan Madol?

Kopfschüttelnd ging er daran, die schwere Platte beiseite zu schieben. Die Fackel hatte er auf den Boden gelegt und arbeitete verbissen daran, den Stein aus dem Weg zu räumen.

„Mit wem redest du da, Sir?“ hörte er die besorgte Stimme des Kutschers wie aus unendlich weiter Ferne.

Hasard lächelte knapp. Seine Verblüffung hatte er immer noch nicht ganz überwunden.

„Mit einer Frau, Kutscher!“ rief er gelassen zurück, als sei das die natürlichste Sache der Welt.

Den Arwenacks zog es nach dieser Antwort fast die Stiefel aus. Der Kutscher starrte in den Schacht und fragte sich selbst, ob er wohl noch alle beisammen hätte.

„Ja, mit wem soll er sonst sprechen“, sagte der Profos. „Ist doch ganz natürlich, daß er mit einer Frau redet. Hier wimmelt es doch nur so von lieblichen Weiberchen.“

Der Kutscher schluckte betreten. Er kratzte sich hinterm Ohr und wußte keine Antwort. Aber er hörte Hasards Stimme erneut.

„Schickt noch einen Mann herunter, aber nur einen!“ rief er. Seine Stimme klang wie aus einem Grabgewölbe, und sie schien von allen Seiten gleichzeitig auf die Männer einzudringen.

„Sind denn da noch mehr Weiberchen?“ fragte der Profos anzüglich. „Dann stelle ich mich sofort zur Verfügung.“

„Du bist verletzt!“ fuhr ihn der Kutscher an.

„Du zum Glück nicht“, erwiderte Carberry trocken. Er schwang sich in den Schacht und war Augenblicke später verschwunden.

„Der ist nicht kleinzukriegen, der Lümmel“, knirschte der Kutscher. „Als ob er nicht endlich genug hätte.“

Inzwischen erreichte der Profos den Seewolf und hörte erstaunt und verblüfft, daß Hasard etwas sagte und aus der Wand ein dünnes zartes Stimmchen antwortete. Und das Stimmchen sprach auch noch Spanisch!

„Hier hält man eine Frau gefangen“, sagte Hasard. „Hilf mir mal, die Platte zur Seite zu wuchten.“

„Ja“, sagte Carberry tonlos. Mehr fiel ihm augenblicklich nicht ein.

Er drückte und zerrte an der Platte und schluckte aufgeregt. Dabei wurde er immer fuchtiger.

Dann hatten sie es endlich mit vereinten Kräften geschafft. Sie hievten die schwere Steinplatte zur Seite. Hasard leuchtete mit der Fackel in eine Art Höhle, die quadratische Form hatte. Auch sie war aus Basaltgestein. Ein Dutzend Leute hätten bequem darin Platz gehabt, ohne sich gegenseitig zu stoßen.

Das flackernde Licht fiel auf eine schwarzhaarige, anmutige und grazile Schönheit mit dunklen Augen, langen schwarzen Haaren, einer zierlichen Nase und einem lieblich geschwungenen Mund. Die Lady war in ein buntfarbiges Gewand gekleidet und wirkte zerbrechlich. Ihre Haut war fast bronzefarben, die schwarzen Augen blickten die beiden verblüfften Männer dankbar an.

Sie wirkte auch keineswegs befangen oder eingeschüchtert.

Der Profos glotzte, bis ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen und er sich von Hasard einen leichten Rippenstoß einhandelte. Erst dann räusperte er sich. Offenbar hatte er einen Seeigel verschluckt.

„Ich danke euch“, sagte die kleine Lady schlicht. „Ich habe eure Stimmen und eure Schritte schon lange gehört und immer wieder versucht, eure Aufmerksamkeit zu erregen. Hiermit habe ich gesungen“, erklärte sie lächelnd.

Auf ihrer Handfläche hielt sie Hasard eine Muscheltrompete entgegen.

„Wer seid ihr?“ wollte sie dann wissen. „Ihr seid keine Spanier, aber ihr sprecht trotzdem Spanisch.“

„Mir kommt langsam alles spanisch vor“, murmelte der Profos halblaut. Wieder rieb er sich verdattert das mächtige Kinn.

„Wir sind Engländer“, sagte Hasard und nannte ihre Namen. „Aber jetzt gehen wir erst mal nach oben. Erschrecken Sie nicht, Raia, wenn Sie gleich viele Männer sehen werden.“

„Ganz bestimmt nicht“, versicherte die Schöne selbstbewußt.

Als sie dann endlich oben war, schloß sie die Augen, als das grelle Sonnenlicht sie blendete.

Hasard führte sie abseits in den hohen Schatten der Ringmauer. Er mußte grinsen, als er die Gesichter seiner Mannen sah. So selten dämlich hatten sie kaum geguckt wie jetzt. Aber das war nur verständlich. Schließlich begegnete ihnen auf einer abgeschiedenen Insel so gut wie nie eine Frau – und eine wunderhübsche noch dazu.

Hasard wartete, bis sich Raia, wie sie sich nannte, wieder an die Helligkeit gewöhnt hatte. Das war in erstaunlich kurzer Zeit der Fall.

Ihr Blick fiel zuerst auf das Mordinstrument, das mit zersplitterten Stacheln dicht vor der Rampe lag. Dann musterte sie die Männer, die schweigend und etwas verlegen herumstanden.

„Haben die Geister einen von euch getötet?“ fragte sie.

„Nein, zum Glück nicht, aber fast wäre es geschehen.“

„Es ist der Fluch der Geister, der über Nan Madol liegt“, erklärte Raia. „Er trifft jeden Fremden, der in die Festung Nan Dowas eindringt, wo die Gebeine der Nahnmwarki ruhen.“

„Diese Insel heißt Nan Madol?“ vergewisserte sich Hasard. „Dann ist das hier eine Grabkammer?“ Er wies mit der Hand auf den dunklen Schacht, über dem die Basaltsäulen aufgetürmt waren.

„Ja. Niemand darf ihre Ruhe stören, sonst trifft ihn der Fluch.“

Hasard versuchte, sich ganz langsam einen Überblick zu verschaffen. Zuviel stürmte von einer Minute zur anderen auf sie ein.

„Wir haben diese Insel durch Zufall entdeckt und sind an Land gegangen“, sagte er. „Aber dieser Geisterfluch scheint doch wohl sehr realistisch von Menschen konstruiert worden zu sein.“

Sie nickte mehrmals mit ernstem Gesicht.

„Es gibt Leute, die wollen nicht, daß ein Fremder die Festung betritt. Er würde die Ruhe der Nahnmwarki stören. Der Fluch besteht darin, daß die große Walze sich löst und alle tötet. Es heißt dann, die Geister seien es gewesen.“

„Eine Art Kultstätte also.“

Sie nickte wieder sehr anmutig.

„Wer die große Walze wieder hochzieht und sie mit Stacheln versieht, weiß ich nicht. Es sind Männer von den anderen Inseln.“

„Die Männer haben Sie hierher gebracht. Wir sahen sie gestern, als sie die Insel verließen. Stimmt das?“

„Ich bin entführt worden“, erwiderte Raia. „Schon zum zweiten, Male. Man hat mich immer nach Nan Madol gebracht, weil dieser Ort gefürchtet wird und niemand ihn betritt.“

„Warum hat man Sie entführt?“

Ihr Lächeln wirkte ernst. Sie neigte den Kopf und sah Hasard in die eisblauen Augen.

„Solche Augenfarbe habe ich noch nie gesehen“, sagte sie lächelnd, aber immer noch mit unverkennbarem Ernst. Dann seufzte sie leise.

„Mein Vater, der große Papalagi und Häuptling Malahiwi, liegt seit Jahren in Fehde mit einem anderen Stamm. Sie wollen, daß der Große Häuptling die Gefangenen herausgibt. Aber er weigert sich, denn die Gefangenen sind Mörder. Deshalb hat man mich entführt, um ihn zu erpressen.“

„Dann – dann sind Sie eine Häuptlingstochter“, sagte Hasard verblüfft.

„Eine princesa, so sagen die Spanier. Meinen Vater nannten sie einen rey, und sie hatten Respekt vor ihm.“

„Ein König also“, sagte Hasard, „und eine Prinzessin. Aber was haben die Spanier damit zu tun?“

„Sie lebten bei uns lange Zeit, als ein Schiff vor den Inseln strandete. Es gab nur wenige Überlebende. Die meisten starben am Fieber.“

Jetzt war Hasard endlich klar, woher die Prinzessin die spanische Sprache kannte und beherrschte. Auf der Insel waren Dons gestrandet und von den Eingeborenen freundlich aufgenommen worden. Die Lösung des Rätsels war wiederum verblüffend einfach.

Er wußte jetzt auch, warum die Eingeborenen in ihrem Auslegerboot keine sonderliche Eile hatten, zu verschwinden. Sie waren sich ganz sicher, daß der Fluch von Nan Madol sie treffen würde, denn jeder Fremde war neugierig und würde die Rinne erkunden wollen. Wer das tat, dessen Schicksal war besiegelt. Die anderen würden schleunigst von der Insel verschwinden, aus Angst, daß weitere tödliche Fallen installiert waren.

„Das ist ja ein Ding“, sagte der Kutscher. „Jetzt haben wir eine Prinzessin befreit. Aber woher kommt sie?“

Raia drehte sich zu dem staunenden Kutscher um.

„Von der Insel Ponape“, sagte sie. „Sie ist nicht weit von hier entfernt. Man erreicht sie in einem guten halben Tag mit dem Schiff. Aber mein Vater weiß nicht, daß ich hier bin. Er hat auch damals nicht glauben wollen, daß man mich nach Nan Madol brachte.“

„Die Kerle hätten Sie verhungern und verdursten lassen“, meinte Hasard. „Das hätte zweifellos zum Krieg zwischen den Insulanern geführt.“

„Ja, ganz sicher. Der andere Häuptling heißt Kumuhala und ist ein gefährlicher Mann. Er ist ein erbitterter Feind meines Vaters.“

„Kennen Sie den Weg nach Ponape?“ fragte der Seewolf.

Wieder nickte sie, dann begann sie zu lächeln.

 

„Ja, ich kenne ihn. Würden Sie noch einmal in der Sprache sprechen, in der ihr euch vorhin unterhalten habt?“

Hasard begriff zuerst nicht und sah sie ratlos an. Dann fiel es ihm ein, und er nickte. Als er ein paar Worte in Englisch sprach, klatschte sie in die Hände und lachte.

„Das hört sich lustig an, das habe ich noch nie gehört. Wo liegt dieses Englisch?“

„Das Land heißt England. Es ist sehr weit entfernt und liegt noch höher im Norden als das spanische Land.“

Die liebliche Prinzessin dachte angestrengt nach, aber das waren für sie nur abstrakte Begriffe. Die gestrandeten Spanier hatten sich vermutlich auch nicht näher darüber ausgelassen.

Raia war sehr unbefangen und kannte keine Scheu. Sie war ein Kind der Südsee, und sie paßte sich auch sofort der neuen Situation an, obwohl sie eben noch in einem dunklen Verlies geschmachtet hatte. Für sie war das jetzt vorbei, und das fand sie weder verwunderlich noch erstaunlich. Es war eine Tatsache, die sie gelassen hinnahm.

„Wir werden Sie nach Ponape bringen“, versprach Hasard. „Und zwar so schnell wie möglich, damit Ihr Vater sich nicht zu sorgen braucht.“

„Der große Papalagi wird euch belohnen. Er wird sich freuen, mich wiederzusehen, und ihr werdet alle seine Gäste sein.“

„Wir wollen keine Belohnung“, wehrte Hasard ab. „Wenn uns der große Papalagi Trinkwasser und ein wenig Proviant überläßt, würden wir uns sehr freuen.“

„Es wird ein großes Fest werden“, schwärmte sie mit verträumten Blicken. „Alle werden daran teilhaben. Das ganze Dorf wird große Schweine bringen und sie in Bananenblättern backen. Ich freue mich auf das Fest.“

Sie war wirklich kein Kind von Traurigkeit, wie die Mannen staunend zur Kenntnis nahmen.

Hasard blickte zu der Grabkammer hinüber, hinter der die Gebeine der Herrscher aus dem Geschlecht der Nahnmwarki ruhten. Sein Blick blieb auf den Steintafeln hängen.

„Eine sehr merkwürdige Insel“, sagte er. „Man hat sie vermutlich künstlich auf einer Untiefe erbaut.“

„Die Insel der Chauteleurs“, erklärte sie. „Sie ist schon sehr alt, und es gibt viele Geschichten und Sagen über sie. Auf dem großen Wall da drüben befindet sich das Grab des Riesen Konat. Sein Körper ruht auf dem Land, aber seine Beine erstrecken sich bis zu den kleinen Inseln Laiap und Kapara, so groß ist er.“

Sie stand auf und deutete auf die Schächte im Boden.

„Das waren die Gefängnisse von Nan Dowas. Hier unten sperrte man früher die Gefangenen ein. Drüben, auf den Nachbarinseln Pahndauwas und Dowas Poh waren die Wachen stationiert. Auf der dritten Insel, die man Nan Molusei nennt, sieht man noch heute uralte Feuerstellen und schwarze Steine. Die Insel heißt auch Platz der Aschenhaufen.“

Hasard hörte staunend zu. So erfuhren die verdutzten Arwenacks immer mehr über diese seltsame Insel, die einstmals vor langer Zeit militärischen Zwecken gedient hatte.

„Was bedeutet die Inschrift auf den Grabplatten?“ fragte Hasard.

Auch darauf erhielten sie eine Antwort, die sie kaum mehr verblüffte.

Sie kannte die Inschrift auswendig und überletzte sie.

„Wer die heilige Ruhe der Herrscher aus dem Geschlecht der Nahnmwarki stört, den wird der Fluch der Geister von Nan Madol treffen, so sieht es dort geschrieben.“

„Das haben jene ausgenutzt, die Nan Madol als Kultstätte verehren“, sagte der Kutscher. „Und damit der Fluch auch recht wirksam wird, hat man eben ein bißchen nachgeholfen. Die Geister schicken die Stachelwalze los, und schon geht alles in Erfüllung.“

„So wird es wohl sein.“

„Dort drüben liegt noch eine Insel im Nebel“, erklärte Raia. „Es ist Konterek, wo man einst die Toten bestattet hat. Konterek ist tabu, und niemand darf die Insel betreten. Seit Jahrhunderten liegt ein unheimlicher Zauber auf ihr. Jeder, der auch nur einen Fuß an Land setzt, muß eines qualvollen Todes sterben.“

Hasard nickte verstehend. Wahrscheinlich gab es dort drüben ebenso teuflische Fallen wie hier.

Hasard verzichtete auch darauf, sich die Gruft der Nahnmwarki einmal genauer anzusehen. Nicht aus Angst, daß ein weiterer Fluch sie treffen würde, aber er wollte niemanden verletzen, schon gar nicht die Inselprinzessin, die das wohl mit einigem Unbehagen zur Kenntnis nehmen würde. Das wäre einer Entweihung gleichgekommen, und es wäre ohnehin nicht sehr ergiebig gewesen.

„Vor zwölf Monaten waren schon einmal Spanier hier“, berichtete Raia. „Sie kamen mit einem großen Schiff nach Ponape und segelten dann nach Nan Madol. Aber der spanische Kapitän, Señor Pedro Fernández de Quirós, verließ fluchtartig die Insel und kehrte nicht mehr zurück, denn es hatte ein paar Tote gegeben. Ihre Gebeine waren über Nacht plötzlich verschwunden.“

„Den Namen de Quirós habe ich schon einmal gehört“, sagte Don Juan, der sehr interessiert zugehört hatte. „Auch er war im Auftrag des Vizekönigs unterwegs. Demnach ist das nur ein Jahr her, seit er hier gelandet ist.“

„Dann sind wir also nicht die ersten“, meinte Hasard. „Aber das ist auch gleichgültig. Ich denke, wir brechen jetzt auf und segeln nach Ponape, wenn die Prinzessin den Kurs kennt.“

„Ich kenne ihn sehr genau“, versicherte die Schöne.

Kurz danach saßen sie wieder in den Booten.