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Lokale Ernährung

Weit über einschlägige Kreise hinaus dominieren in jüngerer Zeit lokalistische Positionen die Debatte über die Produktion, die Distribution und den Konsum von Lebensmitteln. Am einflussreichsten sind dabei zwei eng miteinander verwandte Tendenzen: Slow Food und der sogenannte Locavorismus, der die Beschränkung auf regionale Lebensmittel propagiert. Die Slow-Food-Bewe­gung geht in ihren Ursprüngen auf Mitte der 1980er Jahre zurück, als sich insbesondere in Italien Protest gegen das immer weitere Vordringen von Fast-Food-Ketten regte. Wie der Name schon nahelegt, steht Slow Food für all das, was es bei McDonald’s nicht gibt: regionale Lebensmittel, traditionelle Rezepturen, langsamen Genuss und eine sachkundige Zubereitung.121 Es ist eine Ernährung, die die Merkmale eines entschleunigten Lebensstils verkörpert und verinnerlicht, gegen die Wechselfälle des schnelllebigen Kapitalismus, und zwar durch eine Rückkehr zum Überlieferten, zu einer Kultur traditioneller Zubereitungsarten und des Genießens.122 Allerding räumen selbst Verfechter eines solchen Lebensstils gewisse Schwierigkeiten ein: »Die wenigsten von uns haben genügend Zeit, Geld, Energie oder Disziplin, um sich zum Idealbild eines Slow-Food-Essers zu entwickeln.«123

Ohne in Rechnung zu stellen, wie gesellschaftliche, politische und ökonomische Zwänge unseren Alltag prägen und den Griff zum Fertiggericht eher nahelegen als einen entschleunigten Lebensstil, bleibt Slow Food letztendlich eine Spielart ethischen Konsums mit einem Schuss Hedonismus. Dabei steht außer Frage, dass eine gut zubereitete Mahlzeit ein Vergnügen sein kann. Das aufmerksame Genießen verwandelt eine bloße Notwendigkeit in eine soziale und ästhetische Erfahrung. Es gibt indes strukturelle Gründe, warum wir solches nicht öfter tun – Gründe, die nicht einem individuellen moralischen Unvermögen geschuldet sind. So verhindert in vielen Fällen der Arbeitsalltag, dass Mahlzeiten den Vorstellungen der Slow-Food-Bewegung entsprechend zubereitet und langsam genossen werden können. Nicht immer setzt Slow Food Geld voraus, doch Zeit ist in jedem Fall erforderlich. Gerade für Menschen, die mehrere Jobs haben, um mit ihren Familien über die Runden zu kommen, ist Zeit kostbar. Problematisch ist Slow Food überdies im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vor dem Hintergrund patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen, in denen der größte Teil der mit der Zubereitung von Mahlzeiten verbundenen Tätigkeiten immer noch als typische Frauenarbeit angesehen wird.124 Fast Food oder Fertiggerichte sind vielleicht weniger »gesund«, doch ihre Popularität verweist darauf, dass Frauen sich von einem Teil der täglichen Mühsal befreien können, die mit der Familienernährung verbunden ist.125 Die auf den ersten Blick recht unschuldig erscheinende Slow-Food-Bewegung scheitert so, wie viele andere Varianten eines ethischen Konsums auch, wenn es darum geht, die Perspektive zu erweitern und die eigenen Vorstellungen im umfassenderen sozialen Kontext des Raubtierkapitalismus zu sehen.

Den Vorstellungen der Slow-Food-Bewegung nahe stehen Locavorismus und die sogenannte »100-Meilen-Diät«, zwei Ansätze, die beide die Verwendung regionaler Lebensmittel propagieren. Der Locavorismus geht davon aus, dass eine Ernährung mit Produkten aus der Region nicht nur wahrscheinlich gesünder, sondern auch unverzichtbar ist, um Kohlenstoffemissionen und andere negative Auswirkungen auf die Umwelt zu reduzieren. Der Rückgriff auf regionale Lebensmittel wird dementsprechend als eine Antwort auf globale Probleme verstanden und darüber hinaus als eine Möglichkeit, die Entfremdung von Lebensmitteln im Kapitalismus zu überwinden. Wenn wir uns mit Produkten ernähren, die aus der Region stammen und dort auch verarbeitet wurden, so die Logik, sind wir imstande, wieder eine Beziehung zu diesen Nahrungsmitteln herzustellen und sie dem toten Walten eines Amok laufenden Kapitalismus zu entreißen.126

Verglichen mit der Slow-Food-Bewegung positioniert sich der Locavorismus somit eindeutiger, und auch politisch, gegen die Globalisierung. Er rekurriert dabei auf eine Reihe folkpolitischer Vorstellungen: vor allem auf die Überlegenheit des Lokalen als Ort und Einsatz des politischen Handelns, ferner auf den Vorrang des Lokalen gegenüber dem Globalen, des Unmittelbaren gegenüber dem Vermittelten oder auch des Einfachen gegenüber dem Komplexen.

Derartige Vorstellungen verkürzen häufig komplizierte Umweltzusammenhänge auf Fragen einer individuellen Ethik. Eine der ernsten (und in Wirklichkeit gesellschaftlichen) Krisen unserer Zeit wird so privatisiert. Diese privatisierte Umweltethik findet dann im Lebensmittel-Loka­lismus ihr politisches Betätigungsfeld, insbesondere in der moralischen Aufwertung von Produkten aus der Region – was auch deren höhere Preise rechtfertigt. Ökologisch motivierte Argumente (beispielsweise der Hinweis auf einen niedrigeren Energieaufwand, wenn Lebensmittel nur kurze Strecken transportiert werden) verbinden sich hier mit Klassenfragen (verstärkt durch ein Marketing, das die Identifikation mit organischen Lebensmitteln fördert). Darüber hinaus werden komplizierte Zusammenhänge in dürftigen Schlagworten verdichtet. So erscheint etwa ein Konzept wie »Food Miles« erst einmal vernünftig, wenn damit in der Absicht, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren, auf die Entfernung hingewiesen wird, die Nahrungsmittel zurücklegen. Problematisch wird es, wenn ethisches Handeln sich, wie es oft geschieht, ausschließlich an einem solchen Index orientiert. Denn wie eine Untersuchung des britischen Landwirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2005 feststellt, hat der Transport von Lebensmitteln zwar erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt, doch eine isolierte Kennziffer wie Food Miles ist ungeeignet, um Aussagen über Nachhaltigkeit zu treffen.127 Zudem hebt die Konzentration auf den Transportweg in der Nahrungsmittelproduktion einen Aspekt hervor, der bezogen auf die Kohlenstoffemission insgesamt von nur untergeordneter Bedeutung ist. Wenn indes »Small is beautiful« die Perspektive bestimmt, gerät allzu leicht aus dem Blick, dass der notwendige Energieaufwand, um Nahrungsmittel lokal oder regional zu produzieren, den der Produktion unter günstigeren klimatischen Bedingungen samt Transport leicht übersteigen kann.128 Selbst um den reinen Transportanteil am Energieaufwand zu beziffern, sind Food Miles ein schlechter Parameter. Nur ein relativ geringer Prozentsatz der Food Miles entfällt beispielsweise auf Lebensmittel, die per Luftfracht transportiert werden, doch ist deren Anteil an den CO2-Emissionen der Nahrungsmittelbranche insgesamt disproportional hoch.129 Zweifellos ist es wichtig zu bedenken, wie viel Energie aufgewendet werden muss, damit das Essen auf unseren Tisch kommt, doch lässt sich dies nicht durch die simple Berechnung von Transportwegen oder in Slogans wie »Bestes aus Ihrer Region« fassen. Tatsächlich ist es mitunter weitaus ineffizienter und aufwändiger, lokal und regional Nahrungsmittel zu produzieren, als es das an anderen Orten des Globus wäre. Wichtiger in diesem Zusammenhang aber sind Fragen wie die nach den Prioritäten, die wir bei der Nahrungsmittelproduktion setzen, nach der Kontrolle über diese Produktion, danach, wer diese Nahrungsmittel genießen kann – und zu welchen Kosten.

Lokalistische Nahrungspolitik reduziert die Komplexität der Verhältnisse auf eine einfache binäre Logik: global/schlecht gegen lokal/gut. Doch bedarf es eines weniger simplifizierenden Blicks auf komplexe Probleme. Notwendig ist eine Betrachtungsweise, die die weltweite Nahrungsmittelproduktion in ihrer Gesamtheit in den Blick nimmt, statt nur auf intuitive Schlagworte wie Food Miles zu setzen oder »organische« und »nicht-organi­schen« Lebensmittel einander gegenüberzustellen. Vermutlich wäre die weltweite Nahrungsmittelproduktion idealerweise ein Zusammenwirken lokaler Initiativen, industrieller Landwirtschaft und globaler Distributionsstrukturen. Und ebenso steht zu vermuten, dass es außerhalb der Möglichkeiten einer oder eines Einzelnen liegt herauszufinden, wie sich Nahrungsmittel am besten produzieren und verteilen lassen, denn dazu bedarf es eines erheblichen Fachwissens, kollektiver Anstrengung und globaler Vernetzung. Nichts dazu trifft auf eine Kultur zu, die einfach nur das Lokale hochhält.

Lokale Ökonomie

In allen seinen Formen steht der Lokalismus für den Versuch, die Probleme und die enorme Komplexität loszuwerden, die Merkmal einer globalisierten Ökonomie, Politik oder Umwelt sind. Unsere Probleme sind zunehmend systemisch und global, und sie bedürfen gleichermaßen systemischer Antworten. Natürlich zeigt sich politisches Handeln in gewisser Weise immer auf lokaler Ebene, und entsprechend gibt es nützliche lokalistische Ansätze, etwa die Debatte um Resilienz. Doch als Ideologie geht Lokalismus viel weiter und verwirft systemische Überlegungen insgesamt, obgleich sie in der Lage wären, das vereinzelte lokale Handeln zu koordinieren und zusammenzuführen, um drohende Gefahren für den Planeten abzuwenden oder den oppressiven globalen Machtverhältnissen entgegenzutreten und diese möglicherweise zu verändern.

Nirgendwo ist die Unfähigkeit lokalistischer Antworten auf komplexe globale Probleme offensichtlicher als in den Kampagnen für eine lokale Wirtschaft, für lokale Banken und Unternehmen. Nach der Finanzkrise von 2008 gab es eine Reihe von im weiteren Sinne linken Vorschlägen zur Reform des Wirtschafts- und Finanzsys­tems. Neben zahlreichen sinnvollen Ansätzen fällt der Plan ins Auge, die Ökonomie durch Lokalisierung zu transformieren. Das Problem mit Großkonzernen, so der dahinterstehende Gedanke, ist nicht so sehr deren grundsätzlich ausbeuterischer Charakter, sondern die schiere Größenordnung der Unternehmen. Von kleineren Unternehmen und Banken sei zu erwarten, dass sie stärker die Bedürfnisse ihrer lokalen Gemeinwesen berücksichtigen würden.

Eine recht populäre Kampagne aus jüngerer Zeit,

»Move Your Money« genannt, propagierte die Idee, Kunden von Großbanken, die die Verantwortung für die Finanzkrise trugen, sollten ihre Einlagen kollektiv kleineren und zuverlässigeren Geldinstituten anvertrauen. Derartige Kampagnen erwecken den Anschein effektiven Handelns: Sie bieten ein sinnstiftendes Narrativ über die Probleme des Systems und zeigen im ethischen Konsum einen einfachen und gefahrlosen Lösungsweg. Solches folkpolitische Handeln hinterlässt das Gefühl, etwas getan zu haben. Die Großbanken stehen als die Schuldigen da, und die Idee, es zeitige erhebliche Folgen, wenn einzelne Kunden ihr Geld auf kleinere lokale Banken und Kreditinstitute transferieren, scheint plausibel. Das Modell ignoriert allerdings die Komplexität (und Abstraktheit) der modernen Finanzsphäre. Die Geldzirkulation funktioniert unmittelbar global und ist zudem mit allen anderen Märkten verbunden. Sobald kleinere Banken und Kreditinstitute über Aktiva verfügen, die auf der lokalen Ebene nicht mehr profitabel zu reinvestieren sind, werden sie zwangsläufig nach anderweitigen Investitionsmöglichkeiten suchen. So offenbart ein Blick auf die Geschäfte kleinerer Banken in den USA, dass sie sich auf denselben globalen Finanzmärkten betätigen wie alle anderen Institute auch: Sie investieren in Staatsanleihen, Hypotheken oder Aktien, und sie beteiligen sich ebenso wie Großbanken an risikoreichen Kreditgeschäften mit negativen gesellschaftlichen Auswirkungen.130

Nun wäre vielleicht zu erwarten, eine reformistische Kampagne wie »Move Your Money« hätte zumindest gewisse Veränderungen im Gefüge des Bankensystems in den USA zur Folge gehabt. Doch tatsächlich erhöhten sich in der Zeit nach der Finanzkrise bis September 2013 die Aktiva der sechs größten US-Banken um 37 Prozent. So sind diese Großbanken heute in jeder Hinsicht stärker als zu Beginn der Krise und halten landesweit 67 Prozent der Vermögenswerte der gesamten Branche.131 Zwar gab es weltweit gesetzgeberische Bemühungen, die Mechanismen, die letztlich in die Krise führten, strenger zu reg­lementieren – indem beispielsweise die Eigenkapitalquote erhöht oder regelmäßige Stress­tests eingeführt wurden, um künftig die Notwendigkeit von »Bankenrettungen« möglichst zu vermeiden –, aber risikoreiche Kredit- und Derivatgeschäfte von gigantischen Ausmaßen gibt es weiterhin.132

Die Bemühungen, der Bedeutung von Großbanken durch lokalistische Kampagnen etwas entgegenzusetzen, scheinen also zum Scheitern verurteilt; doch was ist mit Initiativen, die sich das in hohem Maße durch lokale Geldinstitute geprägte kontinentaleuropäische Bankwesen zum Vorbild nehmen? So sind beispielsweise rund 70 Prozent der Institute in Deutschland kleinere öffentlich-rechtliche und genossenschaftliche Institute.133 Die Genossenschaftsbanken und Sparkassen in Deutschland und der Schweiz würden, so deren Befürworter, Solidargemeinschaften bilden und Risiken gemeinsam tragen; ihre Vorteile seien ihr hoher Grad an Selbstständigkeit und ihre Kenntnis der lokalen Verhältnisse, wodurch sie im Großen und Ganzen die Finanzkrise unbeschadet überstehen konnten.134 Lokale Geldhäuser dieser Art seien eher geneigt, heißt es, kleinen Unternehmen Kredite zu gewähren, als dies die in Großbritannien und den USA stärker verbreiteten Großbanken tun. Indes wird, trotz bestimmter Vorteile eines Bankensystems mit einer starken lokalen Säule, deren Stabilität häufig übertrieben dargestellt. So gingen die Sparkassen in Spanien (die Cajas), ungeachtet ihres Status als regional organisierte, öffentlich-rechtliche Institute, in den 2000er Jahren erhebliche Risiken im Immobiliengeschäft und bei spekulativen Investitionen ein, was eine tiefgreifende Restrukturierung der Branche nach der Krise von 2008 notwendig machte. Auch wenn in den Führungsetagen der Cajas lokale Interessen repräsentiert waren, wurden Investitionsentscheidungen letztlich ohne eine wirkliche Aufsicht getroffen. Lokalisierung bedeutete in diesem Fall politische Einflussnahme der lokalen Administration auf vermeintlich neutrale Kontrollgremien, eingebettet in einen um sich greifenden Nepotismus, und manche Sparkasse wurde zu einer Investitionsplattform für spekulative Immobiliengeschäfte.135 Die regional organisierten Cajas gehörten in Spanien zu den Geldhäusern, die die Finanzkrise am schlimmsten traf, und die anschließende Restrukturierung bedeutete in vielen Fällen die Fusion lokaler Sparkassen und die Bildung größerer Institute. Selbst in Deutschland, das oft dafür gepriesen wird, weltweit über das Bankensystem mit dem am besten organisierten öffentlichen Sektor zu verfügen, gab es Probleme mit einigen regionalen Instituten. Verschiedene Landesbanken beispielsweise hatten sehr stark in strukturierte Kreditprodukte investiert, die sich in der Finanzkrise besonders schlecht entwickelten.136 Kleinere Banken oder Sparkassen sind also, soviel ist zu lernen, nicht grundsätzlich besser gerüstet, eine Finanzkrise zu überstehen – zumal es heutzutage unmöglich ist, die Ebenen des Lokalen und des Globalen überhaupt klar zu trennen. Politische Einflussnahme, die Notwendigkeit, profitable Investitionsmöglichkeiten zu finden, auch wenn diese außerhalb des regionalen Rahmens liegen, und nicht zuletzt die höheren Gewinne, die risikoreiche Investitionen versprechen, sind Faktoren, die kleinere Institute zu einem Teil der globalen Finanzsphäre machen. Auch genossenschaftliches Eigentum garantiert kein größeres Verantwortungsbewusstsein in Finanzdingen, wie etwa die Schieflage der britischen Co-operative Bank belegt, die 2009, nach einer schlecht geplanten Übernahme einer Wohnungsbaugesellschaft, beinahe zusammengebrochen wäre.137 Die strukturellen Probleme des Finanzsektors lassen sich nur angehen, wenn dieser seine Machtpositionen verliert, sei es durch eine umfassende Regulierung (wie es für kurze Zeit dem Keynesianismus der Nachkriegszeit gelang) oder durch eher revolutionäre Mittel. Die Fetischisierung des Kleinen und Lokalen scheint eher ein Weg, effektivere Maßnahmen auszublenden, mit deren Hilfe sich das System zum Besseren verändern ließe.

Widerstand ist nutzlos

Einen manifesten Ausdruck finden folkpolitische Vorstellungen in radikalen horizontalistischen Bewegungen ebenso wie in eher moderaten lokalistischen Initiativen; doch ganz ähnliche Haltungen lassen sich in vielen Strömungen der heutigen Linken entdecken. Quer durch all diese Spektren kommt es in einer Reihe von Punkten immer wieder zu Übereinstimmungen: über die Vorzüge des Kleinen und Überschaubaren (»Small is beautiful«), die ethische Überlegenheit des Lokalen, die Vorteile des Einfachen, das Bedrückende von Institutionen oder das Ende des Fortschritts. Solche Vorstellungen sind weitaus populärer als ein Nachdenken über ein gegenhegemoniales Projekt, über eine Politik also, die sich in einem wirklich großen Maßstab gegen die Kapitalmacht behaupten könnte. Im Kern ist die aktuelle Folk-Politik Ausdruck eines »tiefsitzenden Pessimismus: Er geht davon aus, dass kollektive soziale Veränderungen im großen Maßstab nicht zu erreichen sind.«138 Der Defätismus läuft in der Linken Amok – und angesichts der fortwährenden Fehlschläge der vergangenen drei Jahrzehnte hat er dazu vielleicht allen Grund.

In den Parteien der reformistischen Linken wird im

bes­ten Fall noch nostalgisch einer längst versunkenen Vergangenheit nachgetrauert. Als radikal gilt hier schon, wer von einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat träumt oder die Erinnerung an das »goldene Zeitalter« des Kapitalismus pflegt.139 Die einstigen Voraussetzungen des Sozialstaats existieren indes längst nicht mehr. Jenes goldene Zeitalter war abhängig von einem bestimmten Paradigma der Produktion, von industriellen Normalarbeitsverhältnissen, die (weißen, männlichen) Arbeitern Sicherheit und einen bescheidenen Lebensstandard boten; im Gegenzug bescherten jene Verhältnisse ihnen ein Leben lang unglaubliche Langeweile und gesellschaftliche Unterordnung. Das Modell gründete auf einer internationalen Hierarchie imperialer Mächte, ihrer Kolonien und unterentwickelten Peripherien sowie auf der Hierarchie innerhalb des Nationalstaats, zu der Rassismus und Sexismus ebenso gehören wie die Unterdrückung von Frauen innerhalb der Familien. Der so beschaffene Sozialstaat schloss ferner ein bestimmtes Klassenkräfteverhältnis ein – und die Bereitschaft, dieses anzuerkennen. Und selbst das war nur möglich nach der beispiellosen Verwüstung, die die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatten, sowie unter dem Eindruck der Bedrohung durch Kommunismus und Faschismus. Heute lässt sich ein Regime wie das des goldenen Zeitalters weder wiederherstellen noch wäre das wünschenswert, ungeachtet aller Nostalgie, die viele vielleicht empfinden. Und selbst wenn es einen Weg zurück zu jenem Sozialstaat gäbe, sollten wir ihn nicht einschlagen. Es gibt bessere Ziele als das sozialdemokratische Festhalten an Arbeitsplätzen und Wachstum, denn letztlich bedeutet das immer, sich und andere über den Charakter des Kapitalismus hinwegzutäuschen. Statt einer nostalgisch verklärten Vergangenheit als Modell der Zukunft sollte unser Ziel lauten, eine eigene Zukunft zu schaffen. Die Zwänge der Gegenwart hinter sich zu lassen, wird nicht durch die Rückwendung zu einem versunkenen, in der Erinnerung verklärten »menschlicheren« Kapitalismus gelingen.

Ebenso wenig wie das nostalgische Festhalten an einer verlorenen Vergangenheit ist die heute weit verbreitete Verklärung von »Widerstand« zufriedenstellend. Denn Widerstand richtet sich dem Wortsinn nach immer gegen das Agieren einer Macht und ist daher nicht selbst aktiv, sondern defensiv und reaktiv. Widerstand schafft keine neue Welt, er opponiert im Namen einer alten. Das Hervorheben von Widerstand heute täuscht darüber hinweg, dass eine defensive Haltung den Übergriffen eines expansiven Kapitalismus nichts entgegensetzt. So positionieren sich etwa die Gewerkschaften in ihrem Widerstand gegen den Neoliberalismus mit Slogans wie »Rettet unser Gesundheitssystem« oder »Stoppt die Austeritätspolitik«, doch offenbaren derartige Forderungen lediglich eine im Kern konservative Haltung. Bestenfalls ließe sich so darauf hoffen, dem Raubtierkapitalismus vorübergehend ein wenig Einhalt zu gebieten. In der Auseinandersetzung ginge es nur darum, bereits Erreichtes zu bewahren, wie begrenzt und krisengeschüttelt es auch immer sein mag. Solche Tendenzen lassen sich nicht zuletzt auch in linken Bewegungen in Lateinamerika beobachten, wo erfolgreiche Kampagnen sich häufig gegen Projekte transnationaler Unternehmen – insbesondere im Bergbaubereich – richten.140 Doch in vielen Zirkeln wird Widerstand als solcher verherrlicht, und eine radikale Rhetorik überdeckt den Konservatismus der eingenommenen Positionen. Widerstand, so heißt es, sei die einzige Möglichkeit, konstruktive Projekte hingegen lediglich ein Traum.141 Aber selbst wenn Widerstand unter bestimmten Umständen wichtig sein mag, für die Aufgabe, eine neue Welt zu schaffen, ist er nutzlos.

Andere Bewegungen propagieren den Ausstieg, einen individuell zu vollziehenden Exodus aus existierenden gesellschaftlichen Institutionen. Affinitäten zu einem solchen Ansatz finden sich insbesondere in horizontalistischen Strömungen, denn schließlich gehört die Ablehnung bestehender Institutionen ebenso zu deren Grundlagen wie der Aufbau autonomer Formen von Gemeinschaft. Letztlich jedoch sind Vorstellungen eines Ausstiegs eine Tendenz, die sich durch die jüngste Geschichte aktivistischer Politik in all ihren Facetten zieht.142 Manche Strömungen richten sich explizit gegen komplexe Gesellschaften, das heißt ihr Ziel ist eine Form von Kommunitarismus oder Anarcho-Primitivismus.143 Andere schlagen vor, zu verschwinden und unsichtbar zu werden, um der staatlichen Entdeckung und Repression zu entgehen.144 Im Extremfall wird eine Art linker Survivalismus propagiert: Wir erleben den Zusammenbruch einer Zivilisation, deshalb sollten wir die Sichtbarkeit fliehen, uns in kleinen Kommunen finden und lernen, unsere Ernährung, Pflege und Selbstverteidigung zu organisieren.145 Innerhalb einer survivalistischen Logik weisen solche Positionen, auch wenn sie vielleicht unattraktiv sind, zumindest eine gewisse Konsistenz auf. Sie haben zudem den Vorzug, nicht im Vagen zu bleiben. Wie auch immer, das politische Werben für einen Ausstieg oder Exodus verwechselt allzu leicht die gesellschaftliche Logik einer Absonderung mit der einer Gegnerschaft zum Kapitalismus – oder, um den Anspruch deutlicher zu formulieren, einer gesellschaftlichen Logik, die für die Kapitallogik eine Bedrohung darstellt.146 Der Kapitalismus war und ist mit allen möglichen Verhaltensweisen und autonomen Räumen unterschiedlichster Art vereinbar und wird dies auch in Zukunft sein.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist etwa die Erfahrung der spanischen Gemeinde Marinaleda. Im Verlauf dreier Jahrzehnte baute die kleine Stadt mit ihren rund 2700 Einwohnern an einer »kommunistische Utopie«, enteignete den Großgrundbesitz, errichtete gemeindeeigene Wohnhäuser und gründete Kooperativen, hielt die Lebenshaltungskosten niedrig und schuf Arbeitsplätze für alle. Die Grenzen einer solchen Politik sind indes auch schnell aufgezeigt: Die Baumaterialen stellt die Provinz zur Verfügung, die Landwirtschaft subventioniert die Europäische Union, Arbeitsplätze bleiben bestehen, weil Rationalisierungsmaßnahmen abgelehnt werden, das Gemeinde-Einkommen generiert der Verkauf von Agrarprodukten auf Märkten außerhalb der Gemeinde, die Geschäfte sind somit abhängig von der kapitalistischen Konkurrenz wie auch den Auswirkungen der globalen Finanzkrise.147 Marinaleda ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr der Ausstieg, die Flucht oder der Exodus aus dem Kapitalismus einem folkpolitischen Horizont verhaftet bleiben; mit einer solchen Perspektive lässt sich bestenfalls darauf hoffen, kleine Enklaven der Autonomie gegen die Attacken des Kapitalismus zu verteidigen. Dagegen behaupten wir, dass sich durchaus mehr erhoffen (und erreichen) lässt, und zudem, angesichts des Fehlens einer breiten und systematischen Gegenposition, auch jene kleinen Inseln des Widerstands vermutlich demnächst verschwunden sein werden.

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