Die 8te Pforte

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Die 8te Pforte
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Akron & Sterntaler

Die 8te Pforte

Jenseits der Schwelle

Der Trauma-Trip des alten Magus



Alle Zeichnungen sowie der „Undine“-Teil in Kapitel 13 („Der vergessene Traum“) entstammen der Feder von Patricia Cooney, die seit vielen Jahren „Undinens unterirdische Sternenkammern“ im Parterregewölbe meines Geisterhäuschens bewohnt.

Weihnachten 2016, am Ruhberg


Copyright © 2017 by Akron Edition GmbH.

Akron Edition GmbH, Ruhberg 20, CH – 9000 St. Gallen

www.akron.de

Layout, Satz- und Umschlaggestaltung: Medienagentur Holger Kliemannel gestaltung@roterdrache.org

Titelbildmotiv: Patricia Cooney

Illustrationen: Patricia Cooney

Gesamtherstellung: Book Press, PL-Olsztyn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-906925-01-1

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

Buch I: Das Haus der Geister „Die Suche nach dem Tod“

Kapitel 1Niemand

Kapitel 2Der Dialog mit dem eigenen Spiegelbild

Lore-ley

Kapitel 3Niemands Traum

Niemands unerlöste Liebessehnsucht

Kapitel 4Niemand und Seele

Niemands Seele

Kapitel 5Die sechs Geister

Der Tod – die Bühne der Geister

Der erste Geist

Der zweite Geist

Der dritte Geist

Der vierte Geist

… oder die Vision der Grossen Mutter (4)

Der Geist der Finanzen (3) … war nie weg!

Der fünfte Geist

Der Schatten des Schattens (4)

Alle Geister gemeinsam (1-5)

Der sechste Geist

Der Reigen der Geister (1-6)

Kapitel 6Der Wächter der Seele am Ende der Träume

Buch II: Das Haus der Erinnerungen „Die Suche nach dem Tod führt zum Finden von sich selbst“

Kapitel 7Die Stimme im Ohr

Die Hölle im Kopf

Kapitel 8Der multiple Andere

Der Eingangsbereich

Das Phänomen im Treppenhaus

Der Spiegelraum

… und wieder zurück: Der gespiegelte Eingang

Das Traumschiff und der Küchengeist

Noch eine Stufe tiefer: Der Tod

Einen Schritt zurück: Das Erwachen aus einem Wahn

Kapitel 9Das gespaltene Ich

Mein multidimensionaler Zauberplatz

Meine beiden magischen Ichs

Die Unerlösten und ihre Sehnsucht

Kapitel 10Das tückische Du

Die Augen der Sehnsucht

Kapitel 11Der Urahne

Das Gespenst mit den Bernsteinaugen

Niemand kehrt zurück

Kapitel 12Die Hochzeit aller inneren Personen

Der verlorene Teil kehrt wieder heim

Nach Hause: zu mir!

Kapitel 13Undine – der vergessene (T)Raum

Epilog Niemands Vermächtnis

Die Büchse der Pandora

Ein letztes Manöver in der Zeitlosigkeit

Die Rückkehr zu den Sternen

Weitere Bücher


Der allgegenwärtigen, alles umfassenden und unbekannten geistigen Kraft in uns allen gewidmet!

Nach den „7 Pforten des Geistes“, 2012, und meinem Autounfall im gleichen Jahr wollte ich meine literarische Tätigkeit beenden. Doch ein Traum in der Nacht auf den 11. 12. 2015 hat mich eines anderen belehrt. Es war eine klare Aufforderung, den Schock des Ereignisses und die Erkenntnisse daraus in einer Weiterführung jenes Themas zu verarbeiten.

Prolog

Träumer:Letzte Frage: Was ist mit dem Weiterleben nach dem Tod?

Wächter:Der Tod ist völlig bedeutungslos. Er betrifft nur das Ego und das Ego ist nur eine kleine Feder an der Schwinge des Adlers, und wenn sie wegfällt, wächst darunter schon eine neue nach, und der ganze Vorgang behindert den Flug des Adlers kaum.

Träumer:Und was bleibt von den Träumen?

Wächter:Sie fließen ins Auge des Ewigen zurück, wenn das letzte Individuum am Ende der Reise erwacht und die Kette unterbricht. Dann nämlich, wenn die gereifte Seele die schützende Hülle ihres Egos verlässt und beginnt, wieder mit den kollektiven Schöpferkräften zu zerfließen, welche die Ursprungsquelle darstellen und für die der Mensch nur ein Blick im Auge des Ewigen ist.

Träumer:So hat der Mensch keine wirkliche Freiheit?

Wächter:Er hat viel mehr: nämlich eine schöpferische Illusion seiner Welt. Er weiß nicht, dass das, was er zu tun beabsichtigt, immer gerade dem entspricht, was er sowieso tun wird.

 

Träumer:Dann wäre das Wollen nur der Trick, sein inneres Streben mit den vorhandenen Energien in Übereinstimmung zu bringen?

Wächter: Nun – Zukunft ist im Grunde immer auch ein Teil unserer inneren Erwartungen.

Träumer:Und wohin führt die Reise?

Wächter:In alle Richtungen gleichzeitig. Die Summe aller gespeicherten Erfahrungen und Erinnerungen ist die treibende Schicksalskraft, die alles vorwärts peitscht, oder andersherum, die „zukünftige“ Erinnerung ist das, was sich in der Gegenwart auswirkt und die Vergangenheit gestaltet, damit das Hier und Jetzt von den Menschen zu jedem Zeitpunkt richtig „beabsichtigt“ werden kann.

Mit diesen letzten Sätzen aus einem mehrseitigen Dialog meiner inneren Personen hatte ich am 23. März 2012 mein letztes Buch, „Die 7 Pforten des Geistes“, beendet. Zwei Stunden später wurde ich vor meinem Grundstück auf der Einbahnstrasse von einem rückwärtsfahrenden Fahrzeug überfahren, und das nächste, was ich wahrnahm, war das Gesicht von Lussia, meiner Gefährtin, die wie ein leuchtender Vollmond über mir schwebte. Sie sagte mir betrübt, dass ich an meinem Gartenzaun von einem Fahrzeug gerammt, mit dem Gesicht gegen die Glasscheibe geklatscht und danach acht Meter rückwärts durch die Luft katapultiert worden wäre. Man hätte mich mit einem Schädel-Hirn-Trauma sofort in die Klinik gebracht, in der ich nach einem mehrtägigen Koma gerade in diesem Augenblick wieder aufgewacht wäre und sie deshalb schon froh sein müsse, dass ich überhaupt noch lebe.

Doch lassen Sie mich die Geschichte der Reihe nach erzählen: An diesem Tag haben sich ein paar gute Freunde von mir anerboten, mir beim Fällen der Bäume zu helfen, denn mittlerweile hat es sich bei uns längst herumgesprochen, dass ich für Garten- und andere materielle Arbeiten zwei linke Hände habe. An diesem Tag hatte ich mich den Korrekturen meiner letzten Publikation gewidmet (siehe Eingangszitat), als ich plötzlich vor dem Haus einen lauten Schrei und einen dumpfen Knall vernahm. Draussen musste ich mit Schrecken feststellen, dass einer der vier Bäume, die zur Fällung standen, zwar ungefähr in der berechneten Linie fiel, doch leider zehn Zentimeter zu weit links auf den metallenen Gartenzaun prallte und von diesem wieder zurückgefedert wurde und in dieser Bewegung meinen mannshohen, hundertjährigen griechischen Amor zerschmetterte, der auf einem Sockel in der Mitte eines kleines Teiches thronte.

Diese Marmorfigur stand mir emotional besonders nahe, war sie vor 150 Jahren nicht nur prominent am Treppenaufgang der marmornen Eingangshalle des St. Galler Museums platziert, sondern sie hatte in meinem Gedächtnis auch eine ganz persönliche Geschichte hinterlassen. Sie war das Geschenk eines guten Freundes an seine Geliebte, nachdem dieser die Figur 1974 während des Theater-Umbaus auf der ungesicherten Baustelle geklaut hatte (und später ertappt wurde). Ich konnte den leicht beschädigten Amor aber ein paar Jahre später für 1000 Franken von der Stadt zurückkaufen, die ja dafür auch keine Verwendung mehr hatte und ihn einfach in ihren Kellern einlagerte. An diesem schicksalsträchtigen Tag war mir daher in der Folge der ganze Tag verdorben. Immer wieder sann ich darüber nach, was mir dieses Malheur wohl zu sagen hatte, denn ich erahnte, ohne die Begleiterscheinungen aber näher ergründen zu können, einen unbewussten, selbst herbeigeführten Zusammenhang. Jedoch erst acht Monate später, während eines Seminars in Wien, als ich den Menschen von diesem Unfall erzählte, fiel‘s mir mit einem Male wie Schuppen von den Augen und auf einmal war die Sache klar.

Als ich im November 1982 in mein Haus einzog, waren die mächtigen, dreissig Meter hohen Bäume noch zierliche vier-Meter-Sträucher, die nahe am Gebäude direkt an der Grenze zum Nachbarn standen. In den nächsten Monaten, in denen ich mich um die totale Restauration dieses kleinen Hexenhäuschens, eine Art „Neuschwanstein im Gartenhäuschenformat“, kümmerte, wurde ich ein paarmal von Nachbarn und Bekannten auf die Bäumchen angesprochen. Sie wollten wissen, ob ich diese nicht lieber fällen sollte, solange sie noch klein waren. Später würden sie bestimmt riesig werden und da sie vom Haus besehen auf der Süd/​West-Seite wuchsen, nähmen sie auch viel Sonne und Licht weg. Doch für mich war das seinerzeit keine Option. Ich kann mich noch ganz gut erinnern, als ich damals, von Carlos Castaneda und den zaubernden Tolteken inspiriert, gross in die Welt hinausposaunte: „Was wäre das für ein erbärmliches Ego, das einfach zerstört, was ihm nicht passt und alles seinen persönlichen Befindlichkeiten unterordnet. Diese Bäume standen schon, bevor ich hier einzog, und deshalb hätten sie die älteren Rechte. Howgh – ich habe gesprochen!“

Langsam bekam ich ein Gefühl für die Abläufe, die sich um mich herum abspielten und nun wurde mir die ganze Sachlage allmählich klar: Es kann durchaus problematisch sein, wenn man tiefe Versprechungen, die man in die Welt setzt, später bricht, und dabei geht es auch nicht um einen Gott oder eine höhere Kraft, die einen bestraft, sondern um das eigene Gewissen, das einem diese plötzliche Haltungsänderung nicht verzeiht. Da kann man im Kopf lange darüber debattieren, die Bäume seien in der Zwischenzeit wirklich hoch bzw. der Schattenwurf auf das Haus mittlerweile inakzeptabel geworden, Tatsache bleibt: Ich habe das Allzeitgedächtnis meines tiefsten inneren Wesens irritiert, als ich die Bäume fällen liess, die ich zuvor dreissig Jahre lang „verteidigte“, und deshalb war alles, was daraus erfolgte, auch nur folgerichtig. Um im Bild zu bleiben: Es geht nicht darum, dass man seine Bäume nicht fällen darf noch geht es darum, dass man keine klaren Zielsetzungen formulieren soll, es geht hier einfach darum, aufzuzeigen, was im Inneren passieren kann, wenn man klare emotionale Massstäbe plötzlich umdreht und das Gegenteil vom ehemals Beschworenen anstrebt.

Zurück zur Geschichte: Die gute Stimmung war plötzlich weg, ich fühlte mich richtig niedergeschlagen und bedrückt und grübelte stundenlang vor mich hin, bis ich schliesslich zurück ins Büro schlich, um an den letzten Korrekturen weiterzuarbeiten und irgendwann dann zum Schluss des Buchs gelangte, dem „Echo aus einer anderen Welt“ (siehe Anfangszitat). Irgendwie war ich schon seit Stunden nicht mehr richtig bei der Sache und so war ich ziemlich erleichtert, dass ich kaum noch weitere Satzfehler oder andere Ungenauigkeiten fand und die Sache abschliessen konnte. Auf eine seltsame Weise zog es mich immer wieder nach draussen. Schnell eilte ich zurück in den Garten. Die gefällten Bäume waren inzwischen auf einem grossen Wagen zum Abtransport verstaut, die Werkzeuge sortiert und die vielen Holzstücke und Scherben aufgeräumt, und so eilte ich zu Lussia und half ihr beim Wischen der Strasse (der Garten mündet an eine abschüssige Einbahnstrasse in einem Wohnquartier).

Während ich also Staub und Dreck zusammenkehrte, kam gegen Abend Ceylan, mein türkischer Nachbar, von seiner täglichen Beschäftigung im nahegelegenen Schrebergarten zurück. Er sah die Holzspäne und die Unordnung auf der Strasse und fragte mich, was denn passiert sei, es wäre doch sehr erfreulich, dass diese hohen dunklen Bäume endlich entfernt worden sind. Ich wollte ihm die ganze Geschichte schildern; dazu bewegte ich mich mit ihm zusammen über die Strasse zum Garten hin, an den Zaun, wo ich ihm das Malheur meiner Marmorstatue genau erklärte, die in vielen Stücken zerschmettert im Teich und auf dem Gartenweg lag.

In diesem Moment begann sich die Szenerie farblich plötzlich zu verändern und als erstes fiel mir auf, dass der zerbrochene Amor im Wasser plötzlich einen perlmuttartigen Glanz ausstrahlte, ja, er schimmerte in einem weichen, an den Rändern verschwimmenden halluzinogenen Licht. Allmählich wurde der ganze Torso von innen her beleuchtet und fing an, in prächtigen, unwirklichen Farben zu illuminieren, und dann wurde ich von den verkopften Gedanken befallen, ob mir irgendjemand möglicherweise Haschisch, Ayuasca oder etwas Ähnliches in den Tee gemischt haben könnte, denn es war ein richtiges halluzinogenes Schauspiel, das sich vor mir ausbreitete …

Im selben Atemzug begann ich mich vom Boden zu erheben und während ich etwa in Manneshöhe in der Luft schwebte – ich war damit beschäftigt, mein Gewicht auszubalancieren, um nicht plötzlich auf die Erde zu fallen –, hörte ich unter mir das unruhige Stimmengewirr vieler Menschen, die um mich herum standen. In der gleichen Sekunde durchzuckte mich die Frage, was die Leute von mir wollten, denn die Realität war bei mir völlig ausgeblendet und stattdessen hatte ich das innere Empfinden, als ob sie nach einer Rede verlangten oder dass ich ihnen etwas Wichtiges sagen sollte.1

Ich dachte noch, das verschiebe ich besser auf morgen, denn ich war schon viel zu lange im Garten und hatte im Büro noch viel Arbeit vor mir, und das Nächste, was ich sah, war – wie schon eingangs geschildert – das Gesicht von Lussia, das über mir schwebte. Ihre Stimme klang wie durch Watte, als sie mir mitteilte, dass ich neben einer zerschmetterten Kniescheibe und ein paar Gesichtsbrüchen ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hätte und soeben aus einem mehrtägigen Koma aufgewacht wäre.

Ich wollte ihr das erst gar nicht glauben, denn das betreffende Auto samt Unglücksfahrer wurde von meinem Bewusstsein (bis heute) verdrängt. In meiner von Morphium getränkten Trance war ich wie euphorisiert und erzählte den Besuchern und allen Menschen an meinem Bett von einem grossartigen Erlebnis, in dem ich mich am Steuer meines Motorboots rheinaufwärts bewegte und eben den Loreleyfelsen passierte, eine schöne, aber wohl dem Trauma geschuldete Reaktion, da die mich betreuende Ärztin auf den Namen Lore hörte.

1

Drei Jahre später konnte ich diese Vision aufschlüsseln. Ich hatte am 22. Januar 2015 im Dornier-Museum in Friedrichshafen einen Vortrag zum Thema „Was ist mit dem Empfinden jenseits des Denkens? Wo sind die Zugänge zu anderen Ebenen?“, und zwar im Hangar direkt unter dem Flügel einer D-1103, einem historischen Flugzeug, das in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts einige Flüge über den Nordpol machte. Das Podium war einen Meter erhöht, und während ich mich locker ins Thema hineinimprovisierte und dabei auch über meinen Unfall vom März 2012 resümierte, hatte ich plötzlich ein Déjà-vu, eine Art „zukünftige Erinnerung“, und zwar aus der Sicht meines vergangenen Unfalls, als ich seinerzeit plötzlich in die Höhe schwebte und viele Stimmen unter mir wahrnahm, was aus der Sicht von damals eben der „zukünftigen“ Erinnerung unter dem Flügel dieser D-1103 entsprach.

Buch I Das Haus der Geister

„Die Suche nach dem Tod“


Kapitel 1

Niemand

„Hörst du mich?“, vernahm ich deutlich eine Stimme. „Wer bist du?“, gab ich zwischen den Welten zurück.

„Gleich wirst du dich wieder erinnern“, hörte ich den inneren Ruf, „lass die Augen nur zu!

Dann kannst du den Übergang besser erfahren, der in deinen Träumen auf dich wartet.“

„Was für einen Übergang?“

„Unsere Begegnung findet auf einer Frequenzebene statt, die bereits an die Pforten des Bewusstseins anklopft, und ich bin die Energie, die ständig zwischen Bewusstem und Unbewusstem hin- und herpendelt. Hier bin ich reine Energie und verfüge im Gegensatz zur anderen Seite über keine äußere Gestalt, doch zur Erleichterung habe ich dir ein Bild von mir rückwirkend in dein Gedächtnis projiziert.“

Der Hintergrund meiner inneren Bilder brachte das Bild wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag, nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut und auf irgendeine Weise schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment lang hatte ich das seltsame Gefühl, als blinzelten sie mich an.

 

Nichts geschah. Das Dröhnen der Stille verstärkte sich. Kein Mensch weit und breit, als ich wieder zu mir kam. Ich war allein, über mir nur die Decke und vor dem Fenster das nächtliche Grau. Um mich herum war es ganz still, weder Geschrei, Chaos oder Hektik, es roch nach Medikamenten und nur das leise Blubbern irgendwelcher Maschinen erfüllte den Raum.

Ein paar Erinnerungsfetzen zuckten mir durch den Kopf und ich hatte das Gefühl, als ob ich vergeblich gegen ein Fahrzeug ankämpfte, das wie ein wilder Stier auf mich zugeschossen kam, und in der nächsten Einstellung lag ich bewusstlos auf der Strasse. Ich machte mir Gedanken, wo ich war und versuchte, alles um mich herum genau aufzunehmen. Dazu liess ich meinen Blick über einen Gesichtskreis von 180 Grad schwenken. Irgendwie nahm ich ein paar grosse Apparaturen und Instrumente um mich herum wahr, Beatmungsmaschinen, Röntgen- und Infusionsgeräte, und langsam dämmerte mir, dass ich mich im Herz eines „Emergency Rooms“, an der Schnittstelle zwischen Rettungswagen und Krankenhaus, befinden musste. Ich war nicht ganz wach, aber ich schlief auch nicht; es musste ein seltsamer Wachtraum sein, der mich mit seinen Schlangenarmen umzüngelte, ein halbwacher Zustand mit dem traumähnlichen Bild eines aus Fragmenten bestehenden Ereignisses.

Noch während ich erschöpft wieder die Lider schloss und mich mit einem Seufzer noch tiefer ins Bett sinken liess, wusste ich, dass ich nicht träumte. Niemals zuvor in meinem Leben war ich bei klarerem Bewusstsein gewesen. Es gab nicht den geringsten Zweifel. An der Wand auf meiner linken Seite leuchtete plötzlich ein grosser Lichtfleck auf und irgendwie starrte ich in einen kegelförmigen Spalt: „Komm da raus!“, rief ich unvermittelt. Aus dem rechten Augenwinkel nahm ich kurz eine Bewegung wahr. „Ich weiss genau, dass du da drinnen steckst!“

Die Leuchtkraft schien die ganze Wand zu überfluten. Es war, als sähe ich durch die geschlossenen Augenlider in ein beissendes Geflimmer. Eine weiße Lichtaura zog mich an und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich ein Feuerwerk in meinem Hirn. Erst zirpende, kaum hörbare Stimmen, die immer höher kletterten, kreisende Geräusche, die sich immer schneller drehten und plötzlich hatte ich das innere Gespür, mit den Stimmen zu schweben und in die Ewigkeit aufzusteigen. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Vibrationen geriet. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal in zwei Teile gespalten und gleichzeitig nahm ich den Leuchtfleck als Rahmen einer mir unsichtbaren Welt wahr, in der ich meinem Seelenführer begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde.

„Zeig dich mir endlich!“ Meine Stimme zitterte vor Aufregung. „Oder bist du zu feige, dich mir zu stellen?“ Dann hörte ich ein leises Scharren, dem ein schürfendes Geräusch folgte. Das Leuchten schien sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Es hatte offenbar begonnen, in meine Richtung zu fliessen, denn der Lichtkegel wurde stärker und deutlicher sichtbar. Irgendwann bewegte sich der Spalt, und mir war, als ob jemand den Raum betrat. Um mich herum flutete ein strahlender Glanz.

Ich fühlte mich geistig wie berauscht, als dieses flimmernde Gefunkel wellenförmig auf mich zufloss. Ich versuchte aus den leuchtenden Flächen so etwas wie eine Form oder ein Gesicht herauszulesen; dazu liess ich meinen Blick über das glühende Objekt vor meinen Augen gleiten und sofort glaubte ich irgendwie vertraute Züge wahrzunehmen, die unter dem starken Lichtglanz zum Vorschein kamen, oder anders gesagt, ich wartete, bis die darunterliegenden Gesichtszüge durch die verblassende Glut hindurchschimmerten. Auch wenn ich nichts Genaues wahrnehmen konnte, so bildete ich mir ein, als ob es eine Erscheinung unter einer mächtigen Kapuze war, die sich mir aber nicht zu erkennen gab. „Erkennst du mich? Weisst du, wer ich bin?“, hörte ich eine Stimme, obgleich ich mir ziemlich sicher war, dass ich in diesem Augenblick nur träumte.

„Wo sind wir hier?“, brach es statt einer Antwort aus mir heraus. Meine Persönlichkeitsstruktur löste sich auf und ich bemerkte, wie eine fremde Energie durch mich hindurchfloss.

„Gleich wirst du dich wieder erinnern, allmählich wirst du die Situation verstehen, in der du dich befindest …“ Ich spürte einen eisigen Atem im Gesicht: „Mein Name ist Niemand. Ich bin der Wächter an der Schwelle und erscheine jedem in der Gestalt, in der er sich an mich erinnern kann …“

„Niemand?“ Es war, als ob die mir bekannte Realität zusammenbrach, denn neben meinem Bett sah ich plötzlich zwei flimmernde Augen aufleuchten, als würde ich von einem Hochenergielaser berührt. Das eine Auge brannte sich mir mit seinem Blick punktuell in den Geist oder das Denken ein, während sich das andere kreisförmig um das Empfinden meiner Seele legte, und sie wechselten sich im Rhythmus so ab, dass, wenn das eine in mir explodierte, ich mich in den freien Raum hinausgeschleudert fühlte und, wenn sich das andere in mir wieder zusammenzog, ich mich in Niemands Herzen angekommen fühlte. Zudem erblickte ich um die beiden Augen herum mein eigenes Gesicht: mitten im Zimmer, in dem ich mich befand, und das Leuchten war mein Augenlicht. „Versteh ich dich recht?“, hauchte ich aus dem hintersten Winkel meiner Seele.

„Absolut!“, erwiderte er. „Genauso, wie sich jeder Lebensabschnitt aus verschiedenen Handlungsabläufen und inneren Persönlichkeitsteilen zusammensetzt, ist auch der Tod ein Ereignis mit ganz unterschiedlichen Ausgängen. Dort, wo sich die geistigen Ebenen mit dem menschlichen Selbst schneiden, entsteht ein Durchgang, durch den das Ende in dich eindringen kann.“

„In mich eindringen? Davor bewahre mich Gott!“, brüllte ich. Geister und Dämonen tanzten auf meiner inneren Bühne und schleuderten ganze Armaden von Lichtspeeren auf mich. Mein mehrdimensionales Wesen flackerte einen Moment, dann begann sich meine Bewusstseinsbühne langsam zu verschieben, als ob sie sich zu einem anderen Blickwinkel auseinanderfalten wollte. Unfähig, mich zu rühren, konnte ich spüren, wie seine Energie in meinem Körper floss.

Er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: „Hab keine Angst! Während des Todes löst sich das gewohnte Ich auf und zerstäubt wie eine Handvoll tanzender Funken. Für das menschliche Ego hört sich das viel schlimmer an, als es wirklich ist. Es ist nur das geistige Herausfegen alter Bilder aus deinem Kopf: Ist dieses alte Gerümpel erst einmal aus deiner Seele verbannt, fühlt es sich im gleichen Augenblick schon sehr viel freier an …“

„Mir wird angst und bang …“, wimmerte ich, der Erschöpfung nahe. Ich spürte, wie sich mein Wesen ganz allmählich mit neuen Erkenntnissen füllte und der veränderte Geist die alten Prägungen aus mir herausdrängte.

„Jaja, ich weiss“, erwiderte er, „Niemand macht dir Angst. Es ist der rigorose Abbau alter gewohnter Beklemmungen in deinem Hirn. Spürst du die Wirkung? Bald bist du frei!“

„Was willst du?“, strömte der Schreck aus meiner Seele. Erschütternde Gewissheit breitete sich in mir aus. Als das Leuchten intensiver wurde, verloren sich die Umrisse seines Gesichts … sie begannen sich langsam zu verdunkeln.

„Ich bin auf deinen Ruf gekommen, um dir zu zeigen, wohin du gehen willst!“, sagte er und ein amorphes Objekt leuchtete an seiner Stelle.

Niemand schien einen empfindlichen Nerv in mir getroffen zu haben, denn ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen traten. „Dann sag mir, wohin ich gehen will?“, schluchzte ich.

„Zu mir!“, antwortete er. „Ich sagte schon, dass Niemand für das Ende deines Egos steht, und das ist es, was dich antreibt: Du willst zu mir!“

„Zu dir?“ Ich war konsterniert. „Ist das mein Ziel?“

„Ja und nein. Jeder Mensch setzt seine persönliche Welt nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zusammen.“ Wieder bemerkte ich einen Lichtereffekt an der Stelle, wo ich sein Gesicht vermutete. Allmählich wurden die Gesichtszüge wieder deutlicher. „Aber du bist anders, hast ein anderes Ziel“, fuhr er fort. „Du möchtest die Gesamtheit deines Selbst erfahren, deshalb hast du mich gerufen.“

„Ist meine persönliche Welt denn eine andere?“, erlaubte ich mir sachkundig dagegenzuhalten.

„Gewiss“, bestätigte er, „du bist ein nörgelnder Skeptiker und magst die Menschen nicht, die sich traditionell verhalten.“ Die beiden Ebenen begannen sich ineinander zu verdrehen.

„Und wieso kann ich das alles hier mehrfach sehen?“, versuchte ich herauszufinden, denn gleichzeitig lag ich im Bett und konnte nicht nur Niemand, sondern auch noch ein paar weitere verschiedene Frequenzbereiche um mich herum deutlich wahrnehmen, die sich wie die Speichen eines Rades um eine imaginäre Nabe in meinem Kopf drehten.

„Du bist eben anders“, tat er mir kund. „Du weisst, dass die Beschreibung der Welt nur in deinem Kopf existiert und zwar durch die Brille, die dir dein Ego diktiert. Diese Sichtweise verändert sich im Leben je nach Verschiebung des Fokus, durch dessen Linse du die Welt betrachtest. Jede Veränderung der Perspektive verwandelt auch den Hintergrund, auf den sich die Erfahrung der ursprünglichen Sichtweise bezieht, und von verschiedenen Standpunkten aus kannst du verschiedene Assoziationsebenen aufrufen, die unbekannte Bereiche deiner Persönlichkeit freilegen. Es sind deine sechs inneren Geister oder Wesensteile, denen du hier begegnest!“

„Wo seid ihr – ihr Geister?“, brüllte ich. An der Wand auf meiner linken Seite öffnete sich plötzlich ein mannsgrosser, kegelförmiger Lichtspalt. Ich starrte in die Glut: „Kommt wieder aus mir raus!“, befahl ich meinen inneren Wesensteilen. „Niemand hat euch erlaubt, dass ihr in mir drinbleiben könnt.“ Es war, als sähe ich durch meine geschlossenen Augenlider in ein beissendes Geflimmer. Mein Sehen war viel mehr als nur ein äusseres Bild: es war ein inneres Erkennen. Und als ich meine Aufmerksamkeit bewusster auf die äussere Erscheinung neben meinem Bett richtete, deren Gestalt aus dem Schatten plötzlich ins Licht trat, schienen mir auf irgendeine Weise auch ihre Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, als hätten sie mich erkannt.

Ich stellte fest, dass diese Vision mehr als nur ein Erlebnis oder eine Erinnerung war: Sie bebilderte eine multiple Situation, in der das Geschehen mehrdimensional übereinandergeschichtet war. „Könnt ihr mehr über euch erzählen?“, erwiderte ich interessiert.


„Sei nicht so neugierig, wir werden dir bald alle begegnen“, hörte ich sie sagen. „Wir sind deine sechs auf unterschiedlichen Stufen operierenden inneren Personen, von denen du alles erfragen kannst, was dich interessiert und was du zu erfahren suchst.“

„Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn ich daran denke, dass ihr alle in mir existiert. Wie kann ich mich schützen?“ Ich hatte ein mulmiges Gefühl beim Gedanken, dass da irgendeine fremde Energie in mein Inneres eingedrungen war.

„Normalerweise braucht man sich vor uns nicht zu schützen“, raunten sie mir zu, „denn wir lösen in den Menschen nur die ‚zukünftigen Erinnerungen‘ aus, an die sie sich erst sehr viel später erinnern können, da sie im Moment ihres Empfindens noch gar nicht stattgefunden haben.“

„Dann seid ihr die unerlebten Erfahrungsmuster und Frequenzebenen unbekannter Wesen meiner Art?“, hörte ich mich selbst denken. „Wo kommt ihr her? Was ist eure Welt? Kann ich irgendetwas für euch tun?“, versuchte ich meine innere Unruhe zu überspielen.

„Was möchtest du denn tun?“ Sie schienen ziemlich belustigt über das, was ich sagte.

„Ich möchte mich von meinem persönlichen Ego lösen und euch in die Geisterwelt folgen …“, versuchte ich sie zu überzeugen und löste damit ein Beben in meinem Solarplexus aus. Die Vibrationen wurden schneller und fingen an, sich in mir zu drehen, bis mir schwindlig wurde.

„ … uns folgen“, wiederholten sie verdächtig sanft. Kaum hatten mich ihre Worte berührt, fühle ich die wundersame Wiederkehr einer tief aufsteigenden Erinnerung in mir. Das Licht im Raum wirbelte nach innen, wobei es herrliche Reflexe hervorrief und seltsame, züngelnde Schatten warf: „Du könntest dich höchstens darauf konzentrieren, unsere Botschaft zwischen deinen Ohren gut zu verarbeiten.“

Die Geister expandierten im Bewusstsein rasend schnell und füllten bald mein ganzes Gesichtsfeld aus. Im nächsten Augenblick zogen sie sich zu einem Lichtpunkt vor mir zusammen, von dem ich annahm, dass es Niemands leuchtendes Auge war. Im Grunde war es mein eigener Blick, der sich mir durch Niemands Auge gegenübersah, eine durchscheinende, schimmernde Glut, deren Tiefe die Unbegrenztheit des Kosmos atmete.